Nichts wie weg – Auswanderung aus Russland steigt rasant an

In den letzten Jahren nimmt die Emigration von Russen ins Ausland immer mehr zu. Für Experten ist die „fortdauernde Restauration der Staatsmacht“ der Hauptgrund dafür. Es sind vor allem „die Klugen und Unternehmungslustigen“, die ihrer Heimat den Rücken drehen.

In einem Interview für das Petersburger Stadtportal Fontanka.ru erklärt Sergej Zypljajew vom Komitee für Zivilinitiative die Hintergründe der erneuten Tendenz zur „Republikflucht“ auf russische Weise. Doch zunächst die Zahlen: 2015 sind 353.300 Menschen ins Ausland gegangen, und die Tendenz ist steigend. Der Höhepunkt der Emigration fiel ins Jahr 1992, als infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des wirtschaftlichen Kollapses 704.000 Personen das Land verließen.

Seit 2011 stimmen die Russen wieder mit den Füßen ab

In den 2000er Jahren beruhigte sich die Lage, leicht erklärlich durch den andauernden ökonomischen Aufschwung und die Stabilisierung der politischen und sozialen Situation im Land. 2009 verlegten nur noch 33.000 Menschen ihren ständigen Wohnsitz ins Ausland.

Seit 2011 ist der Exodus allerdings erneut im Aufwind: 2012 verließen 123.000 Personen Russland, 2013 waren es 187.000, 2014 bereits 309.000 und im vergangenen Jahr, wie bereits erwähnt, 353.300. Nichts spricht dafür, dass sich die Tendenz nicht fortsetzen wird.

Wie schon in den 1990er Jahren, geht auch jetzt die intellektuelle Elite: hochqualifizierte Spezialisten, Wissenschaftler, Unternehmer. So machen laut Zypljajew Russen die Mehrheit der in Deutschland lebenden ausländischen Gelehrten aus.

Zielländer: Von Deutschland bis Südkorea

Die Analytiker des Komitees für Zivilinitiative nennen in einem Bericht auch die Gründe für die Ausreise der „klugen Köpfe“: Es geht dabei um „die Suche nach schneller Selbstverwirklichung und materiellem Wohlstand, (…) nach offeneren und ruhigeren Bedingungen für Geschäftsführung, (..) Varianten für eine harmonischere und aussichtsreichere Entwicklung der Kinder“ und um politische Motive.

In dem Bericht werden die Zielregionen der russischen Emigranten in vier Kategorien eingeteilt. Zur ersten Gruppen gehören Deutschland, die USA und Israel als meistgewählte und traditionelle Einwandererländer. Auf dem zweiten Platz liegen Großbritannien, die Schweiz, Österreich, Australien, Neuseeland und die skandinavischen Länder – Staaten „mit hohem Lebens- und Sozialentwicklungsniveau, wohin sich vor allem Vertreter der gutsituierten Schichten der russischen Gesellschaft und Hochqualifizierte begeben“.

Typ drei sind EU-Länder „mit niedrigeren Wohn- und Immobilienkosten und vereinfachten Legalisierungs- und Naturalisierungs-Mechanismen“ – vor allem Spanien, Italien, Griechenland, Tschechien, Lettland und Polen. Die vierte Kategorie stellen Länder wie die Türkei, Japan, Südkorea und China – laut den Autoren des Berichts ziehen sie vor allem die „Business-Emigration, Rentiers, Wissenschaftler und Studenten“ an.

Ein kolossales Unheil“

Lau dem Juristen Sergej Zypljajew, ehemals Präsidentenberater und heute Mitglied des Komitees für Zivilinitiative, ist die steigende Tendenz zur Emigration aus Russland eine Katastrophe, die vor allem auf die fortdauernde Restaurierung der Staatsmacht zurückzuführen ist. „Wir durchlaufen eine Phase der Restauration, die tritt nach jeder beliebigen Revolution ein. Und mit dem dritten Versuch ist diese Restaurierung mehr oder minder gelungen. Der erste, misslungene Versuch war 1991, der zweite und ernsthaftere 1993. (…) Heute ist die Frage, wie weit wir damit gehen werden und wie lange es anhalten wird“, so Zypljajew im Interview für Fontanka.ru.

Dass die Menschen fortgehen, ist ein kolossales Unglück für das Land. Der Reichtum liegt ja nicht in der Erde, sondern in den Köpfen. Ein Land lebt durch sein menschliches Potential – dass dieses menschliche Potential jetzt vergeudet wird, bedeutet die Vernichtung der Perspektiven des Landes.“

Fluktuation in Grenzgebieten am größten

Zu den russischen Regionen mit der stärksten Abwanderung ins Ausland gehören die Gebiete Kaliningrad, Leningrad, Karelien und Sachalin. Dies sei nicht verwunderlich, so Zypljajew, weil dies Grenzgebiete sind, von denen aus der Schritt nach außen leichter falle als aus dem Kerngebiet.

St. Petersburg liegt dagegen nur auf Rang zehn im Rating der „auswanderungswilligsten“ Regionen; Moskau ist statistisch noch weniger relevant. Auch das sei kein Wunder, so Zypljajew, denn in den intellektuellen Zentren des Landes seien die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung schon immer am größten gewesen – und damit der Druck zur Suche nach Alternativen am kleinsten.

[sb/russland.NEWS]

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