Reise nach Belarus – Tschernobyl ist überall

12 junge Leute aus Hannover sind nach Belarus gereist. Ihr Thema: Mehr erfahren über die Folgen der Tschernobylkatastrophe von vor 25 Jahren. Ihr Partner vor Ort ist das Unabhängige Institut für Strahlensicherheit in Minsk.
Hier ein paar Impressionen der insgesamt 10-tägigen Reise.

Radioaktive Osternacht

Gomel, rund 500.000 Einwohner, ca. 120 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Was für eine schöne Stadt, gerade jetzt Ende April, wo der Frühling beginnt. Wir gehen zur Osternacht in die orthodoxe Kirche. Das Gedränge ist groß und alles sehr feierlich.
Rund um die Kathedrale herum sind kniehohe längliche Tische aufgebaut, darauf liegen Speisen, Osterkuchen, bunt gefärbte Eier und anderes. Dahinter stehen die Menschen, Alte und Junge, die mit leuchtenden Augen darauf warten, dass ihre Speisen vom Priester gesegnet werden. Ein schönes Bild doch dann der Gedanke.

Vieles von dem, was da liegt, gleich gesegnet und morgen gegessen wird, ist radioaktiv belastet.
Mir kommen die Tränen und mir kommt die Wut.

Heute, fast 25 Jahre nach der Tschernobylkatatrophe steckt die Gefahr tagtäglich vor allem in den Lebensmitteln.
Das Unabhängige Institut für Strahlensicherheit in Minsk ist ständig in den belasteten Gebieten unterwegs., um den Menschen zu erklären, wie sie sich möglichst gesund ernähren können. Sie messen die Körperstrahlung der Kinder und die radioaktive Belastung der Lebensmittel. Dass es auf das eigene Verhalten mit ankommt zeigt, wie unterschiedlich stark radioaktiv belastet die Kinder in ein und demselben Dorf sind. Ein kleiner Hoffnungsschimmer und konkrete Hilfe zur Selbsthilfe. Doch das Institut ist auf die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Näheres dazu unter www.ostwestbrücke.de

Der Zug in die Zone

Langsam rattert der Zug von Minsk aus in Richtung Süden. Es geht nach Gomel. Hier und da ein Dorf, ansonsten Wälder, Moore und Felder. Rund 1,5 Mio. Menschen leben alleine in Belarus auf stark strahlenbelastetem Boden, aber wo? Auf dem Weg nach Gomel und später unterwegs mit dem Kleinbus in die Dörfer fällt uns immer wieder auf, wie dünn besiedelt die Region ist.
Mir kommt in den Sinn, was ich einmal gehört habe. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, ist Deutschland ca. 20 mal dichter besiedelt als die Region Gomel. Wären dann bei einem vergleichbaren Unfall statt 1,5, gleich 30 Mio. Menschen so betroffen, wie sie es hier sind?

Die Geschichte von der Milch aus Nissimkovitchi

Ein kleines Dorf, 140 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Die meisten Menschen hier haben hier ihre eigene Kuh im Stall. Gemeinsam werden diese tagsüber auf eine saftige Weise neben dem Dorf getrieben. Dort fressen sie sich voll, abends gibt es Milch. Eine gute Sache, denn die Leute im Ort verdienen hier nur sehr wenig Geld.

Mitarbeiter vom Institut für Strahlensicherheit aus Minsk stellten bei einem Besuch im Dorf fest, dass gerade die Milch stark belastet ist. Nun ist klar, warum die Kinder hier so hoch verstrahlt sind. Es wird weiter gemessen. Eine kleine Überraschung. Die Milch der örtlichen Kolchose, auf der die meisten aus dem Dorf arbeiten, ist wesentlich weniger mit Cäsium 137 belastet. Die Kühe stehen auch auf einer anderen Wiese.

Es wird verhandelt, die Dorfbewohner bekommen eine andere Wiese, nicht weit entfernt von der alten. Die Strahlung ist dort wesentlich geringer, wie Messungen ergeben. Die Milch ist fast sauber.

Äpfel gegen Strahlung

Wir sind zu Gast im Unabhängigen Institut für Strahlensicherheit in Minsk. Kaum jemand weiß so gut bescheid über die Strahlenbelastung in den Dörfern, wie die Leute hier im Institut, bei deren Gründung Andrej Sacharov und Anatolij Karpov mitgewirkt haben. Ständig sind die Mitarbeiter unterwegs in den Gegenden, die noch immer 25 Jahre nach dem Tschernobylfallout belastet sind.

Für uns ist Radioaktivität etwas sehr Unheimliches. Trifft sie einen sind wir ihre Geisel.
Um so überraschender war es für uns zu erfahren, das Äpfel gegen Strahlung helfen können, genauer gesagt das aus Äpfeln gewonnene Pektin. Angereichert mit Vitaminen lässt das Institut aus ihm Tabletten herstellen. Vitapekt nennt sich das Produkt, dass die Menschen vor der Cäsium-Strahlung schützt. Wir schauen etwas ungläubig, aber die Erklärung ist einleuchtend. Ein großer Teil der Cäsium-Belastung gelangt durch die Nahrung in den Körper. Durch die Magenwand verteilt sie sich. Das Pektin bindet das Cäsium an sich. Dadurch wird es zu groß und passt nicht mehr durch die Magenwand. Statt dessen wird ein großer Teil davon gemeinsam mit dem Pektin durch die Toilette wieder ausgeschieden. Rund 70 Euro kostet die Pektinkur pro Jahr, wie wir erfahren. Enthalten sind im Preis auch zwei Messungen den Strahlenbelastung, um so fest zu stellen, ob das Vitapekt auch regelmäßig genommen wird.
Rund 340 Paten gibt es in Deutschland bereits die genau so vielen Kindern diese Kur finanzieren.
Ein gemeinsames Projekt mit dem Kernforschungszentrum Jülich hat bestätigt, es funktioniert gut, Nebenwirkungen gibt es keine.

Verlorene Heimat

So langsam begreife ich, dass Heimat für die Menschen hier in Belarus etwas anderes ist als, als für viele bei uns in Deutschland.
Sie hängen an ihren Häusern und vor allem an ihren Gärten, der Erde, den Wäldern und den Gräbern ihrer Vorfahren.
Darum wollten auch viele nicht weg aus ihren Dörfern. Darum wurden viele ihrer Häuser eingebuddelt. Neben dem Haus wurde ein Loch gebuddelt, dann wurde das Haus mit einem Bulldozer hineingeschoben.
Manche Alte aber sind in ihre Dörfer zurück, schließlich wurden ja nicht alle Häuser eingegraben.

Fünf von ihnen haben wir besucht. Sie sagen, sie wollen hier sterben und begraben werden, dort wo auch ihre Eltern schon ruhen. Sie wollen hier vor ihrer Beerdigung auf ihre Tür gelegt werden, so wie es alter Brauch ist. Aber wer hängt die Tür aus. Wer hält die Totenwache, sitzt um sie herum und gedenkt ihrer?
Doch nicht nur die Alten auch manche Jungen.
Ina erzählt von ihrer Freundin, groß geworden in einem heute verbotenen Dorf. Sie kennt dort jeden Baum, war immer draußen unterwegs. Überall Erinnerungen und Geschichten. Sie musste weg und nun lebt sie in Gomel.
Manchmal packt es sie, im Herbst vor allem, dann schleicht sie sich vorbei an der Kontrollstelle, die Unbefugten das Betreten der Sperrzone verbietet. Und unbefugt ist sie.
Sie geht in ihren Wald, zu ihren Pilzen, die sie sammelt. Sie weiß, dort sind sie besonders stark belastet. Sie sagt, sie kann nicht anders.

Radioaktive Bartrasur

Noch vor der Abfahrt nach Belarus treffen wir einen Liquidator in Hannover, einen von damals rund 800.000 zumeist jungen Männern, die verpflichtet wurden am Reaktor und in der Region zu arbeiten und die Strahlung zu liquidieren. Eine Unterkunft, rund 20 junge Männer. Es gibt eine Routinekontrolle mit dem Strahlenmessgerät. Die Strahlenbelastung ist plötzlich dramatisch hoch. Wo kommt sie her? Es dauert eine Weile, dann ist das Rätsel gelöst. Die Männer hatten von einem Lastwagen den Außenspiegel mitgenommen, um sich besser rasieren zu können.

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