Russische Wissenschaftler gehen im Terrorfall Netzwerk an die Öffentlichkeit

Russische Wissenschaftler gehen im Terrorfall Netzwerk an die Öffentlichkeit

Etwa 600 russische Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten sprachen sich für die Unterstützung der Beteiligten im Fall der angeblichen Terrororganisation Netzwerk aus – in einer Erklärung, die auf scientific.ru zur Unterzeichnung offen steht, äußerten sie ihre Empörung über das Urteil.

Das Militärgericht des Wolga-Bezirks in Pensa hatte am 10. Februar sieben „Anarchisten“ für schuldig befunden, das Netzwerk als terroristische Gemeinschaft organisiert zu haben und daran teilzunehmen. Insgesamt wurden sie zu 86 Jahren Haft verurteilt – zu Einzelstrafen zwischen 6 und 18 Jahren.

„Wir, russische Wissenschaftler und wissenschaftliche Journalisten, sind empört über das Urteil im sogenannten Netzwerk-Fall“, beginnt die Erklärung. Die harten Anschuldigungen basieren auf höchst fragwürdigen „Beweisen“. Verurteilte haben wiederholt über Folterungen berichtet, um Geständnisse zu bekommen.

„Alles, was wir über den Fall Netzwerk wissen, besagt, dass er vollständig hergestellt ist. Ein ehrlich gesagt ungerechtfertigtes Urteil zeugt von der völligen Lähmung der unabhängigen Justiz in unserem Land“. Im Gegensatz zu den fiktiven Terrorakten, die die Verurteilten angeblich geplant haben sollen, ist „die richterliche Entscheidung im Fall des Netzwerks ein echter Terrorakt, der die Grundlagen der russischen Staatlichkeit brutal trifft“.

Die Wissenschaftler fordern eine sofortige Aufhebung des Urteils und die Umstände der Entwicklung dieses Falls zu untersuchen, die daran beteiligten Beamten zu bestrafen und die strikte Einhaltung der Gesetze durch alle Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden sicherzustellen. „Terror gegen die eigenen Bürger sei mit der normalen Entwicklung unseres Landes unvereinbar und verheerend für Wissenschaft, Kultur und Bildung.“

Diese doch teilweise harsche Kritik hielt Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nicht davon ab, auf den offenen Brief der Wissenschaftler zu reagieren. Der Kreml habe selbst auf den Brief russischer Wissenschaftler und wissenschaftlicher Journalisten hingewiesen. „Wir haben in den Medien auf ihn aufmerksam gemacht. Und jetzt bringen ihn alle Agenturen“, so der Sprecher gegenüber der Presse. Er erinnerte daran, dass der Präsident bereits während der Untersuchung dieses Falles Rechtmäßigkeitsprüfungen eingeleitet hatte.

Von der Zeitung Kommersant befragte Menschenrechtsaktivisten nannten das Urteil „ein Signal der Sicherheitskräfte an Angeklagte in anderen politischen Fällen“.

Dank der medialen Aufmerksamkeit haben seit vorgestern um 18:30 Uhr mehr als 2.600 Personen den Aufruf der Wissenschaftler unter dem Motto WIDERSTAND unterschrieben. Rund um den Wissenschaftstag am letzten Sonntag hatten Nachrichten aus dem Wissenschaftsbereich gehäuft. Der Präsident der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexander Sergejew, schlug mehrere Änderungen zur „Bedeutung der Wissenschaft“ vor. In die Präambel der Verfassung soll „die vorrangige Bedeutung von Wissenschaft und Technologie für die Entwicklung“ verankert werden.

Dann stellte zu Beginn der Woche der Rechnungshof eine Analyse des Wissenschaftsbetriebs vor.  Da die Bereiche Wissenschaft und Hochtechnologie zu den Treibern des sozialen und wirtschaftlichen Wachstums Russlands gehören sollen, sollten sich die Prüfer mit den Haupthindernissen befassen, die der Entwicklung der russischen Wissenschaft im Wege stehen. Das Fazit: „Die Höhe der Mittel für die russische Wissenschaft reicht nicht aus, um einen technologischen Durchbruch zu gewährleisten.“

Galina Isotowa, stellvertretende Vorsitzende des russischen Rechnungshofes, stellte die Studie vor, und ließ an den Zahlen und Zuständen rund um die russische Wissenschaft kein gutes Haar. „Die ihr zugedachte Rolle kann sie trotz staatlicher Investitionen immer noch nicht bewältigen […] die Kommerzialisierung der Ergebnisse geistiger Aktivitäten nimmt nicht zu.“

„In Bezug auf den Anteil der Wissenschaftskosten am BIP (1,1 Prozent) liegt Russland mit dem 34. Platz deutlich hinter den führenden Ländern der Welt. Die Spitzenreiter sind Israel (4,25 Prozent), Süd-Korea (4,24 Prozent), die Schweiz (3,37 Prozent), Schweden (3,25 Prozent) und Taiwan (3,16 Prozent). “

Laut dem Expertenbericht (.pdf) gaben  2019 die fünf Spitzenreiter Vereinigte Staaten (511,1 Milliarden Dollar), China (451,2 Milliarden Dollar), Japan (168,6 Milliarden Dollar), Deutschland (118,5 Milliarden Dollar) und Südkorea (79,4 Milliarden Dollar) für wissenschaftliche Entwicklung aus. Russland belegte in dieser Liste mit 39,9 Milliarden Dollar nur den zehnten Platz.

Diese Zahlen lassen vermuten, dass die Stimmung der Wissenschaftler nicht allzu rosig aussehen kann. Für großen Unmut hatte eine Verordnung von 2019 gesorgt, mit der Kontakte zwischen russischen und ausländischen Wissenschaftlern eingeschränkt wurden.  Das Ministerium für Bildung und Wissenschaft hat diese Anordnung vor zwei Tagen aufgehoben. Ob das die Gemüter beruhigen kann? Den beispiellosen Appell der russischen Wissenschaftler in Sachen Justiz und Politik kann man als „leichtes Brodeln“ bezeichnen.

Sergejew von der Russischen Akademie der Wissenschaften fordert ein, dass die Erstellung der Grundlagen der föderalen Politik zur Modernisierung der Bereiche Justiz- Wirtschafts-, Umwelt- und Kulturentwicklung „nicht unter Berücksichtigung der Errungenschaften der Wissenschaft“ geschehe.

Und wenn Wladimir Putin seine ehrgeizigen Ziele mit den nationalen Projekten ernst nimmt, dann wird er einsehen, dass es ohne die Beteiligung der russischen Wissenschaftler nicht zu nachhaltigen Fortschritten kommen kann.

Man darf gespannt sein, wie lange es dauert, bis die sieben „Anarchisten“ in den Hausarrest überstellt werden.

[hrsg/russland.NEWS]

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