Pëtr Alekseevič Kropotkin – Fürst und Anarchist – Teil 3

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

In den fünf Jahren nach seiner Flucht, von 1876 bis 1881, lebte er hauptsächlich in Frankreich und der Schweiz. Nach dem Tod Bakunins (1876), den er nie persönlich getroffen hatte, war er das unerklärte Haupt der anarchistischen Bewegung; er hielt agitatorische Vorträge und verstand sich als Propagandist des Anarchismus.

1878 musste er aufgrund dieser Aktivitäten aus Frankreich in die Schweiz fliehen; dort wurde er 1881, nach der Ermordung Alexanders II., auf Druck der russischen Regierung ausgewiesen und ging über London zurück nach Frankreich. Frankreich aber hätte er besser meiden sollen, denn prompt wurden er und weitere Anarchisten 1882 – nach einem Bombenattentat, mit dem sie eigentlich nichts zu tun hatten – wegen Zugehörigkeit zu einer internationalen Arbeiterassoziation verhaftet; Kropotkin wurde 1883 zur Höchststrafe von fünf Jahren Haft verurteilt, was in ganz Europa für Empörung sorgte. Nach drei Jahren wurde er dann auch – gegen den Willen Alexanders III, der intervenierte – vorzeitig entlassen. Der ganze Prozess war eigentlich eine Farce, hier wollte der Staat ganz einfach seine Macht gegenüber den Sozialisten demonstrieren. Da Argumente und Fakten fehlten, kam es zu den lächerlichsten Szenen:

Dieser Brief [Kropotkin erklärt darin einem Arbeiter die Grammatik- und Interpunktionsregeln, hmw] wurde vom Ankläger vor Gericht verlesen und verleitete ihn zu einem höchst pathetischen Kommentar. »Meine Herren, Sie haben diesen Brief gehört«, begann er, zum Gerichtshof gewendet, seine Rede. »Sie haben ihn vernommen. Auf den ersten Blick scheint nichts Verfängliches darin zu sein. Er erteilt einem Arbeiter Unterricht in der Grammatik… Aber« … und hier zitterte seine Stimme vor tiefer Erregung – »dies geschah nicht, um einem Arbeiter Kenntnisse beizubringen, die er sich in der Schule anzueignen wahrscheinlich aus Faulheit versäumt hatte. Es geschah nicht, um ihn in den Stand zu setzen, sein Brot ehrlich zu verdienen… Nein, meine Herren… er lehrte es ihn nur, um ihn mit Hass gegen unsere erhabenen und herrlichen Einrichtungen zu erfüllen, um ihm nur um so besser das Gift des Anarchismus einzuflößen, um ihn nur zu einem furchtbareren Feinde der Gesellschaft zu machen… Verflucht sei der Tag, an dem Kropotkin seinen Fuß auf Frankreichs Boden gesetzt hat!« rief er mit wunderbarem Pathos.

Wir mussten während der ganzen Rede lachen wie Schuljungen, und die Richter warfen ihm Blicke zu, als wollten sie sagen, er tue in seiner Rolle des Guten zu viel. Er schien aber nichts zu merken und sprach, von seiner Beredsamkeit hingerissen, mit immer theatralischeren Bewegungen und Tönen weiter. Wahrhaftig, er tat sein Bestes, sich eine Belohnung von der russischen Regierung zu verdienen.

In den letzten zehn Kapiteln seiner Memoiren eines Revolutionärs schildert er die Zeit der Agitation, der Verhaftung und des Prozesses, die Zustände im französischen Gefängnis, seine Entlassung 1886 und seine endgültige Übersiedlung nach London. Das letzte Kapitel – es endet 1890 – ist eine Rückschau, Analyse und ein vorsichtiger Blick in die Zukunft des Sozialismus.

In den nachfolgenden 30 Jahren in England (von 1876 bis 1917) kehrte er trotz seiner Beziehungen zur englischen Anarchisten- und Arbeiterbewegung nicht zurück zur Agitation. Stattdessen widmete er sich ganz seiner Arbeit an Publikationen und Vorträgen zur Philosophie und Moral des Anarchismus und zur Soziologie; außerdem veröffentlichte er mehrere populäre naturwissenschaftliche Arbeiten. Sein Leben entsprach dem eines Privatgelehrten.

Noch während seiner Haft hatte sein Freund Élisée Reclus 1885 die Worte eines Rebellen, eine Sammlung von mit Seele geschriebenen Gedanken und Artikeln Kropotkins herausgebracht. In der Zeitschrift The Nineteenth Century erschienen viele seiner Artikel, unter anderem auch Mutual Aid Among Animals, in Buchform später unter dem deutschen Titel Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt erschienen, eine Abrechnung mit Darwin, in deren Verlauf Kropotkin zeigt, dass sich im Kampf ums Überleben immer die Gruppen durchgesetzt haben, in denen Zusammenhalt und gegenseitige Hilfeleistungen zentral waren – ein wesentlicher Grundgedanke des Anarchismus. 1892 erschien die Textsammlung Die Eroberung des Brotes, in der er die Voraussetzungen für eine anarchistische Gesellschaft an einigen Grundbedürfnissen für die menschliche Existenz wie Lebensmittel, Wohnen, Kleidung, Arbeit usw. zu klären versucht, 1898 Landwirtschaft, Industrie und Handwerk. In seinem Buch Moderne Wissenschaft und Anarchismus (1913 in deutscher Sprache erschienen; auch: Der Anarchismus) skizziert er die Geschichte der Naturwissenschaften und des anarchistischen Denkens in der Absicht, eine Legimitation des Anarchismus zu erreichen. 1896 bringt Kropotkin Die historische Rolle des Staates und 1913 Der moderne Staat heraus, Werke, in denen er gesellschaftliche Einrichtungen naturwissenschaftlich untersucht, um daraus Schlüsse für seine Auffassung von Anarchismus zu ziehen. Nach seinem Tod erscheint noch das nicht mehr fertig gestellte Werk Ethik. (Alle Veröffentlichungen Kropotkins aufzulisten, ist hier nicht möglich, eine gute Übersicht bietet Heinz Hug in seiner Bibliografie Peter Kropotkin 1842–1921)
Aus den Vorträgen, die Kropotkin auf ausgedehnten Vortragsreisen durch die USA 1897 und 1901 vorstellte, gingen das schon oben erwähnte Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur und die besprochenen Memoiren eines Revolutionärs hervor.

Als einen Bruch in seiner Biografie – ähnlich wie Gorkis „Sündenfall“, als er sich zur Verniedlichung des GULAG hergab – muss man Kropotkins Entscheidung für den Ersten Weltkrieg sehen. Er, der wie seine Freunde und Mitstreiter ein eingeschworener Antimilitarist war – schließlich war der Antimilitarismus auch Grundlage der von ihm formulierten Theorie des Anarchismus –, war plötzlich der Meinung, dass erst nach dem „Endsieg über den germanischen Militarismus“ der Anarchismus Verwirklichung finden könnte. Damit stieß er alle Anarchisten, insbesondere die russischen, vor den Kopf. Sehr schnell fand er sich allein und isoliert.

Zwar wurde er bei seiner Rückkehr nach Petersburg im Jahr 1917 von Zigtausenden triumphal empfangen, bei Lenin und seinen Mitstreitern aber war diese Einstellung ein weiteres Malus, das zu seiner Theorie des Anarchismus, die ja einen Staat wie ihn die Bolschewiki wollten ablehnt, hinzukam. Lenin wollte, gerade um seinen Staat bilden zu können, den Krieg so schnell wie möglich und ohne Rücksicht auf Verluste beenden. Auch die Oktoberrevolution 1917 verurteilte Kropotkin, denn sie sollte zu einer Diktatur führen; und eine Diktatur – egal wer über wen – stand Kropotkins Vorstellungen von einem libertären Kommunismus (Anarchismus) diametral gegenüber.
Aus Krankheitsgründen konnte Kropotkin nicht in Petersburg bleiben und fand sich sehr schnell im kleinen Dorf Dmitrov nahe Moskau wieder. Hier waren ihm seine Abgeschieden- und Ausgeschlossenheit nahezu unerträglich. Zwar wetterte er ähnlich wie Vladimir Korolenko in Briefen an Lenin gegen die unhaltbaren Exzesse der Revolutionäre und 1919 kam es sogar zu einem Treffen in Moskau, aber er war ein Rufer in der Wüste, eine Persona non grata geworden. Dass er in den letzten Jahren an seinem Werk Ethik (1923 unter dem Titel Ethik. Erster Band: Ursprung und Entwicklung der Sittlichkeit im Berliner Verlag »Der Syndikalist« erschienen) arbeitete, war sicher die Folge dieser Ereignisse.

Am 8. Februar 1921 starb Kropotkin an den Folgen einer Lungenentzündung, nachdem er schon durch Nahrungsmangel geschwächt war.

Trauerzug bei Kropotkins Begräbnis

Trauerzug bei Kropotkins Begräbnis

Die Konfrontation mit Lenin und seinen Revolutionären hatte dazu geführt, dass sein Ansehen auch bei den russischen Anarchisten in seinen letzten Lebensjahren wieder gestiegen war, und so kam es, dass bei seiner Beerdigung nahezu hunderttausend Menschen und ein Meer von schwarzen Fahnen dem Sarg folgten. Das Ansehen Kropotkins in der Bevölkerung war so groß, dass Lenin einigen Quellen zufolge sogar allen gefangenen Anarchisten für den Tag der Beerdigung „Urlaub“ aus den Gefängnissen geben musste.

Pëtr Alexeevič Kropotkin ist ohne Zweifel eine ganz große Persönlichkeit aus und für Russland und ein wichtiger Theoretiker des Sozialismus. Sein Konzept des Anarchismus ist ganz sicher nicht eins zu eins umsetzbar und schon gar nicht in die heutige Zeit übertragbar, es gilt jedoch, vielleicht mehr denn je, seine Vorstellungen von einer gerechten Welt neu zu durchdenken. Um dabei zu positiven Ergebnissen zu kommen, müssen lieb gewordene oder einfach nur eingefahrene Verhaltensweisen hinterfragt werden – und das tut bekanntlich weh.

Literatur
Die Zitate stammen, sofern nicht anders angegeben, aus:
Memoiren eines Revolutionärs (Insel Verlag, 1969; autorisierte Übersetzung von Max Pannwitz, um 1900)
Im Jahr 2002 sind die Memoiren im Unrast Verlag in 2 Bänden von Heiner Becker und Nicolas Walter neu übersetzt herausgegeben worden. Die Übersetzung ist ganz unwesentlich modernisiert; ausgezeichnet ist die Einleitung, die ein sehr gutes Bild von Kropotkin und seinen Memoiren zeichnet, und geradezu hervorragend und ausführlich sind die Fußnoten zum Text, die ganz wesentlich zum Verständnis beitragen.

Weitere Werke von Pëtr Alekseevič Kropotkin (Auswahl):
Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur (Diogenes Verlag, 2003; herausgegeben und kommentiert von Peter Urban)
Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (Ullstein Verlag, 1975; englisches Original 1902: »Mutual Aid. A Faktor of Evolution«)
Moderne Wissenschaft und Anarchismus (1978)
Der Anarchismus – Ursprung Ideal und Philosophie (Trotzdem Verlagsgenossenschaft, 2002; Neuübersetzung aus dem Französischen von Heinz Hug)
Die Eroberung des Brotes (Edition Anares und Trotzdem Verlag, 1999; französisches Original »La Conquête du Pain« 1892, deutsche Fassung 1919 im Verlag »Der Syndikalist«, neu herausgegeben von Heinz Hug)
Der Staat und seine historische Rolle, neu herausgegeben im Unrast Verlag 2008. Es enthält Kropotkins Schriften Die historische Rolle des Staates (1896) und Der moderne Staat (1913) mit einer sehr guten Einleitung von Teo Panther
Ich danke dem Unrast Verlag für seine wohlwollende Unterstützung.

Sekundärliteratur
Alphons Thun: Die Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland
(1883) ist ein hervorragendes Werk zum Verständnis der Revolutionen in Russland und zur Entwicklung des Sozialismus allgemein.

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