Peskow attestiert Nawalny Größen- und Verfolgungswahn – sich selbst auch?

Peskow attestiert Nawalny Größen- und Verfolgungswahn – sich selbst auch?

Dmitri Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten, bescheinigte Oppositionsführer   Größenwahn und Verfolgungswahn, sowie eine „Fixierung auf seinen eigenen Unterleib“. Ihm zufolge versuche Nawalny mit seinem Video über sein Telefonat mit einem der mutmaßlichen Giftmischer den FSB zu diskreditieren. Darüber hinaus kann niemand eindeutig von einer Vergiftung sprechen, da die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) keine Informationen zur Verfügung gestellt habe, so der Kreml-Sprecher.

„Ich werde die Situation wahrscheinlich ein wenig zweckentfremden und mir erlauben, meinen persönlichen Standpunkt auszudrücken, den ich normalerweise nicht äußere, weil ich da dazu nicht berechtigt bin. Im Allgemeinen kann man sagen, dass der Patient einen ausgeprägten Verfolgungswahn hat. Auch ein gewisser Ausdruck von Größenwahn ist deutlich erkennbar, denn er vergleicht sich, wie man sagt, sogar mit Jesus. Und da Nawalny derart von seinem „Genitalbereich und so weiter“ besessen sei, handele es sich frei nach Sigmund Freud um einen Fall für die Psychoanalyse“, teilte Peskow während einer Pressekonferenz mit.

Der Journalist Michail Schewtschuk stellt sich in der renommierten russischen Zeitung Republic die Frage, ob Peskow, sich mit einem Psychiater vergleichend, nicht selbst an „einer Art Manie“ leidet oder ob er einer alten Praxis russischer Behörden folgt, politisch unzuverlässige Mitbürger für verrückt zu erklären. Dies begann am Ende der Regierungszeit des letzten russischen Zaren, und was die Psychiatrie der Sowjetunion von Dissens und Protestbereitschaft hielt, sei hinlänglich bekannt. „Dissens galt als eine Form von Geistesstörung“ und Menschenrechte auf der Straße zu verteidigen als „Paranoia“. Schewtschuk räumt ein, dass eine offizielle Einstufung von Alexej Nawalny als unzurechnungsfähig noch in weiter Ferne liegt, hegt aber keinen Zweifel, dass „die Diagnose bei Bedarf in irgendeiner Weise schnell und klar gestellt wird“. Bisher handele es sich lediglich um einen Diskreditierungsversuch.

Dem Oppositionellen eine Manie unterzuschieben und ihn in ständiger Manie als Werkzeug „einer antirussischen Verschwörung ausländischer Geheimdienste“ zu bezeichnen, hält Schewtschuk für ein äußerst alarmierendes Symptom: „Der Ankläger selbst sieht aus wie derjenige, der unter Größen- und Verfolgungswahn leidet. Die monotone Beharrlichkeit, mit der Wladimir Putin und sein Gefolge die Idee einer amerikanischen Verschwörung propagieren, ohne sie in irgendeiner Weise zu belegen, mit nichts als dem Schwur „Das ist wahr, das versichere ich Ihnen“, scheint tatsächlich selbst ein Ausdruck von Verfolgungswahn und gleichzeitig Größenwahn zu sein.

Ein noch anschaulicheres Beispiel für eine Manie sieht Schewtschuk in den Aussagen des FSB, der die veröffentlichte Aufzeichnung des Gesprächs für „eine Fälschung“ hält. Die Pressestelle des FSB kam zu folgendem Schluss: „Die Verwendung der Methode zum Ersetzen der Nummer eines Teilnehmers ist eine bekannte Technik ausländischer Geheimdienste. […] Die Durchführung der geplanten Provokation wäre ohne die organisatorische und technische Unterstützung ausländischer Spezialdienste nicht möglich gewesen“.

Ein Anruf mit Rufnummernunterdrückung [Caller-ID-Spoofing] sowie der Zugriff auf Datenbanken ist heute selbst für Normalsterbliche nicht unerschwinglich, wenn das Geld dafür vorhanden ist. Aber der FSB weigert sich, dies zu glauben, und „zieht es vor, so zu tun, als sei Technologie immer noch ein Privileg der Geheimdienstkaste“ und ihr Einsatz einen „mächtigen Feind“ verraten würde. Der Versuch, den „Mythos der einzigartigen Allmacht der Geheimdienste aufrechtzuerhalten, ist ebenfalls eine Manifestation von Größenwahn, wenn auch in diesem Fall komisch“.

Die russischen Behörden demonstrieren schon seit geraumer Zeit ihr „manisches Vertrauen in die eigene Richtigkeit, Exklusivität, ja Auserwähltsein“. Ohne ein Psychiater zu sein könnte man das „als politischen Narzissmus bezeichnen, aber in seiner radikalen Form ist es auch eine Art Störung, die mit einem Mangel an Empathie einhergeht“. Diese psychologischen Merkmale Eigenschaften ließen sich auch auf Nawalny projizieren. Wer sich derart mit der Macht anlegt, muss narzisstische Züge tragen und in seiner natürlichen Angst um sein Leben gestört sein. Aber damit hat der persönliche Standpunkt des Kremlsprechers den „Berliner Patienten“ endgültig zum ebenbürtigen Rivalen des russischen Präsidenten erhoben. Um diesem Eindruck keine weitere Nahrung zu geben, versicherte Peskow vor der Presse, der Kreml habe dieses Video nicht gesehen, da es in der Präsidialverwaltung genügend andere Arbeiten gibt.

Peskow wies erneut darauf hin, dass der Kreml noch nicht über ausreichende Daten verfüge, um sicher über die Vergiftung des Oppositionsführers mit Sicherheit sprechen zu können. „Wir sind leider nicht in der Lage, die für die Untersuchung erforderlichen Informationen von unseren Kollegen in Berlin, von den Ärzten der Charité und den Wissenschaftlern, die in den Labors in Berlin, Schweden und Frankreich arbeiten, zu erhalten.“ Ihm zufolge könne Russland auch keine Informationen darüber von der OPCW erhalten.

Für Moskau interessante Details ließen sich in dem jüngst von der Berliner Charité in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichten Bericht über die Behandlung Nawalnys nicht finden. Auf die Frage während einer Pressekonferenz, ob der Kreml sich mit der Veröffentlichung von The Lancet vertraut gemacht habe, antwortete Peskow einsilbig: „Wir lesen keine medizinischen Veröffentlichungen.“ Den Vorschlag eines Journalisten, russische Ärzte zu bitten, dem Kreml eine Analyse der Veröffentlichung vorzulegen, lehnte er ab: „Wir sehen darin keinen Sinn.“

Inzwischen mehren sich einzelne Stimmen in Russland, der Kreml solle auf Grundlage der neuen Medienberichte ein Strafverfahren eröffnen. Zehn Abgeordnete der Opposition im Stadtrat von Nowosibirsk riefen in einem Schreiben an den Vorsitzenden des russischen Untersuchungsausschusses (TFR) Alexander Bastrykin dazu auf, die „mögliche Vergiftung von Nawalny juristisch aufzuarbeiten. Die Verfolgung von Nawalny sei wie bei anderen Oppositionellen „auf politische Motive zurückzuführen“. Dies führe „zu einer Spaltung der Gesellschaft“ und der „Autoritätsverlust des Staates in den Augen der Bürger Russlands untergrabe letztendlich das Vertrauen in alle Machtinstitutionen“, heißt es in dem Gesuch. Ähnliche Appelle wurden bereits von Abgeordneten aus St. Petersburg, der Region Pskow, Karelien und Tomsk an die TFR gerichtet.

Die oppositionelle Anti-Korruptions-Stiftung hatte zusammen mit Bellingcat, The Insider und CNN unter Beteiligung des Spiegel eine Untersuchung veröffentlicht, in der es um die Beteiligung von acht FSB-Mitarbeitern an der mutmaßlichen Vergiftung von Nawalny ging. Anschließend veröffentlichte Nawalny die Aufzeichnung eines Gesprächs mit einer Person, von der er sagte, sie sei ein FSB-Offizier, der an der Vergiftung beteiligt war.

Rund die Hälfte  der Russen glaubt laut einer am Donnerstag veröffentlichten unabhängigen Umfrage, dass westliche Geheimdienste die Vergiftung von Nawalny inszeniert haben oder dass er  überhaupt nicht vergiftet wurde. Fünfzehn Prozent stimmten Nawalnys eigener Einschätzung zu, dass die russischen Behörden hinter der Vergiftung stecken, um „einen politischen Gegner zu eliminieren“.

[hrsg/russland.NEWS]

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