Raissa Gorbatschowa: Verspätete Anerkennung des Volkes

Raissa Gorbatschowa, Gattin des ehemaligen Präsidenten der Ex-UdSSR Michail Gorbatschow, ist am 20. September 1999 in einer Klinik der deutschen Stadt Münster im Alter von 67 Jahren an Blutkrebs gestorben. In ihrem Leben hat sie vieles gekannt – vom weltweiten Ruhm bis hin zur Missgunst von Landsleuten.

Die schwere Krankheit der First Lady der Sowjetunion hatte in der russischen Gesellschaft die besten Erinnerungen an Raissa Gorbatschowa wachgerüttelt. Ende August – Anfang September 1999 berichtete das Fernsehen fast täglich von ihrem Gesundheitszustand. Zeitungsreportagen zeichneten sich durch aufrichtiges Mitgefühl für Raissa Gorbatschowa aus. Die Einwohner Russlands wünschten ihr schnelle Genesung und erwarteten von den deutschen Ärzten ein Wunder. Michail Gorbatschow, der die Hoffnung bis zum letzten Augenblick nicht aufgeben wollte, musste zahlreiche Telefonanrufe wie auch Post ranghoher und einfacher Landsleute, aber auch der führenden Repräsentanten mehrerer Länder und ihren Gattinnen entgegennehmen. Das allgemeine Mitgefühl gab ihm zusätzliche Kräfte. Die russische Gesellschaft zollte nun endlich Tribut für die Gattin des Ex-Präsidenten der früheren Sowjetunion. Diese Gefühle der Achtung und der Liebe hatten zur Sowjetzeit gefehlt. Später werden Bücher über Raissa Gorbatschowa erscheinen, in denen sie als eine der herausragenden Frauen des Jahrhunderts lobgepriesen wird. Gedreht werden Dokumentarfilme über ihr Schicksal. Ihre Klugheit, ihr Charakter und ihr Wille nach Sieg werden dann gebührend bewertet.

Die Einstellung Raissa Gorbatschowa gegenüber war in der UdSSR nicht einfach gewesen. Böse Zungen behaupteten, dass der damalige UdSSR-Präsident die meisten staatlichen Entscheidungen nicht alleine, sondern gemeinsam mit seiner Gattin getroffen habe. Übrigens machte Gorbatschow keinen Hehl daraus, dass Raissa für ihn ein regelrechter Freund und Hauptratgeberin war. Raissa wurde die Schuld für alle Fehler und Fehlkalkulationen der Perestroika in die Schuhe geschoben. Auf der Straße wurde sie abwertend „Rajka“ genannt.

Bis zur letzten Minute blieben die Beziehungen der Gorbatschows ideal-romantisch, was neidisch machte. Eine beliebige Party ging mit Anekdoten über das ranghohe Ehepaar zu Ende, in denen das Verhalten gegenüber dem sowjetischen Präsidenten eher durch Mitgefühl und gegenüber seiner Gattin durch Sarkasmus gekennzeichnet war.

Die Missgönner „revidierten“ Raissa Gorbatschowas Lebenslauf. Sie weigerten sich, sie als eine Frau aus dem Volk anzuerkennen und schrieben ihr eine Verwandtschaft mit Parteibonzen der Vergangenheit zu. Aschenputtel liebt man normalerweise und man hat Mitgefühl mit ihnen. Aber der Fall des „sowjetischen Aschenputtels“ Raissa Gorbatschowa war ganz anders.

Für das Mädchen aus der kleinen Stadt Rubzowsk in der südsibirischen Region Altai war es ganz und gar nicht so leicht, zuerst „Prinzessin“ und dann „Königin“ zu werden. Ihre erste Leistung war das Studium an der philosophischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität, die zu den besten Hochschulen des Landes zählte. Ihre zweite Leistung war die Heirat mit dem Juristen und künftigen sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow, der ebenfalls die Moskauer Universität absolvierte. Dem Leben im hauptstädtischen Palast gingen allerdings 23 Jahre in Gorbatschows Heimatgebiet Stawropol im Süden Russlands voraus. Dort bekleidete er verantwortungsvolle Parteiposten. Die künftige First Lady der UdSSR begann als Lehrerin in einer Schule und bereitete sich zeitgleich auf die Promovierung vor. Gorbatschow, in den die Partei große Hoffnungen setzte, wurde 1976 nach Moskau beordert. Neun Jahre darauf wurde er zum Generalsekretär des ZK der KPdSU und sie zur „sowjetischen Gattin Nummer eins“.

In diesem Moment wird das Volk stutzig und bekundet offen seine Missgunst gegenüber Raissa. Die First Lady war derart aktiv, selbstsicher, klug und auffallend, dass sie mitunter ihren Mann in den Schatten stellte. Unermüdlich leistete Raissa eine große gesellschaftliche Arbeit: Sie war Mitglied des Präsidiums des Vorstandes des Sowjetischen Kulturfonds und sorgte sich um Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Darauf leitete sie die Vereinigung „Hämatologen der Welt für Kinder“, die Blutkrebskranken half… Überall zeigte sich Raissa Gorbatschow gleichberechtigt mit ihrem Ehemann. „Schuster, bleib‘ bei deinem Leisten“, sagten empörte Missgönner. Während sie sich mit Margaret Thatcher (beinahe Freundin der Familie) wie auch mit anderen führenden Repräsentanten in Europa und Amerika fotografieren ließ und Menschenmengen im Westen „Gorbi“ skandierten, nahm die Zahl der Menschen in der russischen Gesellschaft zu, die mit Raissa Gorbatschowa unzufrieden waren.

Aber sie tat so, als ob sie Neid und Missgunst überhaupt nicht bemerkte. Sie war immer einwandfrei gekleidet – modisch, elegant und mit nicht sowjetischem Schick -, dabei nicht selten sehr markant. Nur wenige in der UdSSR hatten die Möglichkeit, sich so zu kleiden. Sie hatte eine tadellose Frisur, ein Hollywood-Lächeln und wirkte wie eine absolut glückliche Frau – als Gattin, Mutter und Großmutter. Raissa war so markant, dass die First Lady Amerikas Nancy Reagan vor ihrem Hintergrund verblasste und dafür instinktiv mit Antipathie zurückzahlte.

Frau Gorbatschowa fühlte sich als Star. Übrigens, sie war denn auch ein Star, im Unterschied zu den anderen „Kreml-Frauen“, die sich immer im Schatten befanden. Die Landsleute kannten ihre Gesichter überhaupt nicht. Aber Raissas Gesicht lächelte jeden Tag im Fernsehen und in der Aufmachung von Zeitungen. Der Ruhm und die hohe Position spielten mit ihr einen bösen Scherz. „Aschenputtel“ spielte in der Öffentlichkeit zu oft den ersten Part. Ihr Wohlergehen schien übermäßig zu sein.

Das Mitleid des Volkes mit Raissa Gorbatschowa kam erst im August 1991, als sie gemeinsam mit ihrem Ehemann „auf Foros eingekerkert“ war. Die Putschisten versuchten, Gorbatschow als UdSSR-Staatschef abzusetzen. Die Residenz auf der Krim wurde für Gorbatschow für eine gewisse Zeit zum Gefängnis. Raissa hat ihn nicht einmal für eine Minute verlassen. Als treue Gefährtin blieb sie immer neben ihm…

Nach dem Tod der Ehefrau wirkte Michail Gorbatschow viel älter. Seine Trauer und Fassungslosigkeit versuchte er mit gekünstelter Munterheit zu vertuschen. Raissa bedeutete für ihn doch alles. Jetzt, nachdem sie gestorben war, blickte das Volk nun endlich objektiv auf sie. Möge die Einstellung zu Raissa Gorbatschowa vor dem Unglück auch unterschiedlich gewesen sein, nach ihrem Tod jedoch erinnert man sich an sie mit Begeisterung und Herzlichkeit, allerdings etwas verspätet.

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