Russland 2020: Wie lange hält die „Putin-Stabilität“ noch?

Ein Beitrag von Dr. sc. techn. Wladislaw Inosemzew, Direktor des Forschungszentrums für die postindustrielle Gesellschaft.

Als 2008 die besten Intellektuellen des Landes mit Begeisterung Szenarien verfassten, wie die einstige Weltmacht wieder auf die Beine kommen sollte, war ihre Fantasie fast unbegrenzt. Der Aufschwung auf den Finanz- und Rohstoffmärkten, der Zustrom ausländischer Investitionen, das Gefühl, dass „Freiheit besser ist als Unfreiheit“ erlaubte, die optimistischsten Prognosen zu entwickeln. Ein Erdölpreis von 105 $/Barrel; die Kürzung der nicht effektiven Haushalts-Kosten um mindestens 2 % des BIP; die aktive Entwicklung eines nichtstaatlichen Rentensystems, das bereits zweimal – 2013 und 2014 — bestohlen wurde; der Verzicht auf die Interventionen der Zentralbank, die im vergangenen Jahr ein Maximum erreichten,sind nur einige Punkte der „Strategie – 2020“.

Seither hat sich der Weg zum Jahr 2020 halbiert und das Potential Russlands sowie seiner politischen Klasse ist zigfach klarer. Deshalb kann man heute die wichtigsten Orientierungspunkte der Entwicklung des Landes bis dahin auf realer Grundlage setzen und prognostizieren, was uns in der Mitte des nächsten „Putin-Jahrzehnts“ erwarten könnte.

In der Politik haben wir endgültig das Putinsche Ideal gesehen: eine Kombination aus sowjetischem Machtanspruch, einem administrativen Führungsstil und der Unersetzlichkeit des Führers. Das Machtsystem des Andropow-Typs wurde praktisch wieder hergestellt – und dafür verdient Wladimir Putin den Titel eines der talentiertesten politischen Experimentierer des 20. und des 21. Jahrhunderts. Das Problem besteht jedoch darin, dass ein solches System nicht reformierbar ist, wie die Geschichte der Sowjetunion gezeigt hat. Deshalb sieht die allgemeine Prognose so aus: In irgendeiner Etappe, allerdings nicht in naher Zukunft, wird das Regime nicht durch ein liberales Paradies und nicht durch einen nationalistischen Alp ersetzt, sondern banal im Alltag ins Chaos stürzen.

Diese Wahrscheinlichkeit ist umso höher, je stärker unsere Entfremdung von der Welt ist. Der Westen kann Russland das ukrainische Abenteuer verzeihen – aber er wird es nicht vergessen. Russland ist für ihn heute und auf dem ziemlich lange Sicht ein gefährlicher, unberechenbarer und aggressiver Staat, von dem man sich besser fern halten sollte. Auf den Dialog mit dem verhältnismäßig pluralistischen Westen folgt die Orientierung nach China, zu dessen Junior-Partner Russland gerade Anfang der 2020er Jahre wird. Eine antiautoritäre Wende, wie in westlich orientierten Ländern, z.B. Brasilien, Taiwan und sogar Südkorea, geschehen, ist in Russland wenig wahrscheinlich und seine Erfolgsaussichten wären äußerst gering.

So erwartet Russland hinsichtlich der politischen Organisation im Jahre 2020 vielleicht ein nicht sehr bedeutender, aber offensichtlicher Werteverlust im Vergleich selbst mit derAnfangszeit der dritten Präsidentenschaft Putins.

In den Jahren der Regentschaft Dmitrij Medwedjews wurde deutlich, dass die Modernisierung klar den wichtigsten Grundlagen der im Land vorherrschenden Rentenökonomie widerspricht. In den Jahren 2008–2009 sowie 2014 demonstrierten zwei Zyklen des Preissturzes bei Erdöl die ganze Trughaftigkeit der dubiosen wirtschaftlichen Stabilität. In Russland hat sich kein stabiles nationales Finanzsystem herausgebildet, das Land bleibt ein Rohstoffanhängsel der entwickelten Länder und hängt vollständig von der Situation auf den globalen Finanzmärkten ab. Ich bin überzeugt, dass in den nächsten Jahren diese Tatsache von der Führungselite anerkannt wird und Versuche, den negativen Trends zu begegnen, abgeschmettert werden. Russland wird sich auf der «Rohstoffschiene» bewusst nach Osten und Süden wenden – und das nicht als eine freie politische Wahl, sondern als einzige, von der wirtschaftlichen Logik diktierte Möglichkeit.

Alles in allem tauscht Russland das Paradigma der Entwicklung von einem „kasachischen“ Modell (aktive industrielle Entwicklung auf der Basis eines riesigen Wachstums im Rohstoffsektor, Zustrom ausländischen Kapitals, außenpolitische Vielseitigkeit) gegen das „weißrussische“ (Verstaatlichung, Versuch des Spielens mit den Gegensätzen zwischen dem Westen und dem Osten, Leben von Abwertung zu Abwertung mit einer Verlangsamung der Erhöhung des Lebensstandards und danach „Einbrechen“ in die Rezession).

Der Zyklus einer solchen sinnlosen Bewegung umfasst 4–6 Jahre, und ich denke, dass wir gerade um 2020 den nächsten niedrigsten Punkt der Sinuskurve erreichen werden. Wie auch im weißrussischen Fall, werden zu den Präsidentschaftswahlen alle Möglichkeiten und Reserven (einschließlich der chinesischen Unterstützung, die unvermeidlich notwendig wird) mobilisiert, wonach wieder ein Rückgang eintreten wird. Dabei werden die Rohstoffpreise, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahre wieder steigen werden, das System noch lange Zeit stützen und die Frage seiner Existenz nicht auf die Tagesordnung setzen.

Das grundlegende Merkmal des Putinschen Regimes – die Relativität des Rechtes auf großes Eigentum – bleibt in der überschaubaren Zukunft die Grundlage seiner Erhaltung. Das russische politische und Wirtschaftssystem ist nicht auf Zielen, sondern auf dem Zustand, nicht auf Ergebnissen, sondern auf dem Prozess gegründet. Es ist eine Gesellschaft von Günstlingen, vom Finanzminister der erfolgreichen Region, der mit Hunderten Millionen Dollar im Ausland verschwindet, bis zum Geschäftsmann, der schon darüber froh ist, dass man ihm zwar sein Unternehmen, aber nicht die Dividenden genommen hat, die er als ihr  Chef bekommen hat. Im Land gibt es keine Ideologie – sie ist lange durch die Gier nach Geld ersetzt. Dabei ist das System offen, und wer unzufrieden ist mit den Regeln, hat jederzeit das Recht (und die Möglichkeit) zum „Aussteigen“, was es um vieles stabiler macht als seinerzeits die UdSSR. Deshalb drohen dem Regime keine ernsten Schwierigkeiten, bis es sich selbst überlebt hat.

Die großen Herausforderungen für das System liegen jenseits von 2020. Einerseits wird der technologische Fortschritt in den nächsten zehn Jahren die Abhängigkeit der entwickelten Länder von Erdöl und Gas spürbar verringern. Russland wird mit seinen Lieferungen nach Osten gedrängt, wo man mit ihm viel härter, als heute in Europa sprechen wird. Die Finanzströme, deren Kontrolle das Ziel der Existenz der politischen Elite ist, werden allmählich aufgebraucht und der Kampf darum wird als riskant, aber nicht als gewinnbringend wahrgenommen werden.

In dieser Situation wird es die Elite vorziehen «sich in alle Winde zu verstreuen» und die erarbeiteten (zusammengeraubten) Früchte zu genießen; der Westen wäre töricht, sich einzumischen. Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bankrott der UdSSR: Damals lief die zentrale Macht einfach auseinander, die Fahne wurde eingeholt und «das Licht ausgeschaltet». Der Unterschied wird nur darin bestehen, wie weit vom Kreml seine ehemaligen Bewohner weggehen.

Andererseits wird Mitte der 2020er Jahre die Epoche Wladimir Putins auch rein altersmäßig zu Ende gehen. Ein „Manöver“ wie 2008 wird es nicht geben, da eine Rückkehr Putins im Jahre 2030 ausgeschlossen scheint. Deshalb wird wahrscheinlich diese oder jene Spielart einer lebenslangen Macht – eher die Variante Nursultan Nasarbajew als Deng Xiao Ping – zum Tragen kommen. Das politische „Feld“ wird dann so gesäubert sein, dass keiner der darauf Befindlichen mehr beanspruchen kann, als jede andere Figur des Spieles.

In dieser Situation wird der Abgang des anerkannten Führers sicher zahlreiche Konflikte auslösen, die sich in politischen Wirren widerspiegeln. Wenn man berücksichtigt, dass diese nach einem weiteren Jahrzehnt des Hinausdrängens der aktiven, jungen und gebildeten Bevölkerung aus dem Land eintreten, dann könnten sie sich lange hinziehen, und die Methoden des Widerstandes der darin involvierten Kräfte nicht allzu zivilisiert sein werden.

Vor fünf Jahren schien es, dass Russland fähig ist, die außenpolitischen Herausforderungen zu meistern, die Beziehungen mit dem Westen „umzubauen“, wenigstens eine begrenzte Modernisierung durchzuführen, die eine Generation der Führer durch eine andere zu ersetzen. Damals lief alles im Regime light: der Fünftagekrieg, die halbjährliche Senkung der Erdölpreise, die schnelle Wiederherstellung des Vertrauens. Heute ist klar, dass es keinen Bruch gab – und deshalb ist der weitere Weg des Systems ganz deutlich vorhersehbar: Dieser Weg führt zu seinem Kollaps und zu Chaos.

Aber obwohl diese Perspektive nicht allzu optimistisch ist, sie ist ganz und gar nicht hoffnungslos. Nach 2020 werden die Konturen «neuer 1990er» sichtbar, die,  so hoffe ich, Russland besser nutzt als die „echten“ 1990er. Wenigstens deshalb, weil das Land bereits das Beispiel einer Sackgasse vor Augen hat, den sie, geleitet von einem Menschen aus der autoritären Vergangenheit, gegangen ist.

 

Wladislaw Leonidowitsch Inosemzew (russisch Владислав Леонидович Иноземцев; * 10. Oktober 1968 in Gorki) ist ein russischer Ökonom, Soziologe und Politiker.

Wladislaw Inosemzew ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften, Gründer und Direktor des Zentrums für Studien zur postindustriellen Gesellschaft (www.inozemtsev.net), sowie Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift Swobodnaja mysl. Er ist Autor zahlreicher in Russland, Frankreich, Großbritannien, den USA und China erschienenen Bücher sowie wissenschaftlicher und publizistischer Aufsätze. Von 1992 bis 2003 übte er Führungspositionen bei AO Meschbankowski finansowy dom und den Geschäftsbanken Kredit-Moskwa und Moskowsko-Parischski Bank aus.

Inosemzew ist Mitglied der Partei Rechte Sache. [Aus Wikipedia]

 

COMMENTS