Russische Weihnacht – eine andere Welt

[Hanns-Martin Wietek] Um 22 Uhr soll am 6. Januar 1993 die Christmette beginnen und schon jetzt, eineinhalb Stunden vor Beginn, ist die Kathedrale des russisch-orthodoxen Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Bogojavlenskij sobor v Jelochove brechend voll. (Damals lag an der Stelle, an der heute wieder die riesige Christerlöserkathedrale steht, noch das von Stalin nach der Sprengung der alten Kathedrale angelegte Schwimmbad.) 3.000 Menschen haben in der Jecholowskaja Platz und dennoch stehen Jung und Alt dicht gedrängt – in den russisch-orthodoxen Kirchen gibt es keine Bänke und Stühle – und viele werden außerdem die ganzen vier Stunden draußen vor den weit geöffneten Toren in Schnee und Kälte ausharren müssen.

Ein monotoner Wechselgesang von Frauenstimmen empfängt uns schon am Eingang.

Mein Freund Nikolai – er ist Opernsäger (tiefster russischer Bass), und auch alle anderen Chormitglieder sind Profisänger – führt uns auf eine Seitenempore. Der Chor, bestehend aus etwa 50 bis 60 Sängern und Sängerinnen, ist auf die beiden Seitenemporen aufgeteilt, von wo die Gruppen abwechselnd singen werden, jede ungefähr 20 Minuten lang, immer im Wechsel, bis zum Schluss. Der gesamte Gottesdienst ist ein ununterbrochener Wechselgesang zwischen den Geistlichen – dem zelebrierenden Priester und zwei Diakonen – und dem Chor.

Jetzt wird mir erst bewusst, dass es in russisch-orthodoxen Kirchen keine Orgel gibt. Auf meine Nachfrage wird mir erklärt, dass die Gesänge keine Ausschmückungen des Gottesdienstes seien, sondern feste Bestandteile der Liturgie, d. h. sie tragen für den Gottesdienst fest vorgeschriebene Hymnen und Texte vor; sie seien „gesungenes Wort“. Instrumentalmusik dagegen sei wortlose Musik, und wortlos könne man weder gemeinsam beten, noch die Lehre Gottes verkünden.

Ich gehe zu den wenigen Auserwählten auf die Mittelempore. Der gesamte Raum, alles in der Kirche, ist ausgerichtet auf eine Seite, auf die Ikonenwand: eine unvorstellbare Pracht in Gold und Edelsteinen. Viele Ikonen – die russischen Heiligenbilder – sind, kunstvoll in Gold und Silber eingefasst, über diese Wand verteilt, so dass es aussieht, als ob diese Wand nur aus Ikonen bestünde. In der Mitte der Wand ist ein großes zweiflügliges Tor aus Gold, das Königstor, das nur während des Hauptteils des Gottesdienstes geöffnet wird und hinter dem sich der eigentliche Altarraum befindet. Gegenüber dem Königstor, im Mittelgang, steht der ebenfalls aus Gold, Silber und Edelsteinen gefertigte Thron des Patriarchen. Zu beiden Seiten des Tores stehen besonders große Ikonen und Reliquienschreine hinter Glas; auch sie sind von Gold und Edelsteinen eingerahmt. Der Glanz dieser Ikonenwand ist von atemberaubender, fast überirdischer Schönheit – von einer Pracht, die aus den Märchen von Tausendundeiner Nacht zu kommen scheint.

Vor der Wand stehen wie auch an vielen anderen Stellen in der Kirche goldene, etwa mannshohe schlanke Ständer, die doppelstöckig angeordnete große Scheiben tragen (und daher den früher gebräuchlichen – ich bitte für diesen profanen Vergleich um Entschuldigung – zweistöckigen Tortenplatten ähnlich sind), auf denen Kränze von dünnen, langen Bienenwachskerzen mit unverwechselbarem aromatischen Duft spratzend und knisternd brennen.
Über allem, in der Mitte des Raumes, hängt ein weit ausladender, ebenfalls goldener Lüster mit unzähligen Lichtern.

russisch-ortodoxe Nonne

russisch-ortodoxe Nonne

Obwohl die Gläubigen schon ununterbrochen betend singen, wird überall noch fleißig poliert; schwarz gekleidete Frauen mit Tüchern auf dem Kopf – in der russisch-orthodoxen Kirche müssen Frauen den Kopf bedecken – laufen unentwegt hin und her, polieren hier, wischen dort und nehmen von den Gläubigen diese dünnen, langen Kerzen entgegen, die dann auf einen der großen Kerzenständer gesteckt werden (wofür andere wieder weggenommen werden); sie kommandieren auch die Leute hierhin, dorthin, werfen Mäntel, Hüte oder Schals, die unerlaubt auf einem Gitter oder der Abtrennung zur Ikonenwand abgelegt sind, herunter – sie erinnern mich unwillkürlich an die Erinnyen, die Rachegöttinnen in der griechischen Mythologie. Bei alledem schlagen sie vor jeder der großen Ikonen, an denen sie vorbeikommen, das russisch-orthodoxe Kreuz und verbeugen sich tief, und da es viele Ikonen sind, bekreuzigen und verbeugen sie sich unentwegt. Vor den ganz großen Ikonen und Reliquienschreinen bleiben sie immer wieder stehen und küssen die sie abdeckende Glasscheibe, die dann von der nächsten „Erinnye“, die vorbeikommt, sofort wieder geputzt wird.
Zwei Priester in goldenen, weiten Gewändern stehen in der Menge, und unablässig drängen Gläubige zu ihnen; dann sprechen Priester und Gläubiger miteinander, wobei beide manchmal mit den Köpfen unter dem Umhang des Priesters verschwinden, den dieser über sich und den wohl Beichtenden legt. Danach küssen die Gläubigen das Kreuz, das der Priester auf seiner Brust trägt, bekreuzigen sich vielmals und verschwinden wieder in der Menge.
Über allem schwebt dieser endlose monotone Wechselgesang der Frauen; eine unwirkliche Stimmung.

Der Glanz, der Gesang, der Duft der vielen brennenden Kerzen und das Treiben der „Erinnyen“ lassen mich alles andere vergessen und zu einem Teil des Geschehens werden. Gespannt sind alle meine Sinne nur noch auf das gerichtet, was da unten geschieht und was da noch kommen soll; ich empfinde keine Zeit mehr. Ich stehe ganz vorn an der Brüstung auf der Mittelempore, genau gegenüber dem goldenen Tor und bin Teil eines überirdischen Fluidums; ich entgleite mir langsam selbst. Ich versuche, mich gegen den ewig gleichen monotonen Singsang zu wehren, der mich wegtragen will, der mich benebelt, in Watte einhüllt; ja, ich versuche mich sogar über das „rosenkranzgleiche Geleier“ zu ärgern – es gelingt mir nicht.

Endlich verstummt das monotone Grundrauschen und der große Moment ist gekommen: Der Patriarch, die russisch-orthodoxen Metropoliten und Erzbischöfe und Bischöfe aus der ganzen Welt halten Einzug.
Alle tragen prunkvolle goldene und reich bestickte Gewänder, kostbare Kreuze aus Gold und Edelsteinen auf der Brust und Hüte (oder sind es Kronen oder Mitras, Mitren?). Alle tragen gewaltige, meist graue Bärte; langsam und würdevoll ziehen sie in die Kathedrale ein, schreiten auf die Ikonenwand zu. Einer von ihnen singt mit gewaltiger, tiefer Bassstimme; ein Chor setzt ein, es beginnt ein Wechselgesang.

Erst einmal muss alles und jeder geheiligt werden: die Ikonen, die Ikonenwand, das Buch, der der aus dem Buch „liest“, natürlich der Patriarch und die Metropoliten und Bischöfe, einfach alles muss für die kommende Feier mit Weihrauch gereinigt und vorbereitet werden. Dabei ist man nicht sparsam, wahre Schwaden von Weihrauch vernebeln beinahe die Sicht – und meinen Kopf. Dann wird eine Lesung nach der anderen vorgetragen, einmal in tönendem Bass, dann im strahlenden Tenor, immer von einem Diakon oder Archidiakon; der Chor antwortet, und immer wieder wird dem Patriarchen das Buch gebracht, er segnet, seine Hand wird geküsst, Kerzen werden gebracht, manchmal in Kreuzform gehalten und herumgetragen und immer wieder Weihrauch, Weihrauch, Weihrauch.

Während das alles unter mir geschieht, habe ich hinter mir an der Wand einen kleinen Vorsprung entdeckt, auf den ich mich setzen und nachdenken kann.

Wie kommt dieser eigenartige, nur dem russischen Gesang eigene Klang von Sängerstimmen und Chören zustande? Die Bässe dröhnen in Tiefen, dass man meint, die Sänger sängen im Kontrabass, die Tenöre strahlen in Höhen, in denen sie den Stimmlagen von Frauen nahe kommen, und die Frauenstimmen im Chor haben einen fast schneidenden Klang.
Jeder Sänger lernt bei uns, er (oder sie) müsse auf eine gute Mischung aus Kopf- und Bruststimme achten, d. h. der Resonanzraum der Töne sollten Kopf und Brust sein. Russische Bässe benutzen bevorzugt den Resonanzraum Brust (das kann man lernen); das führt zu so volumenreichen Tönen, dass Tischplatten vibrieren (man kann es tatsächlich mit der Hand spüren); Tenöre verstärken den Resonanzraum Kopf – bis hin zum Countertenor, dessen Stimme von einer Frauenstimme nicht mehr zu unterscheiden ist; Frauen, die in den höchsten Tönen mit reiner Kopfstimme singen, können so hohe Töne „produzieren“, dass Gläser zerspringen – wie die Callas gezeigt hat. In russischen Chören singen die Frauenstimmen zudem häufig zeitgleich die gleiche Melodie, aber in unterschiedlichen Tonlagen, was für uns ungewohnt ist und seltsam klingt. Das ist das Geheimnis dieses eigenartigen, viele Menschen in den Bann ziehenden Klanges.

Etwas erholt wende ich mich wieder dem Geschehen zu. Erstaunt stelle ich fest, dass Jelzin (mit verschiedenen Ministern) nun sehr weit vorn an der Ikonenwand steht. Wie sich die Zeiten ändern; das hat dem vormaligen Herrn Parteisekretär und heutigen Präsidenten sicher niemand an der Wiege gesungen.

Weihnacht in der ChristerlöserKarhedrale Moskau 2009

Weihnacht in der ChristerlöserKarhedrale Moskau 2009

Inzwischen ist das Königstor geöffnet worden und der Patriarch und seine Konzelebranten sind im Altarraum um den Altartisch versammelt: Die Kommunion wird vorbereitet und von den Priestern eingenommen, dann werden Brot und Wein an die Gläubigen ausgeteilt, alles begleitet von den Gesängen des Chores, der die Liturgie des Heiligen Basilius des Großen (*330, †379) singt.

Nach wie vor bin ich vom Glanz, dem Gesang, der ganzen Atmosphäre beeindruckt – und auch von der Standfestigkeit der Menschen, denn es geht jetzt in die vierte Stunde – aber langsam ist mein Vorrat an Gefühlen aufgebraucht, staunend verfolge ich das Geschehen, ich bin nur noch benommen, leer, zufrieden … und glücklich.

Und als sich dann nach über vier Stunden die Menschen im verschneiten Moskau die Worte „Christos raždaetsja – slavte“ („Christus ist geboren – verehrt ihn“) oder
„S raždestvom christovym“ („Frohe christliche Weihnachten“)
zurufen, bin ich bei aller Heiligkeit der Ereignisse nun doch recht froh, in absehbarer Zeit etwas zum Essen und vor allem zum Sitzen zu bekommen.

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Weihnachten im Wandel der Zeiten

An dem Tag, an dem sich das oben Geschilderte in ganz Russland – von Wladiwostok bis St. Petersburg und meist nicht so prachtvoll, aber ebenso feierlich – ereignet, ziehen in Deutschland die Heiligen Drei Könige als Sternsinger durch die Straßen (und politische Parteien prügeln wortgewaltig aufeinander ein).

In der russisch-orthodoxen Kirche gilt noch heute (wie bis zur Oktoberrevolution in ganz Russland) der julianische Kalender, der von Gajus Julius Caesar (*100 v. Chr., †44 v. Chr.) eingeführt wurde. Weltweit – mit den Ausnahmen weltliches Russland (seit 1918) und Türkei (seit 1926) – gilt seit 1582 der am Sonnenjahr ausgerichtete gregorianische Kalender, den Papst Gregor XIII (*1502, †1585) durchgesetzt hat.
Dass das orthodoxe Russland diesen Wechsel damals nicht mitmachte, hing mit der kalendarischen Festlegung des Osterdatums zusammen: Nach der biblischen Überlieferung starb Jesus (Karfreitag) am Vorabend des Hauptfestes der jüdischen Pessachwoche und ist am Tag danach (Sonntag) auferstanden. Im ersten ökumenischen Konzil von Nicäa (325) wurde festgelegt, dass das christliche Ostern nach diesem jüdischen Fest zu feiern sei, da ein Feiern vor dem jüdischen Pessachfest nicht mit den biblischen Aussagen in Einklang zu bringen wäre. Das Pessachfest findet (variabel, nach Berechnung des jüdischen Kalenders) im Monat des Frühlingsvollmondes statt; somit wurde festgelegt, dass das christliche Osterfest stets nach dem Frühlingsvollmond, am Sonntag nach dem Pessachfest gefeiert werden würde. Durch die gregorianische Kalenderreform liegt das Osterfest heute aber fast immer vor dem in der Bibel angegebenen Tag des jüdischen Pessachfestes, denn der Frühlingsanfang wurde fest auf den 21. März und Ostern auf den ersten Sonntag nach dem darauf folgenden Vollmond gelegt. Die Orthodoxie, in der Ostern das mit Abstand heiligste Fest ist, bestand auf der einmal ökumenisch getroffenen Regelung und lehnte mit dieser Begründung den gregorianischen Kalender ab.

Da das julianische Jahr 11 Minuten und 14 Sekunden länger ist als das gregorianische – d. h. das gregorianische Jahr ist eher zu Ende als das julianische, so dass das neue gregorianische auch eher beginnt –, hinkt das julianische Jahr dem gregorianischen kalendarisch immer mehr hinterher. Seine „Verspätung“ summiert sich alle 128 Jahre auf einen ganzen Tag; bis heute sind auf diese Weise 13 Tage zusammengekommen, und ab 2100 werden es 14 sein. So kommt es, dass der 24. Dezember (Heiligabend) des nachhinkenden julianischen Kalenders der russischen Orthodoxie zur Zeit (und noch bis 2100) auf den 6. Januar des weltweit gültigen gregorianischen Kalenders fällt.

Aber damit nicht genug: Zwar hat es in Russland noch nie den heute zumindest im Westen ausgelebten Kauf- und Geschenkrausch gegeben – es gab an Heiligabend Kleinigkeiten, vor allem für die Kinder: Süßigkeiten und Gebasteltes, das man sich gegenseitig schenkte, denn ein Geschenke bringendes Christkind gab und gibt es dort nicht –, doch heute gibt es an Heiligabend meist gar keine Geschenke mehr. Es gibt sie an Silvester und dann bringt sie nicht der Weihnachtsmann, sondern Väterchen Frost (Ded Moros, gesprochen: Died Maross) mit seiner Enkelin, dem Schneemädchen (Snegurotschka). An diesem Tag wird in Russland auch der Weihnachtsbaum aufgestellt, der meist bis zum 14. Januar greg. stehen bleibt, denn an diesem Tag ist nach dem russisch-orthodoxen Kalender der 1. Januar jul., sprich Neujahr.

Und das kam so:
Wie ein kleines Bäumchen Geschichte machte
Im Jahr 1700 verlegte Peter der Große den Jahresbeginn (Neujahr) vom bis dahin üblichen 1. September auf den 1. Januar; gleichzeitig brachte er aus „Theutschen Landen“ den von Luther in den evangelischen Gegenden eingeführten Tannenbaum mit. (In katholischen Gegenden kam der Baum übrigens erst über hundert Jahre später zu Ehren, denn er war mit dem Makel behaftet, von dem Ketzer Luther eingeführt worden zu sein.) Es wurde nun in Russland bei Hofe und in den gehobenen Kreisen üblich, an Neujahr einen Tannenbaum aufzustellen und wahrscheinlich auch zu schmücken. Nach und nach wurde das auch der Tag, an dem Beförderungen erfolgten und Auszeichnungen und Ernennungen durch den Zaren ausgesprochen wurden, was mit Geschenken verbunden war; und so wurden an diesem Tag allgemein Geschenke üblich – in den gehobenen (adeligen) Kreisen, das „niedere Volk“ und später auch die Kaufmannschaft, die sehr orthodox oder sogar altgläubig geprägt war, nahm davon keine Notiz.
In diesem Zusammenhang – zunehmend im 19. Jahrhundert – bekam auch die gütige, gerechte Märchenfigur Ded Moros (Väterchen Frost) – ein alter Mann mit großem weißem Bart – seine neue Rolle zugewiesen: Er brachte den Kindern nun zu Neujahr Geschenke, was sicher eine Anlehnung an das deutsche Weihnachtsfest war, ebenso wie das Aufstellen des Christbaums, das in diesen Kreisen jetzt ebenfalls Mode wurde. (Auf Glückwunschkarten aus dieser Zeit wird explizit auf das „Deutsche Weihnachten“ hingewiesen).
Im Jahr 1852 verlieh Nikolai I. dem von Peter dem Großen eingebürgerten Brauch des Jolkafestes die kaiserlichen Weihen (fast seine gesamte Familie und nahezu alle nächsten Anverwandten waren ja schließlich deutschstämmig oder gar ehemalige Deutsche) und erklärte den 1. Januar zum Jolkafesttag (Tannenbaumfest; Nikolai II. schreibt z. B. am 31. Dezember 1905 in seinem Tagebuch: „Heute 4 Uhr 30 mit den Offizieren Jolka gefeiert“). Erst sehr viel später sickerte dann der Tannenbaum nach und nach als Christbaum ins Brauchtum des einfacheren Volkes ein.
Das arme Bäumchen hatte im Russland des späten 19. Jahrhunderts also zwei Funktionen: Es kam als Jolka für das weltliche Tannenbaumfest und als geheiligter Weihnachtsbaum zum Einsatz.
Dann kam 1918, die Revolution.

Die neuen kommunistischen Machthaber konnten ein religiöses Hochfest wie Weihnachten natürlich nicht dulden, denn Religion war bekanntlich „Opium für das Volk“; folgerichtig wurde dieser Feiertag abgeschafft, er war nun ein ganz normaler Arbeitstag. Und das Jolkafest war eine verdammenswerte bourgeoise Einrichtung und wurde daher ebenfalls abgeschafft. Das Feiern mit Tannenbaum wurde unter schwere Strafe gestellt (anfangs konnte man dafür sogar erschossen werden). Das arme Bäumchen war damit erledigt.

 

Erst ab 1929 wurde das Aufstellen des Bäumchens zu Neujahr – und nur zu Neujahr – wieder geduldet – und wirklich nur geduldet, nicht gefördert. Im Gegenteil: Es war (zumindest in Großstädten) schwierig, ein Bäumchen und Schmuck zu bekommen. Sich zum Weihnachtsfest ein Bäumchen zu kaufen, hätte niemand gewagt, aber nun, nach der Einführung des gregorianischen Kalenders durch die Revolutionäre, lag witzigerweise das weltliche Neujahr vor dem orthodoxen Weihnachtsfest, also blieb das Bäumchen in den Familien einfach stehen und war dann eine Woche später insgeheim der Weihnachtsbaum.
Erst im Jahr 1954 gab es im Kreml zu Neujahr wieder einen großen Tannenbaum und den gibt es seitdem jedes Jahr. Auch wird seitdem im Kreml an diesem Tag ein Fest für Kinder gefeiert, bei dem diese Geschenke bekommen; und auch in den Familien konnte man sich wieder gefahrlos beschenken.
Ein Weihnachtsmann – wie er im Westen üblich geworden war – durfte diese Geschenke natürlich nicht bringen, aber das brachte keine großen Probleme mit sich, denn schon immer gab es ja in Russland Väterchen Frost (Ded Moros), bekanntlich auch ein alter Mann mit großem weißem Bart, der seit dem 19. Jahrhundert zu Neujahr sogar als Geschenkbringer unterwegs war. Leider veränderte Väterchen Frost nach und nach seine ursprüngliche Gestalt und sah schlussendlich genau so aus wie der westliche Weihnachtsmann.
So kommt es, dass auch heute noch zu Silvester Väterchen Frost Geschenke unter den Jolka/Weihnachtsbaum legt oder sie persönlich abgibt – allerdings brachte er sie früher nur den reichen, adeligen Kindern; heute bringt er sie allen.
Aus dem kleinen, zum Sterben verurteilten Bäumchen ist wieder ein großer starker Tannenbaum geworden und aus Väterchen Frost ein Coca-Cola-Weihnachtsmann.

Es ist also nicht so, wie allerorten zu lesen ist: dass die Kommunisten den Jolka zu Neujahr an Stelle des Weihnachtsbaumes eingeführt hätten; im Gegenteil, die Bevölkerung hat sich ihren Neujahrsjolka und Weihnachtsbaum beharrlich von den Machthabern zurück erobert.

 

Doch es geht noch weiter:
Weihnachten total
Seit Beginn der neuen Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gehen immer mehr und insbesondere „Neue Russen“ dazu über, auch das „säkularisierte“ Weihnachten – wie im Westen üblich – mit Geschenk- und sonstigen Räuschen zu feiern. So kommt es, dass einige durchtrainierte Russen am 24. Dezember Weihnachten feiern, das weltweite Silvester und Ded Moros am 31. Dezember, als orthodoxe Christen (denn als solche sehen sich die meisten) am 6. und 7. Januar ihr Weihnachtsfest begehen und in der Nacht vom 13. zum 14. Januar das orthodoxe Neue Jahr begrüßen, das man das alte Neue Jahr nennt.
Ganz Hartgesottene feiern noch bis zum 19. Januar weiter, dem Dreikönigsfest, dem Ende der Weihnachtszeit in der Orthodoxie. Letzteres ist insofern nicht abwegig, da an diesem Tag auch die 12 (heidnischen) Raunächte zuende gehen, die in den Städten mit Maskenbällen und in ländlichen Gebieten mit mehr oder weniger bösartigem Schabernack begangen werden und in etwa der westlichen Faschingszeit vergleichbar sind (weiter unten mehr).
Wohl dem, der eine gesunde Konstitution hat.

Weihnachten in der Literatur
Unschwer ist zu erkennen, dass sich das russische Weihnachtsfest in seinem Brauchtum doch deutlich von dem in Deutschland zur Zeit der Romantik und des aufstrebenden Bürgertums gewachsenen Fest unterscheidet, was natürlich seinen Niederschlag in der Literatur gefunden hat.

Nikolai Gogol (*1802, †1852) ist wohl einer der ersten – wenn nicht gar der erste – gewesen, der explizit eine Weihnachtserzählung geschrieben hat; sie heißt Die Nacht vor Weihnachten und ist eine der acht ukrainischen Erzählungen, die unter dem Titel Abende auf dem Vorwerke bei Dikanka (1831) zusammengefasst sind. Für westliche Leser völlig unverständlich, ja gar absurd: Es ist eine Teufels- und Hexengeschichte, bei der Weihnachten allein im Titel vorkommt. Und damit ist Gogol nicht allein; immer wieder erscheinen Spuk-, Geister- und Gespenstergeschichten, die den Begriff Weihnachten nur im Titel oder Untertitel tragen oder gar nur im Text an einer fast nebensächlichen Stelle auf Weihnachten verweisen (was auch für Weihnachtserzählungen allgemein gilt). Nur einige wenige seien genannt: Anton Tschechows (*1860, †1904) Die Nacht der Schrecken. und Wanka. Nikolai Leskow (*1831, †1895) nennt seine Erzählungen richtiger „Weihnachtszeiterzählungen“ und definiert sie in seiner Erzählung Das Perlenhalsband (1885) so:

Von einer Weihnachtszeiterzählung verlangt man, dass sie an Ereignisse eines Abends zwischen Weihnacht und hl. drei Könige gebunden sei, dass sie etwas fantastisch sei, irgendeine Moral, wäre es auch nur die Widerlegung eines Vorurteils, in sich trage und schließlich – dass sie unbedingt lustig ende.
An diesen Worten wird deutlich, dass viele russische Weihnachtserzählungen mit der westlichen Vorstellung von einer Weihnachtserzählung nur wenig zu tun haben. Hintergrund sind die schon oben erwähnten Raunächte, die an Heiligabend beginnen und mit dem Dreikönigstag enden. Nicht nur in Russland, auch in Westeuropa haben bzw. hatten bei der ländlichen Bevölkerung diese zwölf Nächte magische Bedeutung. In ihnen trieben sich der Teufel, Hexen und Gespenster herum und versuchten, den Menschen zu schaden; Ställe und Häuser mussten daher mit Weihrauch geschützt werden. (Andererseits waren in dieser Zeit besonderer Magie auch Wetter- und Erntevoraussagen für das kommende Jahr möglich.) Grundlage für diese Vorstellung war die unterschiedliche Länge von Mond- und Sonnenjahr: Das Mondjahr umfasst nur 354, das Sonnenjahr bekanntlich 365 Tage; das ergibt eine Differenz von 11 Tagen respektive 12 Nächten. Diese Tage und Nächte, die eigentlich nirgendwo so richtig hingehörten, nicht ins alte, nicht ins neue Jahr (auch bei uns heißt heute die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr die Zeit „zwischen den Jahren“): Es waren verlorene Tage; das nutzte das Böse aus, es hatte jetzt viel mehr Macht als im übrigen Jahr. Die gefährlichsten Nächte waren Heiligabend, Silvester und die Nacht vor Dreikönig. Auf diese heidnischen Bräuche im Detail einzugehen, ist hier nicht der Ort; nur soviel ist wichtig: Daraus entwickelten sich, ausgehend von der schon von Haus aus recht emotionalen Ukraine, besonders in bäuerlichen Gebieten die Traditionen der Maskenumzüge (die es auch in Westeuropa gab) und des wilden, manchmal schon gefährlichen „Schabernacks“. Bei den gehobenen Schichten wurde mit Maskenbällen, Kartenlesen und anderen „Gepflogenheiten“ der russische „Fasching“ daraus.

Es gibt verschiedene Beispiele für Schilderungen der Raunächte-Bräuche. Lew Tolstoi (*1828, †1910) hat z. B. in Krieg und Frieden die Episode Die Vermummte aus Otradnoje geschrieben, die in der Weihnachtszeit auf einem russischen Gut spielt. Und auch Iwan Gontscharow (*1812, †1891) beschäftigt sich in Das Weihnachtsfest (1875; in: Ein Monat Mai in Petersburg. Erzählungen und Erinnerungen, 1875–1891) mit den heidnischen Festtraditionen.
(Das Fantastische gibt es übrigens auch in der westeuropäischen Weihnachtsliteratur – siehe Charles Dickens und andere –, nur nicht so ausgeprägt.)
Viele andere russische Weihnachts- sind eigentlich Wintererzählungen, in denen die Freude über den eingezogenen Winter zum Ausdruck kommt.

Auch in deutschen Erzählungen zur Weihnacht spielt der Schnee sehr häufig eine große Rolle, allerdings aus romantischen Gründen. In Westeuropa wird man sich verständlicherweise fragen, wie sich die Russen auf eine Zeit freuen können, in der Temperaturen von bis zu –30° Celsius herrschen. Abgesehen davon, dass die trockene Kälte von z. B. -20° aufgrund des kontinentalen Klimas in Russland bei Weitem nicht so unangenehm ist wie nur wenige Grade Minus im feuchten, gemäßigten Klima hierzulande, gibt es noch eine ganz praktische Erklärung: Der nasse Herbst ist in Russland (noch heute) die schlimmste Jahreszeit; alles versinkt in Matsch und Sumpf, ein Reisen auf den unbefestigten Straßen – und sei es auch nur für kurze Strecken – war insbesondere in der Zeit der Kutschen (aber auch heute noch, trotz Allradantrieb) eine mühselige und schlammige Angelegenheit. Erst wenn der Boden durch kräftige Minusgrade bis in die Tiefe durchgefroren war und dicker Schnee darauf lag, war es ein Genuss, mit der Schlittentroika durch die Gegend zu jagen.
Von der Liebe zum Winter zeugen die zahlreichen Wintermärchen wie Ded Moros oder Snegurotschka oder Das Schneemädchen – alle von Alexander Afanasjew (*1826, †1871), dem russischen Pendant zu den Gebrüdern Grimm, gesammelt.

Zu guter Letzt werden in der Rubrik Weihnachtsgeschichten noch viele Tiergeschichten erzählt, in denen häufig die unverdorbene Nächstenliebe zwischen Mensch und Tier dargestellt wird – wobei der eigentliche Bezug zu Weihnachten manchmal ein völlig nebensächlicher ist. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Leskows Erzählung Das Tier (1883) auch unter dem Titel Sganarell der Bär, eine (auch mich immer wieder) zu Tränen rührende (manche sagen rührselige) Geschichte.

Und dann gibt es da noch die Erinnerungen vieler Schriftsteller an ihre Kindheit, die – wie bei alten Männern so üblich – oft mehr oder weniger verklärt sind, aber dennoch kulturhistorisch wertvolle Aufzeichnungen und literarisch glänzende Erzählungen sind. Einige Beispiele sind:

Maxim Gorki (*1868, †1936): Bevor ich ein Schulkind wurde aus Maxim Gorki, Meine Kindheit (1913) und Kirchgang aus Maxim Gorki,Unter fremden Menschen (1914)
Alexej Tolstoi (*1883, †1945) Der Tannenbaum aus Alexej Tolstoi, Nikitas Kindheit (1921)
Tatjana Tolstaja (*1864, †1950) Weihnachten bei uns zu Hause aus Tatjana Tolstoi, Ein Leben mit meinem Vater. Erinnerungen an Leo Tolstoi.
Konstantin Paustowskij (*1892, †1968) Wie wenig braucht der Mensch zu seinem Glück aus Konstantin Paustowskij, Unruhige Jugend (1955)
Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (*1842, †1921) Weihnachten auf Vaters Gut aus Fürst P. Kropotkin, Memoiren eines Revolutionärs (1899)
Alexander Herzen (*1812, †1870) Orgie am Nikolaustag aus  Alexander Herzen, Mein Leben. Memoiren und Reflexionen (1851)
Iwan Schmeljow (*1875, †1950) Die Vorfasten und Weihnachten aus Iwan Schmeljow, Wanja im heiligen Moskau. Der Roman meiner Jugend (1933)

Erinnerungen an ein Weihnachtsfest ganz besonderer Art, nämlich an Weihnachten im sibirischen Straflager, hat Fjodor Dostojewskij (*1821, †1881) in der Episode Das Weihnachtsfest (Aus einem Totenhaus, 1861) festgehalten.

С Рождеством Христовым! (S Raždestvom Christovym!)
wünscht
Hanns-Martin Wietek

 

Weihnachtsgeschichten aus Russland
Diedrichs, Ulf [Hrsg.], Wenn Väterchen Frost kommt, Weihnachtsfreuden in Rußland. dtv 1999
Blume, Monika [Hrsg.], Weihnachten in Russland, Erzählungen von Dostojewskij bis Tolstoi. Sanssouci Verlag 1997

Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung Русская Православная Церковь mospat.ru/ru/

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