Odessa: Blutfreitag-Verbrechen ohne Strafe?

Der 2. Mail 2014 mit 48 Todesopfern und über 200 Verletzten ist der südukrainischen Stadt Odessa tief ins Gedächtnis gebrannt und bestimmt bis heute die politische Kultur in der Stadt. Seitdem wagen sich Antimaidaner kaum noch offen in die Stadt, selbst zu Gedenkfeiern an die Opfer. Zusätzlich stockt die Aufarbeitung des Ereignisses, was viele vor Ort mit Wut erfüllt. russland.RU stellt die aktuelle Lage aus örtlichen Berichten zusammen.

So hat sich laut der Odessaner Onlinezeitung Tajmer eine Bürgerintitiative „Gruppe 2. Mai“ unter Beteiligung des örtlich bekannten Journalisten Juri Tkatschow gegründet, die die zähe Arbeit der Euromaidan-geleiteten örtlichen Strafverfolgungsbehörden kritisch begleitet. Die Gruppe teilt die Ereignisse des „Blutfreitags von Odessa“ systematisch in zwei Phasen. Da waren zunächst die Straßenschlachten zwischen beiden Seiten, an deren Eskalation auch beide Anteil hatten und die sechs Todesopfer forderten.

Der Brand – das unterstützte „Unglück“

Da war aber auch zum zweiten der Brand des Gewerkschaftshauses, in das sich die unterlegenen Antimaidaner geflüchtet hatten, bei dem alleine 42 Menschen ums Leben kamen. Hier gibt es die meisten Ungereimtheiten bei der Aufklärung und den meisten Streit. Führende Euromaidaner sprechen hier bis heute von einem „Unglück“ – jedoch gibt es zahlreiche Zeugenaussagen, Film- und Fotoaufnahmen, die ein völlig anderes Bild liefern: Euromaidaner, die mit Gewehren auf das Gewerkschaftshaus schießen, hinter denen untätige Polizisten in Uniform stehen. Schützen, die sogar den Schildwall der Polizei als Deckung nutzen. Molotow-Cocktails, die vor dem Gewerkschaftshaus von Aktivisten hergestellt und hinein geworfen werden, Personen, die am Verlassen des Hauses gewaltsam gehindert werden.

Die Bürgerinitiative glaubt dabei nicht an eine wirkliche Kooperation der Polizeiführung oder aller örtlichen Einsatzkräfte mit gewaltbereiten Euromaidanern. Sie möchte es jedoch untersucht haben, ob einzelne Führungskräfte der Polizei hier kooperierten, wofür es immer wieder Indizien gibt und dass solche zur Verantwortung gezogen werden. Denn wer sagte den Polizisten neben solchen Szenen, sie sollten sich derart passiv verhalten? Ist es nicht logisch, dass Polizisten hier nachfragten, ob sie eingreifen sollen, jedoch den Befehl erhielten, dies nicht zu tun? Hätten Unterführer vor Ort nicht von sich aus nachfragen müssen, ob es nun nicht Zeit sei, die Gewaltexzesse zu beenden und sei es kein Fehlverhalten, wenn sie das nicht taten?

Die Straßenschlacht – Provokation und Eskalation

Das Problem mit den zwei Versionen gibt es aber auch bei den vorangehenden Straßenschlachten. Der Euromaidan spricht von einer friedlichen, eigenen Demo, die von den Antimaidanern überfallen wurde, was die Eskalation ausgelöst hätte. Genau diese Version wurde am gleichen Abend als „Wahrheit“ von Golineh Atai ungeprüft dem deutschen ARD-Zuschauer präsentiert, bis heute unkorrigiert. Doch es gibt zahlreiche Indizien für eine gezielte Provokation unter Schaffung einer eigenen Übermacht für den „Sieg“ – denn im Zentrum von Odessa waren in den vorherigen Tagen des Aprils stets die Antimaidaner zahlreicher.

Gewaltbereite proukrainische Hooligans, die wie auf Kommando vor dem Ende das Spiel ihrer Mannschaft verließen, um „spontan“ zum Zentrum des örtlichen Antimaidan (Kulikowo-Feld) zu laufen? Wenige Tage zuvor zufällig eine genau gleiche provokante Aktion in Charkow, die nur nicht ähnlich ausging, da sich der örtliche Antimaidan nicht provozieren ließ? Ein geheimnisvoller Sonderzug (Bezahlung? Organisation?) voller auswärtiger, nach Odessa gereister Euromaidaner, „friedliche“ Demonstranten, die offenbar bewaffnet zu jeder Demo kommen und dann auch entsprechend offen provokant und mitnichten friedlich auftraten? Übrigens sprechen selbst Antimaidaner die damalige eigene Führung jedoch nicht von einer Mitschuld frei, denn man hätte sich nicht provozieren lassen und eine eigene, ebenso gewaltbereite „Abordnung“ zu den Euromaidanern schicken müssen, womit zumundest die weitere Entwicklung des ersten Teils des Blutfreitags mit alleine sechs Toten vorprogrammiert war. Diese nahmen auch die gewaltbereiten Antimaidaner in Kauf.

„Aufklärung“ durch eine beteligte Seite

Nun trägt es natürlich nicht zur Vertrauensbildung teil, dass die offizielle „Aufklärung“ der Vorkommnisse komplett in den Händen von Funktionären des Euromaidan liegt, der nach dem Umsturz in Kiew auch in Odessa sofort alle Schlüsselpositionen in Verwaltung und Strafverfolgung mit eigenen Gefolgsleuten besetzt hatte und am 2. Mai schon fest im Sattel saß. Der größte Dorn im Auge dieser Führer war zum Monatswechsel Apri/Mai gerade das Kulikowo-Feld in der eigenen Stadt als Zentrum des Antimaidan mit einem ständigen Zeltdorf, das den Krawallen am 2. Mai mit dem dahinter als Rückzugsort liegenden Gewerkschaftshaus zum Opfer fiel.

Dementsprechend wurden auch zunächst nur Antimaidaner verhaftet und in den folgenden Wochen und mittlerweile Monaten lief die Aufklärung schuldiger Euromaidaner schleppend bis gar nicht. Die Zahl der Verhaftungen ist gering, gerade 12 Leute sollen aktuell gemäß der Onlinezeitung Tajmer aufgrund der Vorkommnisse am 2. Mai in Haft sitzen.Wie viele es genau sind, weiß man nicht, denn die offiziellen Untersucher des Blutfreitags verstärken das Misstrauen gegen sie noch durch entsprechende Geheimniskrämerei.

Erstaunliche Stille

Unmut entsteht deshalb auch, weil dagegen jeder Schritt der Militäraktionen im Donbass oder die eigenen, unbewiesenen Vermutungen bei der Täterschaft des Flugzeugabschusses MH-17 sofort von höchster Stelle auch an die Presse in Odessa posaunt wurden. Konkrete Untersuchungsergebnisse der Tragödie in der eigenen Stadt jedoch kaum.

Die Bewohner vor Odessa finden das insbesondere bemerkenswert, da ihre Mitbürger ja unter zahlreichen Zeugen zu Tode kamen, während es sich beim Flugzeugabsurz bei allen Beteligten fragt, was überhaupt wer selbst etwas gesehen oder aufgezeichnet hat. Bei einigen der Toten von Odessa gibt es bis heute noch nicht einmal eine amtliche Todesursache. Die zunächst festgestellten vorläufigen Todesursachen waren zuvor in vielen Fällen korrigiert worden, in anderen ist das Ergebnis ihrer Überprüfung noch offen. Ermittler beklagen sich über unzureichende Recourcen, was von höherer Seite sogleich dementiert wird. Wichtige Tatsachen gelangen erst durch Journalisten ans Licht – wie etwa, dass die Feuerwehr nach dem Notruf aus dem Gewerkschaftshaus eine halbe Stunde nicht reagierte – durch eine Recherche der örtlichen Onlinezeitung Dumskaya.net.

Bis heute gibt es kaum verholene Sympathie selbst für die Gewalttäter auf Euromaidan-Seite von führenden Funktionären der neuen Machthaber. Nicht nur von Vertuschung, selbst von Sabotage der Ermittlungen ist deshalb auch in örtlichen Veröffentlichungen mehrfach die Rede und Forderungen nach dem Rücktritt von Veranwortlichen wurden laut. Der Graben durch Odessa ist tief. Manch einem kommt das gelegen. Finanzstarke russische Wohltäter unterstützen die Opfer und Hinterbliebenen des Antimaidan im Gewerkschaftshaus natürlich fleißig, um bei der örtlichen Bevölkerung Punkte zu sammeln, die die Vertuschungsbemühungen des Euromaidan mehrheitlich nicht unterstützt.

Gruppen von Beteiligten

Die Bürgerintiative fordert daher drei Gruppen der Verantwortlichen zu bilden, die unabhängig von ihrer Herkunft – Euro- oder Antimaidan – zu ahnden sind:

– direkte, nachgewiesene Täter, die durch Zeugenaussagen und entsprechende Aufnahmen häufig bereits namentlich bekannt und zu verurteilen sind

– Organisatoren der Events, die zur Eskalation mit den 48 Toten geführt haben und Klärung, inwieweit sie durch Handlungen oder Unterlassungen bei ihren Anweisungen zur Eskalation beigetragen haben, sowie eine genaue Klärung, wie lange sie noch die Fäden in der Hand hatten bzw. ab wann Ereignisse zum „Selbstläufer“ wurden

– Mitläufer, die ohne eigenens Zutun zwischen die Fronten oder an den Ort des Geschehens gerieten und unschuldig sind

Kritisiert wird heute, über drei Monate nach den Ereignissen vor allem, dass auf der Ebene der Organisatoren alleine Antimaidaner zur Verantwortung gezogen wurden, während gegen die Hintermänner der Euromaidan-Seite noch gar nicht ermittelt wurde. Auch bei den direkten Tätern war der Eifer der Behörden bei der Ahndung sehr unterschiedlich, was bis heute ein Klima des Misstrauens bis hin zur Verschwörungstheorie bestehen ließ. Die Köpfe und Herzen der mehrheitlich gegenüber dem Euromaidan kritisch eingestellten Bürger Odessas werden die Machthaber in Kiew so nicht gewinnen, was sich auch an dem für sie enttäuschenden Ergebnis der letzten Bürgermeisterwahlen zeigte, wo ihre Kandidaten unter gingen – gegen einen bekannten Antimaidaner.

Roland Bathon, russland.RU – die Informationen aus diesem Artikel stammen komplett aus Onlinemedien von Odessa, vor allem der Onlinezeitung Tajmer, deren Redaktion über Augenzeugen der Ereignisse vom 2.5.2014 verfügt; Foto: Gedenkfeier an die Opfer am 10.05.2014 vor dem Gewerkschaftshaus, Nowoross, Wikimedia Commons

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