Russische Menschenrechtlerin: „Russland ist wie eine Zombie-Mutter“Olga Romanowa Foto: © Ekaterina Rerberg

Russische Menschenrechtlerin: „Russland ist wie eine Zombie-Mutter“

Wenn jemand alles über russische Gefängnisse weiß, dann ist es Olga Romanowa – Gründerin der Stiftung Rus Sidjaschtschaja (Russland hinter Gittern), die sich für die Rechte von russischen Gefangenen und ihrer Familien einsetzt. Die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin musste ihr Heimatland bereits 2017 verlassen, als Büros ihrer Stiftung durchsucht wurden. Seitdem lebt sie in Berlin und setzt hier ihre Arbeit fort. Denn sie ist die Einzige, die „in Sicherheit ist und sprechen kann“.

Und sie ist ein gern gesehener Gast in der russischen Community in Deutschland, bei Menschen, die gegen den Krieg sind und sich große Sorgen darüber machen, was in ihrer Heimat ihrem Land geschieht. So hat der Verein Freies Russland NRW e.V. ein Treffen mit der Aktivistin in Düsseldorf organisiert, wo viele Russen leben und von ihr wissen wollen, was zum Beispiel mit ukrainischen Gefangenen in Russland passiert oder mit den Kindern, die aus der Ukraine nach Russland gebracht wurden. Ein Thema, die alle interessiert, ist auch die Rekrutierung von Häftlingen in den Krieg.

Der Chef der Söldner-Gruppe Wagner Jewgeni Prigoschin hatte offensichtlich freie Hand und konnte Menschen aus den russischen Gefängnissen an die Front rekrutieren. 50.000 Häftlinge seien so rekrutiert worden, berichtet Olga Romanowa.

„Stellen Sie sich vor, ein Hubschrauber landet in einem Straflager, eine unbekannte Person steigt aus, sucht Gefangene aus und fliegt weg. Der Föderale Strafvollzugsdienst bereitet sie auf ihre Überstellung vor. Sie müssen zwei Papiere unterschreiben, in denen sie erklären, dass ihre persönlichen Daten nicht an Dritte weitergegeben werden dürfen, auch nicht an nahe Verwandte. Außerdem schreiben sie ein Gnadengesuch. Nach Gesetzgebung der Russischen Föderation kann eine Person auf drei Wegen aus dem Gefängnis entlassen werden. Das Parlament kann eine Amnestie aussprechen, das Gericht kann das Urteil aufheben, und der Präsident kann begnadigen. Prigoschin aber verspricht gleich drei Dinge auf einmal! Und die Verurteilten erhalten eine Art Entlassungsschein!

Darin soll der Grund für die Freilassung stehen, zum Beispiel das Ende der Haftstrafe. In dieser Bescheinigung steht „aufgrund einer Begnadigung“! Das ist alles! Angeblich gibt es geheime Präsidialdekrete über Begnadigungen, die noch niemand gesehen hat. Als man Putins Pressesprecher Dimitry Peskow fragte, ob es dieses Dekret wirklich gibt, antwortete er: Ja, es existiert. Aber dieser Erlass ist geheim!“ Das verstößt gegen alle denkbaren unvorstellbaren Gesetze, sagt Olga. Aber das ist die Realität in Russland heute.

Prigoschin versprach den angeworbenen Häftlingen Geld – 100.000 Rubel (umgerechnet etwa 1.200 Euro) Gehalt plus 100.000 Rubel Prämie. Und fünf Millionen Rubel (rund 64.000 Euro) im Todesfall, die an nahe Verwandte ausgezahlt werden sollten.. „Die meisten Häftlinge haben aber keine Verwandten. Wenn man Verträge mit der Wagner-Gruppe abschließt, muss man die Namen von Verwandten angeben. Dann versucht man sich an irgendeine Tante zu erinnern, die an einem unbekannten Ort lebt. Die große Frage ist also, wer dieses Geld bekommt und wie“, erklärt Olga.

„Von den 2.500 Menschen, die bis zum 1. August 2022 von Prigoschin rekrutiert wurden, sind nur zweihundert lebend zurückgekehrt. Wir wissen, dass sie diese Zahlungen erhalten haben“. Menschenrechtsaktivisten wissen aber auch, dass die Textnachrichten „Ihr Sohn/Ehemann wurde wegen Desertion erschossen“ meist von Angehörigen nichtrussischer Staatsbürger erhalten werden. Diese Leute haben die Mittel, Anwälte einzuschalten und zu überprüfen, ob das überhaupt stimmt. Olga glaubt, dass Prigoschin auf diese Weise die fünf Millionen nicht zahlen will. „Denn die Zahlen, die wir haben, zeigen, dass nur Nicht-Russen außergerichtlich hingerichtet werden“, sagt sie.

„Und es gibt ziemlich gruselige Geschichten. Eine Frau erhält die Nachricht, dass ihr Mann im Krieg gefallen ist. Er wird zum Helden erklärt, in einem Zinksarg beerdigt, und sie bekommt ihre fünf Millionen Rubel. Aber dann ruft er sie aus ukrainischer Gefangenschaft an. Und wissen Sie, einige Ehefrauen sind nicht bereit, auf das Geld zu verzichten. Wir wissen, dass die Desertionsrate unter ehemaligen Häftlingen sehr hoch ist. Sie ist vor allem seit der Einführung des ukrainischen Programms „Ich will leben“ gestiegen, mit dem man über spezielle Routen auf die ukrainische Seite überlaufen kann. Und Prigoschin hat beschlossen, die Geflohenen für tot zu erklären. Sein Kalkül geht genau deshalb auf, weil die vermeintlichen „Witwen“ nicht zugeben, dass ihre Ehemänner noch leben und in Gefangenschaft sind“. Heute sind die meisten Gefangenen vom Verteidigungsministerium übernommen worden. Und die Rekrutierung geht weiter.

 Und natürlich war es unmöglich, Olga nicht nach dem berühmtesten Häftling Russlands, Alexej Nawalny, zu fragen. „Über die Stärke seines Geistes kann man nur staunen. Sie haben für ihn ein Gefängnis im Gefängnis gebaut. Es gibt einen sechs Meter hohen Zaun, er darf seine Familie nicht anrufen, und es ist schwierig, Zugang zu Anwälten zu bekommen. Ich glaube nicht, dass er zu Putins Lebzeiten freikommt. Wir sehen keine Verhandlungen wie im Fall Chodorkowski. Damals war Genscher persönlich an den Verhandlungen beteiligt. Jetzt ist Krieg. Außerdem würde Alexej wahrscheinlich einem Austausch ohnehin nicht zustimmen. Mehr noch, ich glaube, es gab einen Befehl, Nawalny zu töten“, ist Olga überzeugt.

Die ewige Frage ist, ob die russische Opposition vor Ausbruch des Krieges etwas hätte bewirken können, macht Olga Romanowa nachdenklich. „Wenn wir damals, 2011, den Kreml gestürmt hätten, hätten wir dann unsere Kinder mitnehmen dürfen? Ich habe kein Mitleid mit uns selbst, aber die Kinder hätten sterben können. Die Verantwortung für Kinder zu tragen … Das ist unmöglich. Wenn nur ein Kind stirbt, sind deine Hände voller Blut. Damals gab es noch Illusionen über den Erfolg unseres Widerstandes, 2011 sprach sogar Alexej Kudrin auf den Demonstrationen. Ich bin keine Politikerin. Ein Politiker ist jemand, der die Verantwortung für solche Entscheidungen übernimmt.“

Wie sieht sie die Zukunft Russlands nach dem Krieg? „Ich bin sicher, dass wir uns alle am Wiederaufbau der Ukraine beteiligen werden. Und es wird ein Land sein, das alle beneiden werden, sowohl was das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung, die Offenheit der Wahlen als auch die Bekämpfung der Korruption betrifft. Ich kenne viele ukrainische Flüchtlinge. Wie sehr sie sich nach Hause sehnen, wie sehr sie sich darauf freuen, in ihr Land zurückzukehren. Wie sehr würde ich mich wie sie darauf freuen, in meine Heimat zurückzukehren! Aber Russland hat mich rausgeworfen. Und alles ist anders geworden. Wissen Sie, es ist wie in einem Horrorfilm, wo die Mutter zum Zombie wird… Es ist besser, nicht zu ihr zurückzukehren. Ich glaube nicht, dass ich eine gute Zukunft für Russland noch erleben darf. Ich fürchte, dass mein Land noch lange Zeit durch eine große Mauer von der Welt abgeschnitten sein wird“.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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