„Nicht nur schwarz oder weiß“: Gedanken über Josef Stalin© russland.NEWS

„Nicht nur schwarz oder weiß“: Gedanken über Josef Stalin


In der russischen Gesellschaft wird immer noch ein Diskurs über Josef Stalin geführt. Die Ergebnisse verschiedener Umfragen sind erschreckend: Angeblich hat die Mehrheit der Russen eine positive Einstellung zu Stalin. So waren laut einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstitutes Lewada-Zentrum vom Juni dieses Jahres mehr als die Hälfte der Russen (56 Prozent) der Meinung, dass „Stalin ein großer Führer war“. Gleichzeitig gibt es in letzter Zeit eine Tendenz, den sowjetischen Diktator in einem komödiantischen Bild darzustellen. Vera Tatarnikowa, Journalistin und stellvertretende Vorsitzende des gesamtdeutschen Koordinationsrates russischer Landsleute, macht sich Gedanken über den Umgang mit der Figur Stalins:

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal über Stalin schreiben würde. Wirklich, warum sollte ich das tun? Ich war noch ein kleines Mädchen, als er starb. Meine erste Fibel enthielt viele Porträts von ihm, und noch mehr Gedichte. Wie alle Kinder, deren Eltern den Krieg erlebt haben, wusste ich, dass Stalin unser Befehlshaber war. Unser Führer. Mit einem Wort: Stalin war unser Ein und Alles. Mein Vater, ein Offizier, der den Krieg mitgemacht hat, bewahrte neben seinen militärischen Auszeichnungen eine von Stalin unterzeichnete Urkunde auf. Es ist klar, wie er seine kleine Tochter erzogen hat.

Meine Mutter starb 1955. Sechs Monate nach ihrem Tod kam mein Vater in den Urlaub und beschloss, mich nach Moskau zu mitzunehmen, um unsere Verwandten zu besuchen. Mein Vater hat mir auch Luxusschuhe aus Österreich geschenkt. Können Sie sich die Freude eines Kindes vorstellen, das gerade seine Mutter verloren hat?

Und nun bin ich mit meinem Vater in Moskau. Das Programm ist sehr umfangreich. Zunächst werden wir uns die Meisterwerke der Dresdner Kunsthalle ansehen. Noch ein paar Monate, dann kehren diese Meisterwerke nach Deutschland zurück. Ich möchte, dass sich das deutsche Volk immer an diese historische Tatsache erinnert. Es ist der Sowjetunion nicht in den Sinn gekommen, die deutschen Museumsschätze als Kriegsbeute zu behalten. Ich schreibe darüber, und vor meinen Augen tauchen Bilder der geplünderten Paläste von Peterhof, Pawlowsk, Gatschina auf, und auch die endlose und immer noch erfolglose Suche nach dem Bernsteinzimmer.

Ehrlich gesagt, ich habe mir alte Gemälde angesehen, aber nichts hat mein Herz berührt. Und plötzlich stand sie vor mir – „Das Schokoladenmädchen“! Heute kennt jeder das Pastell des Schweizer Malers Jean Etienne Lyotard. Das Porträt eines hübschen Mädchens, das heiße Schokolade serviert, fängt auch die romantische Liebesgeschichte zwischen ihr und Fürst Dietrichstein ein. Heute kann man beinahe in jedem Caffè auf der Welt eine Reproduktion des Gemäldes bewundern, und die wenigen Glücklichen können das Original in Dresden sehen. Damals vergaß ich in einem Augenblick alles. Sogar meine engen Schuhe. Ich stand da und träumte… von der Liebe. Und so ging ich in diesem Traum auf die Straße. Ich dachte: Jetzt gehen wir bestimmt in eine Eisdiele. Der Vater hat es mir versprochen. Und dort werde ich nach einer Tasse heißer Schokolade verlanden. Vielleicht haben sie dieses Getränk sogar. Oder zumindest Kakao.

Doch Pustekuchen! Eine neue Herausforderung erwartete mich. „Jetzt gehen wir zum Mausoleum“, sagte Vater in einem Ton, gegen den kein Einspruch erhoben werden konnte. Das ist das Letzte, wovon ich je geträumt habe. Aber wir gingen hin. Wir mussten nicht in der Schlange warten, denn mein Vater bekam einen Sonderausweis von der Militärkommandantur. Die Schuhe wurden noch unnachgiebiger. Ich bin in die Trauerhalle gekommen, buchstäblich ohne meine Füße zu spüren. Dort – Lenin. Kein Eindruck. Mir ist jetzt klar, dass er schon vor langer Zeit neben seiner Mutter hätte begraben werden sollen. Das ist es, was er wollte. Und das wäre auch fair gewesen.

Ein paar Schritte weiter, und da war er. In der Uniform eines Marschalls und mit polierten Stiefeln, so eindrucksvoll und so vertraut. Ich war für eine Sekunde wie erstarrt. Ich wurde durch einen Schlag mit einem Stock in meinem Rücken aus meiner Benommenheit gerissen. Man durfte hier nicht länger als eine Minute lang stehen bleiben.

Als wir nach draußen gingen, sagte mein Vater: „Ich wollte, dass du den Generalissimus siehst“. Für meinen Vater, wie auch für die meisten Soldaten des Großen Vaterländischen Krieges, war Stalin ihr Befehlshaber.

Es sind seitdem viele Jahre vergangen. Ich wusste bereits eine Menge über Stalins Repressionen, über den Gulag. Ich habe Solschenizyn gelesen und mit dem Akademiker Lichatschow gesprochen. Ich habe persönlich mit Menschen gesprochen, die bereits vor 60 Jahren dafür eintraten, Stalins Leiche aus dem Mausoleum zu holen.

Warum spreche ich das Thema also heute wieder an? Weil ich schon lange Warnsignale wahrnehme, wie sich eine historische Tragödie und die Figur Stalins in eine Comic-Figur verwandelt. Ich bin sehr beunruhigt, wenn ich in den Souvenirläden in St. Petersburg plumpe Tassen und Wandteller mit dem Konterfei Stalins sehe. Wenn junge Leute, die nichts verstehen und nichts wissen, mit seinem Bildnis im unsterblichen Regiment marschieren und verkünden, er sei ihr Großvater.

All dies ist vulgär und nicht so harmlos, wie es vielleicht scheint.  Die Apotheose war für mich die Inszenierung von „Der wunderbare Georgier“ am Moskauer Kunsttheater. Zurzeit ist dieses „Meisterwerk“ aus dem Repertoire genommen oder die Aufführung wurde ausgesetzt. Für mich macht das keinen Unterschied. Warum braucht unsere Gesellschaft jemals eine so heitere Darstellung von Stalin?

Ja, Josef Stalin ist vielleicht die umstrittenste Figur in unserer Geschichte. In gewisser Weise ist er ein böses Genie. Aber die Bewertung seiner Persönlichkeit wurde zu gegebener Zeit von Wladimir Lenin vorgenommen, und in unserer Zeit in Dokumenten, die der Verurteilung des Personenkults gewidmet sind. Und nur die totale Unmoral kann ihn entweder verherrlichen und dabei seine unschuldigen Opfer vergessen, oder ihn verhöhnen, um der Menge zu gefallen. Ein Pseudo-Patriotismus ist für mich in jeder Form inakzeptabel. Doch einen vereinfachten Zugang zu meiner Geschichte akzeptiere ich gar nicht.

Lesen Sie historische Dokumente, beschäftigen Sie sich mit historischen Konflikten, erzählen Sie Ihren Kindern von der Geschichte. Erfinden Sie aber keine Fabeln auf eigene Faust. Lesen Sie, was Churchill über Stalin schrieb. Er war sicherlich kein Freund der Sowjetunion. Denken Sie daran, wie sich Stalin auf der Potsdamer Konferenz verhalten hat, und Sie werden verstehen, dass niemand das Recht hat, Stalin und Hitler in dieselbe Kategorie zu stecken. Und es ist nicht zu übersehen, wenn solche Aussagen auch von einigen Politikern in Deutschland gemacht werden. Es ist keine Zeit für Witze.

Ich denke immer, wann werden wir lernen, uns selbst, unsere Geschichte und unser Heimatland zu respektieren? Ja, es gab verschiedene Epochen und verschiedene Herrscher. Aber warum ist es immer nur schwarz oder weiß? Und Nikolaus II. ist entweder der „blutige“ oder der „heilige Märtyrer“?

Können wir es nicht wie die Franzosen machen? Napoleon steht im Pantheon. Jeder weiß, wie er war, ebenso wie viele blutige Helden der Französischen Revolution. Aber die Franzosen zeigen, zumindest im Moment, einen Sinn für Takt und Würde gegenüber ihrer Geschichte und ihren Helden. Deshalb sezieren sie ihre Geschichte nicht und kichern nicht darüber. Wir müssen lernen, uns in dieser Weise zu verhalten. Dann werden wir in der Welt mehr respektiert werden.

Das waren die Gedanken, die mir zusammen mit meinen Kindheitserinnerungen durch den Kopf gingen.

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