Neues Altes vom Lexikus-Verlag – Der Brautschautag in Russland

Petersburg, im Mai 1882 – Der Brautschautag in Russland. Alljährlich am zweiten Pfingstfeiertage wird in den größeren Städten im Innern des russischen Reichs, welche sich noch, wie Moskau, Charkow, Kiew, Kursk. etc., ihre nationalen Eigentümlichkeiten bewahrt haben, ein heiteres Fest gefeiert, an dem die Jugend beiderlei Geschlechts mit besonderem Vergnügen Teil nimmt, das Fest der Brautschau.

In einem der innerhalb oder doch nicht weit von der Stadt entfernt gelegenen öffentlichen Gärten versammeln sich um die sechste Nachmittagsstunde die Eltern mit ihren heiratsfähigen Töchtern. Vater und Mutter gehen, scheinbar harmlos, spazieren, die Töchter um ihnen. Letztere sind im höchsten Staate, mit Schmucksachen jeder Art geradezu beladen, sodass man schon aus diesen den Reichtum der Trägerinnen zu erkennen vermag. Hinter ihnen geht die sogenannte Vermittlerin einher, meistens eine ältere Verwandte des Hauses, oft auch eine nur für diesen Tag engagierte Person. Zahlreiche junge Männer finden sich gleichfalls im Garten ein, teils solche, welche das Ganze nur als einen lustigen Zeitvertreib betrachten, teils aber auch solche, welche ernste Absichten haben. Auch sie wandern scheinbar harmlos auf und ab, mustern dabei aber genau die jungen Damen. Gefällt ihnen eine besonders, so genügt ein Wink an die Vermittlerin – und sofort biegt diese, wie zufällig, in eine Seitenallee ein. Namen, Charakter, Vermögensverhältnisse etc. der Schönen werden nun sicher erkundet, wenn auch all dies von der dienstbeflissenen Vermittlerin nicht selten in allzu rosiges Licht gestellt werden mag. Sagt das Vernommene dem Heiratslustigen zu, so macht auch er Eröffnungen über seine Person, Verhältnisse und Absichten und sofort beginnt die Agentin ihr Geschäft als „ehrliche Maklerin“; sie ist sehr klug: vielleicht sichert ihr irgend ein Paragraph 5 im Heiratskontrakt gewisse Prozente zu. Das Resultat ihrer Tätigkeit besteht dann gewöhnlich darin, dass der Freier für den kommenden Sonntag in eine Kirche bestellt wird, damit ihn Eltern und Tochter sehen können. Bei hübschen Mädchen bleibt es übrigens in der Regel nicht bei einem Freier, sondern es werden zumeist mehrere in die Kirche bestellt. Finden die strengen Augen der weiblichen Richter an dem Bewerber Wohlgefallen – man behauptet hier, je älter die Tochter, desto milder ihr Urteil; aber dies ist wohl Verleumdung – so wird Papa gebeten, denselben zu Mittag einzuladen, worauf es dann der Gewandtheit des jungen Mannes überlassen bleibt, zum Ziel zu kommen.

Auch hierbei ist ihm wieder die Vermittlerin notwendig; denn durch Sie erfährt er die kleinen Charakterzüge seiner Wirte, nach denen er sich bei seinem ersten Auftreten zu richten hat, so z. B. ob Herr Iwan Iwanowitsch nur ein nüchterner Geschäftsmann ist, oder ob er auch liebt lange zu Tisch zu sitzen und der Flasche zuzusprechen, ob die Gattin Praskowia Petrowna es gern hat, wenn man Sie selbst noch als junge Frau betrachtet und ihr huldigt, oder ob sie in mütterlicher Uneigennützigkeit es vorzieht, wenn man sich nur mit ihrer Tochter beschäftigt, und ob Letztere, Sseraphima Iwanowna, heiter oder sentimental ist, ob sie Klavier und Kunst dem Geschäft und der Wirtschaft vorsieht.

Viele, oft recht glückliche Ehen werden alljährlich auf diese Weise geschlossen, weshalb denn die Vermittlerinnen sehr gesuchte Persönlichkeiten sind, auf deren Hülfe oftmals schon mehrere Monate vor dem Brautschautage abonniert wird. Wenn ich übrigens anfangs sagte, dass diese Sitte hauptsächlich in den echtrussischen Städten noch besteht, so ist sie deshalb in den mehr kosmopolitischen Orten des Reichs durchaus noch nicht erloschen, wovon man sich, wenn man die Augen offen hat, alljährlich in Petersburg und Odessa überzeugen kann.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Der-Brautschautag-in-Russland

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