Rückkehr in ein anderes Land – was bedeutet Udalzows Entlassung aus dem Gefängnis?

Sergej Udalzow, einstiger Chef der „Linken Front“ und einer der wichtigsten Organisatoren der Protestbewegung von 2011-2012, ist wieder auf freiem Fuß. Er kehrt in ein völlig anderes Land zurück, meint die Internetzeitung Gazeta.ru.

„In den vier Jahren, die er hinter Gitter verbracht hat, hat sich Russland grundlegend verändert. Udalzow könnte jetzt angeboten werden, neue Rollen auszuprobieren. Darunter als neuer Leader der außerhalb des Systems stehenden Opposition und Konkurrent für Alexej Nawalny. Aber die Praxis zeigt, dass solche Schemata schlecht funktionieren.

Es ist schwer, nicht zu erkennen, welche Symbolkraft die Tatsache hatte, dass Udalzow genau an dem Tag aus dem Gefängnis entlassen wurde, als die Gerichtsverhandlungen gegen Alexej Uljukajew, den ehemaligen Minister für Wirtschaftsentwicklung, aufgenommen wurden. Eine politische Epoche übergibt der anderen den Knast-Staffelstab – der Linke dem Liberalen. Der Revolutionär dem Beamten.

Udalzow geriet im Sommer 2013 hinter Gitter, noch bevor Russland die Krim angliederte, im Osten der Ukraine Krieg ausbrach und der Westen umfangreiche antirussische Wirtschaftssanktionen verhängte. Der einstige Anführer der „Linken Front“ bekam es mit der Staatsgewalt in einer Zeit des Umbruchs zu tun, als der Kreml sich bereits die konservative antiwestliche Wende auf die Fahnen geschrieben, ihr aber noch keine Massenunterstützung gesichert hatte.

Udalzows Verhaftung erschien in dem Moment als besonders schmerzhafter Schlag gegen die Anführer des Straßenprotests. Aber nur ein Jahr später, im Sommer 2014, blieb der Urteilsspruch gegen ihn fast unbemerkt. Auf dem Höhepunkt der Kämpfe um Donezk war bereits endgültig klar, dass die militärische die politische Tagesordnung in den Schatten gestellt hatte.

Der Ex-Chef der „Linken Front“ kehrt in einem anderen Land in die Freiheit zurück. Im früheren Russland erschien die Inhaftierung eines hochgestellten föderalen Beamten, ganz zu schweigen von einem Gouverneur, als etwas Exorbitantes. Damals war zum Beispiel die Gefängnisstrafe für den Oligarchen Michail Chodorkowski fast so etwas wie das Ereignis eines ganzen Jahrzehnts. Selbst die „Bolotnaja-Affäre“, deren Kulmination der Strafprozess gegen Udalzow war, schockierte durch die ungewöhnliche Grausamkeit bei der Verfolgung der Oppositionellen.

Über reelle Strafen für das Teilen von Beiträgen und Likes machte sich damals wohl niemand ernsthafte Gedanken.

Heute kann man das anspruchsvolle russische Publikum kaum mehr mit einem Verfahren gegen einen Minister verblüffen. Auf jeden Fall verschwand die Sache mit Uljukajew nur etwas langsamer von den Titelseiten, als sie dort aufgetaucht war. Innerhalb weniger Jahre ist es zu einer Brutalisierung der Politik gekommen. Es gab einen Mord an den Kremlmauern, die Richter richten ihren Blick jetzt nicht mehr nur auf einfache Bürger, sondern auch auf höchstgestellte politische Figuren. Der Sicherheitsblock der russischen Führung nimmt fast mehr Einfluss auf den gesetzgeberischen Prozess als Berater und Minister.

Vielleicht ist dabei das Erstaunlichste, dass der politische Prozess selbst in Russland nicht stehengeblieben und in mancher Hinsicht sogar stürmischer geworden ist.

Die ursprüngliche Erstarrung, hervorgerufen durch die harte politische Wende, wurde bei den oppositionell gestimmten Gruppen von einem neuen Ausbruch an Verärgerung und Aktivität abgelöst, der sich in den Antikorruptions-„Spaziergängen“ am 26. März und am 12. Juni Bahn brach. Bei der loyalen Mehrheit, die die Angliederung der Krim mit Enthusiasmus begrüßt hatte, hat der Aufschwung wiederum der früheren Apathie nach dem Prinzip „Dass es nur nicht schlechter wird“ Platz gemacht.

Wie sich herausgestellt hat, läuft die Gewöhnung an die Gewaltkomponente der Politik sehr viel schneller, als man sich das hätte vorstellen können. Das Gefängnis bleibt zweifellos die allerschwerste Prüfung, aber dessen ungeachtet wird es für manchen sogar zu einer Art Werbeaktion und zum Beginn einer eigentümlichen öffentlichen Karriere.

Aber die Hauptsache: Es drückt dem Menschen keinen Stempel auf. Hier kann man lange über das tief in der russischen Mentalität verwurzelte Mitgefühl oder sogar die Achtung für die spekulieren, die sitzen müssen: „Wer nicht im Gefängnis war, hat das halbe Leben nicht gesehen.“ Aber es liegt wohl eher daran, wie wenige Leute daran glauben, dass die spektakulären Verurteilungen dieser ganzen Jahre einen politischen Hintergrund haben.

Das bedeutet nicht, dass die Menschen denken, es gebe keinen Grund für die Haft. Das bedeutet, dass sie davon überzeugt sind, dass jemand nicht für das sitzt, wofür er verurteilt wurde.

Aber nichts desto trotz verspricht diese Situation an sich Udalzow keine großen Vorteile. Als er verurteilt wurde, gab es nicht wenige Spekulationen zum Thema, dass die Staatsmacht damit das politische Terrain für Nawalny säubert, der ihr genehmer war. Jetzt wird vom Gegenteil gesprochen. In etwa so: Udalzow wird dem über die Maßen erstarkten Kämpfer gegen die Korruption entgegengestellt. Das umso mehr, weil er durchaus in den „Krim-Konsens“ passen könnte: Gleich nach seiner Entlassung erklärte Udalzow, er unterstütze die Angliederung der Halbinsel.

Tatsächlich gibt es in der russischen Politik viele verborgene Mechanismen, von denen wir möglicherweise niemals erfahren werden. Aber ausgerechnet Geschichten dieser Art zeigen ganz klar auf, dass sie sich nicht nach den Szenarien von angeblichen oder realen Drahtziehern entwickelt. Die Instrumente erwerben sehr schnell einen eigenen Willen.

Politiker, die Gefängnisstrafen hinter sich haben, kehren selten auf führende Positionen zurück – offensichtlich wird das am Beispiel eben jenes Chodorkowski. Wer gesessen hat, hat vielleicht das Mitgefühl auf seiner Seite, wird aber nicht besonders herzlich aufgenommen – die postsowjetischen Russen mögen keine „Versager“ und vergessen leicht die Helden von gestern. Das Beispiel von Udalzow, der die Haft durchgemacht, aber seinen Willen zum Kampf behalten hat, möge von Bedeutung sein, aber wahrscheinlich nur für die Mitstreiter in der oppositionellen Bewegung.“

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