Pavel Ivanovič Melnikov – Chronist der Altgläubigen

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Pavel Melnikov war ganz gewiss kein Systemkritiker geschweige denn ein Revolutionär. Ganz im Gegenteil, er war ein – so würde man heute sagen – regierungstreuer, rechtsliberaler Beamter und er starb – darin sind sich alle Quellen einig – „nach einem ruhigen Lebensabend“ im Bett (und zwar am 1. jul / 13. greg Februar 1883 in Nižni Novgorod).
Seine einzige „Unbotmäßigkeit“ bestand wohl darin, dass er während seines Studiums an einer Studentenfeier teilnahm. Er wurde deswegen nach seiner Promotion für unwürdig gehalten, einen Lehrstuhl für slawische Mundarten zu besetzen.
Aus Melnikovs Leben gibt es ansonsten wenig herausragende Ereignisse zu berichten. Die wenigen, die überliefert sind, sind dazu noch – je nachdem von welch politischer Couleur die Berichterstatter waren – unterschiedlich berichtet und gewichtet worden.

In Nižni Novgorod wurde er am 22. Oktober jul / 3. November greg 1819 geboren. Er stammte aus einer adligen Familie und sein Vater war Polizeikommandant, was wohl letztlich dazu führte, dass Melnikov ein hoher Beamter des Innenministeriums wurde. Nach seinem Studium in Kasan wurde er erst einmal als Lehrer für Geschichte und Statistik ans Gymnasium in Perm und später nach Nižni Novgorod verschickt. 1843 wurde er Beamter für besondere Aufträge im Regierungsdienst beim Gouverneur von Nižni Novgorod und ab 1850 war er dann Beamter im Innenministerium in St. Petersburg.

Schon während seiner Zeit als Lehrer betrieb er nebenher geschichts- und volkskundliche Studien; ganz besonders interessierte ihn die Kirchenspaltung (1662 – 1666) unter dem Patriarchen Nikon und das Leben der Altgläubigen. Folgerichtig kam er auch ins Altgläubigenressort des Innenministeriums, das für die Bekämpfung des Sektenwesens, womit in erster Linie die Altgläubigen gemeint waren, zuständig war. Dieses Ressort war wahrscheinlich so etwas wie eine geheime Spezialpolizei, weshalb Melnikov von manchen auch der Spitzelei beschuldigt wurde.

Wer aber sind die Altgläubigen? »Altgläubige« werden die genannt, die die Liturgiereform unter Nikon (Patriarch von Moskau 1652 – 1666) nicht mitgemacht haben und auf dem Konzil 1666/67 mit dem Kirchenbann belegt wurden; die „offiziellen“ Orthodoxen nennen sich »Rechtgläubige«. Dass die Altgläubigen um ihres Glaubens willen von Staats wegen verfolgt, gejagt und zeitweise auch brutal vernichtet wurden, obwohl sie ebenso orthodoxe Christen waren wie die Rechtgläubigen, nur mit einem geringfügig anderen Ritus, hängt damit zusammen, dass der Kaiser als weltlicher Vertreter Gottes, als Beschützer der Gläubigen angesehen wurde. Die rechtgläubige Orthodoxie war Staatsreligion; und wer das geistliche Oberhaupt, den Patriarchen von Moskau, nicht anerkannte, wandte sich automatisch auch gegen den Kaiser (was die Altgläubigen realiter in keinster Weise taten). Hierin unterscheidet sich das russische Modell ganz wesentlich vom westlichen, denn zwar galt auch für westliche Könige und Kaiser das „Gottesgnadentum“, sie waren jedoch nicht das Oberhaupt der jeweiligen Kirche.

Die Geschichte der Altgläubigen ist ein mitreißendes und aufregendes Kapitel in der an gewaltigen Ereignissen weiß Gott nicht armen Geschichte Russlands. Es ist eine Geschichte von Urchristentum, Märtyrertum, Selbstverbrennungen, gewaltlosem Widerstand – aber auch von Aufständen von Klöstern gegen die Staatsgewalt (Kloster Soloveckij 1668) und kraftvoller Selbstbehauptung auch unter schwierigsten Umständen.

1866 zog Melnikov nach Moskau und hier widersprechen sich die Quellen: Der Schriftsteller, Kritiker und große Übersetzer Johannes von Guenther (1886 – 1973) schreibt, er habe den Dienst quittiert; in der sozialistischen Literaturgeschichte heißt es, er sei zur besonderen Verfügung des Gouverneurs nach Moskau gesandt worden. Was auch immer richtig sein mag, es begann für ihn eine Zeit intensiven Schreibens.

Schon in seiner Nižni Novgoroder Zeit hatte er damit angefangen; er schrieb – wahrscheinlich seiner Stellung als Beamter wegen – unter dem Pseudonym „Pečerskij“ und viele seiner ersten Erzählungen fielen der Zensur zum Opfer. In den Jahren 1857 bis 1859 – also nach dem Tod von Nikolaus I. unter dem damals liberalen Alexander II. – wurde dann eine ganze Reihe von Erzählungen veröffentlicht, darunter Großmutters Erzählungen (auch Großmutters Plaudereien), Pojarkow, Die Namenstagspastete, Der ständige Beisitzer, Ein Bärenlager und Alte Zeiten (auch In alten Zeiten).

In Alte Zeiten erzählt Melnikov vom ausschweifenden und selbstherrlichen Leben des Fürsten Aleksej Jurjevič und davon, wie er letztendlich dann doch zur Rechenschaft gezogen wurde; in Pojarkov erzählt ein geläuterter „Titularrat im Abschied“ von den Schandtaten, die er – wie alle seinesgleichen – in seiner Zeit als Sekretär des Landgerichts, Schriftführer der Stadtverwaltung und Landkommissär begangen hat; in Die Namenstagspastete beschreibt ein Beamter aus St. Petersburg einen liebedienerischen Speichellecker aus der Provinz, den er selbst erlebt hat; Der ständige Beisitzer ist beglückt, dass er die abgelegte (schwangere) Maitresse seines Vorgesetzten, einer Exzellenz, heiraten darf und ahnt, beschränkt wie er ist, nicht einmal, dass die Heirat nur den Zweck hat, dass die Exzellenz weiter die Vorzüge der Maitresse genießen kann; in Großmutters Plaudereien erzählt die fast hundertjährige Großmutter ihrem Enkel von den „guten alten Zeiten“ unter Katharina der Großen (18. Jahrhundert), als eine grausame, gewissenlose Oberschicht glaubte, sich alles erlauben zu können und dabei noch lustig und kokett war.

All diese Erzählungen sind voll von prallem Lebensgefühl, virtuos erzählt – und damit, wie man so sagt, „von hohem Unterhaltungswert“. Sie zeigen aber auch, dass Melnikov durchaus nicht ein so gehorsamer, unkritischer hoher Beamter war, wie es seiner Dienststellung entsprochen hätte. Die Erzählungen sind denen eines Saltykov-Ščedrin, Leskov, ja Čechov durchaus ebenbürtig.

Während seiner Dienstzeit reiste Melnikov viel an die Ufer der Wolga und der Kama, wo viele Altgläubige lebten. Er sollte dort das Leben der Altgläubigen kennenlernen und dienstlich „durchleuchten“, um danach zu berichten und im Sinn seines Herrschers zu handeln. Er begann seine Aufgabe als Feind der Altgläubigen und war bei ihnen gefürchtet. Dies änderte sich jedoch nach und nach, denn er fing an, die Altgläubigen zu verstehen. Er erkannte, dass bei ihnen die positiven Grundzüge des russischen Nationalcharakters unverfälschter erhalten geblieben waren als in anderen Schichten und dass ihnen in Russlands Zukunft eine bedeutende Rolle zukommen würde. 1866 schrieb er: „Die Hauptstütze des zukünftigen Russlands sehe ich (trotz manchen anderen) in den Altgläubigen“. Und damit sollte er recht behalten, denn noch heute ist der russische Nationalcharakter, die russische Mentalität, stark von der Orthodoxie und – besonders in dem Hang, Überliefertes zu bewahren – von den Altgläubigen geprägt (was man wissen muss, wenn man heute manche uns auf den ersten Blick unverständliche Reaktionen „der Russen“ beurteilt).
Aus dem Feind war also ein Freund geworden, jedoch kein unkritischer, eher ein wohlwollender.

Schon 1859 hat sich Melnikov dem Thema Altgläubige dann auch schriftstellerisch zugewandt; in der von ihm redigierten Zeitschrift Russkij dnevnik erschienen unter dem Titel Die Leute jenseits der Uzola sechs Kapitel eines Romans über das Leben der Altgläubigen. 1868 erschien ein zweiter Roman, Jenseits der Wolga, den er in der Zeit von 1871 bis 1874 unter dem Titel In den Wäldern (V lesach) in der Zeitschrift Russkij vestnik fortsetzte. Schließlich fasste er 1875 beide Romane zu einem zusammen und veröffentlichte ihn unter dem Titel In den Wäldern. Gleich anschließend, in den Jahren 1875 bis 1881, schrieb er seinen weiteren großen Roman zu diesem Thema, der leider nie auf Deutsch erschienen ist: In den Bergen (Na gorach). Jeder dieser beiden großen Roman enthält vier Bände; insgesamt umfassen sie in der Originalausgabe 2400 Seiten.

Sein wirklich einzigartiges Wissen über die Altgläubigen hatte Melnikov während seiner Dienstzeit in Aufzeichnungen niedergelegt, die jetzt zur Grundlage für sein schriftstellerisches Arbeiten wurden. Und so ist zu erklären, dass seine Romane zugleich von einzigartiger und unschätzbarer kultur- und religionshistorischer Bedeutung sind; es gibt zu diesem Thema vor und nach ihm auf der Welt nichts von solcher Bedeutung und alle nach ihm beziehen sich auf ihn. Es handelt sich also um kulturhistorische Dokumente von allerhöchstem Rang.

Literarisch gesehen sind diese beiden im doppelten Wortsinn großen realistischen Romane streng genommen ein großes Epos, das man getrost mit den berühmten Romanen Dostoevskijs, Tolstojs, Gončarovs, Turgenevs – also jenen aller Größen seiner Zeit – auf eine Stufe stellen kann; auch der Vergleich mit Thomas Manns Buddenbrooks ist durchaus angebracht.

Die Romane beschreiben das Leben der Altgläubigen in den Jahren 1849 bis 1853 unter Zar Nikolaus I., das – wen nimmt es Wunder, wenn er diesen Namen hört – für sie wieder einmal ein recht unerquickliches war. Der historische Hintergrund: 1849 versuchten die russischen Altgläubigen, Beziehungen zu den nach Österreich geflüchteten Altgläubigen aufzunehmen, denn in Russland gab es keine altgläubigen Bischöfe und damit auch keine Priester, da diese ja von Bischöfen geweiht werden müssen. (Aus diesem Sachverhalt heraus entstand sogar eine bis heute existierende Gruppe der Altgläubigen, die der »Priesterlosen«.) Es gab nur die Priester, die von den Rechtgläubigen zu den Altgläubigen übergewechselt waren: ein gefährliches Unterfangen, denn sie wurden gejagt und hingerichtet. In Österreich wurden die vielen geflüchteten Altgläubigen nicht verfolgt; somit gab es dort auch Bischöfe und man erhoffte sich in Russland Priester von dort.
1853 ließ Nikolaus I. große Klöster der Altgläubigen brutaliter zerstören und die Mönche, soweit man ihrer habhaft werden konnte, hinrichten.

In In den Wäldern beschreibt Melnikov die Altgläubigen realistisch, mit all ihren Stärken und Schwächen, mit ihren Sünden und Tugenden, ihren Gewissensnöten und ihren Mogeleien, um weltliche Wünsche mit geistlichen Regeln in Einklang zu bringen. Man erlebt sie bei ihrem Versuch, sich vor Verfolgungen zu schützen und doch ein normales Leben zu führen. Der Roman enthält fesselnd gezeichnete Charaktere und, wie das Leben, teilweise deftige Handlungen. Den Alltag der Kaufmannschaft, in der es viele und auch sehr berühmt gewordene Altgläubige gab – wie Chludov (altrussische Manuskripte, Rubljovs Ikonen), Tretjakov (Kunstsammlung), Morosov (Textilmanufaktur, Kunstsammlungen), Soldatenkov (Krankenhäuser, Ikonensammlungen), Kuznezov (Porzellanmanufaktur), um nur einige zu nennen –, zeichnet er ebenso differenziert nach wie das Leben in einem altgläubigen Frauenkloster, in dem die Novizinnen den weltlichen Verlockungen durchaus nicht abhold sind und die Äbtissin, um des Erhalts ihres Klosters willen, immer wieder Kompromisse mit ihren „Wohltätern“ – den reichen Spendern aus der Kaufmannschaft – eingehen muss.
Man erkennt, wie stark das weltliche Leben im Allgemeinen und das der Kaufmannschaft im Besonderen mit dem religiösen Leben ganz selbstverständlich verzahnt, ja eins war.

Die von Melnikov geschilderte Welt erscheint uns heute erfundener, ausgedachter als manch ein moderner Science-Fiction-Roman, und doch war sie so real wie heute unser täglicher Bummel durch die Stadt. Von ihr sind unterschiedlich starke Spuren auch im heutigen Russland zu finden und tatsächlich gibt es sie noch in manchen Winkeln Sibiriens – in den Wäldern.

Die 700 Seiten des Romans (in deutscher Ausgabe) schrecken womöglich manchen Leser ab; er fürchtet vielleicht, solch ausgedehnte Lektüre könne ermüden, was jedoch überhaupt nicht der Fall ist: In den Wäldern ist von der ersten bis zur letzten Zeile packend. Melnikov reichert den Handlungsablauf, der hauptsächlich von den beiden Protagonisten, dem sehr reichen patriarchalischen Kaufmann Patap Maksimyč Čapurin und seiner Schwester, der Äbtissin Manefa, bestimmt wird, mit so vielen einzelne Begebenheiten an, dass man immer wieder aufs Neue gefesselt ist. Es ist die herausragende literarische Leistung Melnikovs, viele einzelne Erzählungen nahtlos in ein Gesamtgeschehen einzubinden, ohne dass man das Gefühl bekäme, einzelne Erzählungen zu lesen, wie es bei nicht minder großen Schriftstellern, aber weniger begabten Romanautoren manchmal der Fall ist; und das stellt ihn auf eine Stufe mit z. B. Dostoevskij und vielleicht noch über Tolstoj.

Und jetzt kommt das Erstaunliche: Schon zu seiner Zeit wurde Melnikov kaum gelesen und Anfang des 20. Jahrhunderts war er vollkommen in der Versenkung verschwunden. Es war ausgerechnet der sozialistische Moskauer Staatsverlag für künstlerische Literatur, der Melnikovs Werk mit seiner eindeutig religiösen Thematik 1955 neu herausbrachte – und das in einer gewaltigen Auflage: In den Wäldern mit 300.000 und das unübersetzte In den Bergen gar mit 450.000 Exemplaren! Und wieder einmal ein Glücksfall für die Literatur: In der DDR fühlte man sich als „kleiner Bruder“ selbstverständlich verpflichtet, etwas von Melnikov ins Deutsche zu übersetzen – In den Wäldern gäbe es sonst nicht in deutscher Sprache.

Zu Melnikovs Lebzeiten waren die Werke von kitzeliger Thematik. Bei Schriftstellerkollegen wie Bely, Remisov, und später Gorkij und anderen war er sehr geschätzt, doch der Leser wollte damit wenig zu tun haben, denn es roch verdächtig nach Kritik am Herrschertum. Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts war bei der herrschenden Schicht das mondäne k.u.k.-Leben angesagt, die einen tanzten Walzer, die anderen marschierten; die, die am meisten lasen, waren Frauen, und für die war das Thema uninteressant – Helden waren in der Literatur gefragt.

Die Leser aus anderen Schichten hatten andere Probleme, was interessierten sie die Probleme der Altgläubigen! Und nach der Revolution 1917/18 und erst recht unter Stalin war das Thema verpönt und höchst gefährlich.

Nach Stalins Tod war Kritik an der Religion – am „Opium für das Volk“ – selbstverständlich weiterhin angesagt und anscheinend hatte man Melnikovs Werk etwas oberflächlich gelesen und nur die Schilderung „schlimmer“ Zustände gesehen, und die glaubte man für antireligiöse (und verspätete antizaristische) Propaganda benutzen zu können. Wieder einmal kannten die Herrscher ihre Untertanen schlecht und verrannten sich in ihrer Ideologie.

Dass Melnikov im Westen kein Interesse weckte (ausgenommen bei Johannes von Guenther), ist kaum erstaunlich: Von der russischen Orthodoxie hatte man keine Ahnung und glaubte sie unter dem Kommunismus praktisch verschwunden; das Wort „Altgläubige“ konnte man noch nicht einmal buchstabieren und alle Literatur, die nicht von Dissidenten kam, war uninteressant bis suspekt. Nur die ganz großen Namen hatten Gültigkeit – über die schrieb man sich die Finger wund.

Im Teich der Literatur, dort, wo das Wasser trübe ist, schlummert noch eine Perle. Sie gilt es zu heben. Vielleicht ist das Wasser durch diesen Essay etwas aufgewirbelt und die Perle sichtbar geworden.
Wer will sie herausfischen?

Literatur:
Pavel Melnikov: Die alten Zeiten (1962), herausgegeben von Johannes von Guenther (Marginalien zur russischen Prosa des 19. Jahrhunderts, Die alten Zeiten, Pojarkow, Die Namenstagspastete, Der ständige Beisitzer, Großmutters Plaudereien)
Pavel Iwanowitsch Melnikov: In den Wäldern (2 Bd.)
Peter Hauptmann: Rußlands Altgläubige
Peter Hauptmann: Altrussischer Glaube

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