Russische Dichter, Komponisten, Musiker und Künstler in der Emigration

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Ohne die vielen russischen Dichter, Komponisten, Musiker und Künstler aus dem 18. und 19. Jahrhundert ist die europäische und besonders die deutsche Kultur nicht denkbar – und selbst danach, zu Beginn bis in die Mitte des 20., haben die verschiedenen Emigrantenwellen ungeheuer befruchtend auf unser Geistesleben gewirkt, –  wieweit das auch für die neueren Wellen gilt, wird man erst rückblickend sagen können.

In Russland waren Politik und Literatur schon immer eng miteinander verquickt; Dichter waren weit mehr als im Westen das soziale Gewissen der Nation. Schon Puschkin, der für den Beginn der russischen Literatur steht, musste leidvolle Erfahrungen hinnehmen. Es gab aber auch niemanden sonst, der diese Aufgabe in diesem absolutistischen Staat hätte erfüllen können. Ganz offensichtlich wurde dies bei den Revolutionären Majakowski, Fürst Kropotkin, Gorki (der differenzierter zu beurteilen ist) und vielen mehr. Viele Dichter gingen, auch ohne Revolutionär geworden zu sein, in die Verbannung nach Sibirien oder wurden günstigsten Falls aus den Metropolen und damit aus der Gesellschaft verbannt.

Das heißt, Politik ist in Russland (bis heute) aus der Literatur nicht weg zu denken.

Als nolens-volens Angehöriger der 68er Generation stehen mir bestimmte Schriftsteller näher als andere. Es sind dies die Schriftsteller, Musiker und Künstler der vier Emigrantenwellen.

Wir assoziieren heute (meist unbewusst) mit Emigranten: Wirtschaftsflüchtling, kostet uns Geld, ist anders, fremd, vielleicht Feind – heute gar potentieller Terrorist –, stört ganz allgemein unsere Ruhe. Dass auch Menschen aus Angst um Leib und Leben flüchten, akzeptieren wir zwar, sind jedoch unbesehen der Meinung, dass diese weit in der Minderzahl sind. Was Emigration für den Einzelnen jedoch bedeutet, versuchen wir selten nachzuvollziehen.

Russen bedeutet die Verwurzelung in ihr Land, ihre Erde („Mütterchen Russland“) sehr viel mehr als anderen Völkern, selbst wenn diese eine starke Bindung an ihre Heimat haben. Ein Russe fern seiner Heimat ist wie ein aufs Trockene geratener Fisch. Emigration ist daher das schlimmste Schicksal.

Und die russischen Emigranten damals mussten um Leib und Leben fürchten.

Viele von Ihnen verstanden sich ursprünglich gar nicht als Emigranten, denn sie wollten wieder zurück in „ihr“ Russland – weshalb die Begriffsbestimmung „Emigrant“ manchmal schwierig ist und man von unterschiedlich vielen Emigranten-Generationen spricht.

In der ersten Emigrantenwelle waren die um die Jahrhundertwende und kurz danach vor dem Zaren Geflohenen – das waren Antimonarchisten, Sozialdemokraten und Revolutionäre, Schriftsteller und Künstler.

Beispiele: Gorki (1906), Lenin (1900), Kandinsky (1897), Werefkin und Jawlenski (1896), Ilja Ehrenburg (1908), Sergej Diaghilew (1914) und viele andere. Ein Teil von ihnen kehrte nach der Revolution (gemeint ist immer die Oktober-Revolution 1917) wieder nach Russland zurück, einige flohen dann erneut vor den Bolschewiken.

Die zweite Generation flüchtete aus Russland einige Jahre vor der Oktoberrevolution; dies waren Adelige, hohe Beamte und Militärs des Zaren, Gutsbesitzer, Monarchisten; für manche war es nur ein Umzug an ihren Zweitwohnsitz in Berlin, Paris, Nizza oder andere Kurorte.

In der dritten Welle vor und nach der Machtübernahme der Bolschewiki – sehr viele flohen um das Jahr 1922 – waren die schon einmal geflohenen Sozialdemokraten (die Menschewiki), die Offiziere der Weißen Armee, die mit Unterstützung des Westens gegen die Rote Armee gekämpft hatten, und wieder Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler.

Einige Namen: Gorki (1921 zum zweiten Mal – auf „freundliches“ Betreiben Lenins), der weißrussische General Denikin (1920), Ilja Ehrenburg (1921 zum zweiten Mal), Nikolai Berdiajew (1922), der Menschewikiführer Martow (1920), Lydja Cederbaum (1922), Nina Berberowa (1922), Wladimir Nabokov (1919), der von Lenin gestürzte Ministerpräsident Russlands Kerenski (1918), Sergej Prokofieff (1919), der weltberühmte Sänger Fjodor Schaljapin (1922), Boris Saizew (1922), das Schriftstellerehepaar Sinaida Hippius und Dmitri Mereschkowski (1919), Sergej Bulgakow (1922), Maria Zwetajewa (1922), Iwan Bunin (1922), der Jugendfreund von Lenin Nikolai Wolski (1928) und, und, und – die Liste ergäbe ein Buch.

Zur letzten Generation gehören dann alle, die vor Stalin und allgemein vor dem Sowjetregime bis in die 60er und 70er Jahre geflohen sind (was dann nicht immer leicht war), die Ausgewiesenen und die Ausgebürgerten und die „displaced persons“ (das waren die während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland verschleppten Arbeitssklaven und von der Wehrmacht Gefangene, die sich vor der Rückführung durch die Amerikaner verstecken konnten, denn ihnen war Stalins Verurteilung aller Gefangenen und Verschleppten als Feiglinge, Deserteure und Spione bekannt geworden).

Beispiele: Der durch einen Prozess berühmt gewordene hohe sowjetische Funktionär Wiktor Krawtschenko (1944), Jewgeni Samjatin (1932 sogar mit Erlaubnis Stalins), Iwan Jelagin (1940) und viele tausend Unbekannte.

Am Ende dieser Wellen war Russland kulturell ausgeblutet.

Bevorzugtes Ziel der Emigranten war Berlin (nur bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges) und Paris.

Das Kulturleben Berlins erlebte durch die Emigranten geradezu eine Blütezeit – ein spannendes, aber eigenes Thema –, hier traf sich alles was Rang und Namen hatte in Literatur, Musik und Malerei; aber auch ehemalige Adelige, reiche mit viel Geld, aber auch solche, die sich jetzt als Taxichauffeur, Kellner oder sonstwie durchs Leben schlugen. Es waren derer soviel, dass es in vielen Gebieten Berlins schwer war überhaupt ein deutsches Wort zu hören (wie sich die Zeiten doch gleichen!).

Eine sehr gute Beschreibung dieser Zeit liefert Karl Schlögel mit »Berlin Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in diesem Jahrhundert«.

Paris stand Berlin nicht viel nach, wurde aber erst mit Beginn der NS-Zeit die Welthauptstadt der Emigranten. Durch die Besetzung Frankreichs und die Vichy-Regierung nahm aber auch dies ein abruptes und schmerzvolles Ende, es folgte – so sollte man glauben – die letzte Emigrationswelle in die USA.

Weit gefehlt!

Nach dem Krieg war die französische Regierung stark kommunistisch geprägt (ein Drittel der Franzosen stimmten für die kommunistische Partei) und außerdem war sie extrem sowjetfreundlich – man denke nur an die Schriftsteller und Philosophen, die ihren Kotau vor Stalin machten.

Die sowjetische Regierung (sprich Stalin) stellte Auslieferungsanträge („Repatriierung“ war das Losungswort), und die französische Regierung schickte Emigranten eifrig zurück ins „gelobte“ Land, wo sie dann ins Jenseits oder den Gulag befördert wurden. Frankreich wollte mit den Exilrussen nichts zu tun haben, wies sie außer Landes und war froh, dass viele schnellstmöglich freiwillig sich auf und davon machten – wohin? Es blieb nur noch die USA, manche flohen nach Lateinamerika.

Literatur (Literatur-, Kultur- und Geschichte) – eine kleine Auswahl:
Berberowa, Nina: Ich komme aus St. Petersburg. Autobiographie
Figes, Orlando:  Die Tragödie eines Volkes Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1917
Figes, Orlando:  Nataschas Tanz Eine Kulturgeschichte Russland
Hosking, Geoffrey:  Russland Nation und Imperium 1552 – 1917
Ingold, Felix Philipp:  Der grosse Bruch Russland im Epochenjahr 1913
Ingold, Felix Philipp: Russische Wege Geschichte, Kultur, Weltbild
Jakowlew, Alexander:  Die Abgründe meines Jahrhunderts Eine Autobiographie
Jakowlew, Alexander:  Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland
Lauer, Reinhard:  Geschichte der russischen Literatur Von 1700 bis zur Gegenwart
Schlögel, Karl:  Berlin Ostbahnhof Europas (oder neu: Das Russische Berlin)
Schmemann, Serge:  Ein Dorf in Russland Zwei Jahrhunderte russischer Geschichte
Schramm, Godehard: Russland ist mit dem Verstand nicht zu begreifen

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