Nawalny-Verhaftung: Europaparlament fordert Baustopp von Nord Stream 2

Nawalny-Verhaftung: Europaparlament fordert Baustopp von Nord Stream 2

Das EU-Parlament nahm eine Entschließung zur Verhaftung von Alexei Nawalny in Russland an und forderte die EU auf, „den Abschluss des Nord Stream 2-Projekts unverzüglich zu behindern und restriktive Maßnahmen gegen Moskau zu verstärken.“ 581 Abgeordnete stimmten für das Dokument, 50 waren dagegen, 44 enthielten sich. Die Resolutionen des EP zu internationalen Fragen sind deklarativ und nicht bindend. Andere Institutionen der Europäischen Union sollten jedoch auf seine Meinung hören.

Tags zuvor hatte der Spiegel aus der Entschließung Einzelheiten zitiert. Neben der Einstellung des Baus von Nord Stream 2 fordern die Abgeordneten, gegen „Einzelpersonen und juristische Personen zu verhängen, die an der Entscheidung über die Verhaftung von Alexei Nawalny beteiligt waren“. Dazu gehören „russische Oligarchen“, „Mitglieder des inneren Kreises von Präsident Putin“ und „Propagandisten aus den Medien“, Den Abgeordneten des Europaparlaments schwebt das Einfrieren von Vermögen in der EU und Einschränkungen der Reisefreiheit vor. „Die Europäische Union sollte nicht länger ein willkommener Ort für russischen Reichtum unklarer Herkunft sein“, heißt es im Resolutionsentwurf.

Die Aussagen europäischer Politiker, dass der Bau der Gaspipeline gestoppt werden sollte, begannen nach der Vergiftung von Nawalny im Sommer 2020.  Am 17. September nahm das Europäische Parlament eine Entschließung an, in der die EU aufgefordert wurde, die Beziehungen zu Russland im Zusammenhang mit der Vergiftung von Nawalny zu überdenken

Der Vorsitzende der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber hält Nord Stream 2 für das „mächtigste Instrument, das wir haben“ und sei daher eine der Möglichkeiten, weiteren Druck zu erzeugen«, sagte der CSU-Politiker. „Bloße Appelle an Russland reichen nicht aus.“ Die Vollendung des Gasprojektes wäre „die maximale Bestätigung und Ermunterung für Wladimir Putin, mit genau dieser Politik fortzufahren», kommentierte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen.

In Deutschland wogt eine kontroverse Debatte, es haben sich Politiker von der CDU, der FDP und den Grünen für einen Stopp ausgesprochen, aber Berlin lässt die Zukunft des deutsch-russischen Pipelineprojekts durch die Ostsee noch offen. Erst gestern wiederholte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass sie die extraterritorialen Sanktionen der USA gegen Nord Stream 2 für ein „unangemessenes Mittel“ hält –  und forderte parallel die Freilassung des verhafteten Nawalny.

Die deutsche Regierung versucht weiterhin, die Pipeline als rein kommerzielles Projekt zu betrachten, das von politischen Fragen zu trennen sei. „Diese Haltung ist durch den Giftanschlag auf Nawalny ins Wanken geraten“, so die NZZ aus der Schweiz.

In Russland pendelt die Debatte zwischen anderen Polen. „Das Projekt ist tot. Egal was die Deutschen sagen und so tun, als hätten die US-Sanktionen Nord Stream 2 nicht begraben „, schrieb der Öl- und Gasanalyst Michail Krutichin bereits im September. Für ihn sei das Projekt seit Dezember letzten Jahres nicht mehr realisierbar, als die Verlegungsarbeiten der Pipeline aufgrund von US-Sanktionen eingestellt wurden.

Auf der anderen Seite glaubt Igor Juschkow, ein führender Analyst des Nationalen Energiesicherheitsfonds, dass, wie nach der Vergiftung von Sergei Skripal, keine ernsthaften Sanktionen folgen werden. „Und wenn für die Skripals nichts eingeführt wurde, ist es irgendwie unverhältnismäßig, für Nawalny etwas einzuführen“, vermutete der Analyst ebenfalls im September. „Ich denke, es wird nur in einem Fall keinen Nord Stream 2 geben: Wenn die Europäische Union Sanktionen verabschiedet, die ihre Fertigstellung verbieten“, sagt Juschkow. Deutschland werde sich seiner Meinung nach dann von seiner Verantwortung für das Projekt entfernen.

Ginge man davon aus, dass es den Gegnern der Pipeline tatsächlich gelänge, den Abschluss der Bauarbeiten zu verhindern, stellte sich die Frage, wen das am härtesten treffen könnte. Diese Frage hat Wladislaw Inosemtsew, Direktor des Zentrums für postindustrielle Gesellschaftsforschung, zu beantworten versucht. Das Ende von Nord Stream 2 würde eher die Geldbörsen der gewöhnlichen Russen treffen als Gazprom, den Kreml oder Europa.

Laut Inosemtsew wird das Herunterfahren von Nord Stream 2 zwei Hauptfolgen haben. Erstens werden europäische Unternehmen und Gazprom Verluste erleiden. Der Experte findet es seltsam, Gazprom im Zusammenhang mit der Vergiftung von Nawalny zu bestrafen, da seine Auftragnehmer Arkady Rotenberg (Stroygazmontazh) und Gennady Timchenko (Stroytransneftegaz) seit langem am Bau von Nord Stream 2 reich wurden. Zweitens könnten dieselben Unternehmen im Falle der Weigerung, die Verlegung der Röhren abzuschließen, mit deren Abbau Geld verdienen. Alle anfallenden Kosten würden von Gazprom erstattet, wodurch sich die Gaspreise für die russischen Verbraucher erhöhen würden.

Inosemtsew attestiert dem Westen einen „Übergang zu ‚asymmetrischen‘ Sanktionen“. Statt gezielt diejenigen zu bestrafen, die an dem chemischen Angriff auf Nawalny beteiligt sind, zielt der Westen auf „ein unbegrenzt breites Spektrum von Menschen in der russischen Politik und vor allem auf gewöhnliche Russen, die die Verluste von Gazprom letztendlich aus eigener Tasche bezahlen werden“.

Es gäbe andere Optionen für Sanktionen gegen den Kreml, so Inosemtsew. Man könnte „Russland zwingen, die Wettbewerbsbeschränkungen im Energiesektor aufzugeben“, das Monopol von Gazprom auf die Lieferung von Rohstoffen ins Ausland aufzuheben. Eine radikale Reaktion des Westens auf die Aktionen des Kremls könnte die „Aufnahme des GRU, des FSB und anderer Strafverfolgungsbehörden Russlands in die Liste der Terrororganisationen und die Beendigung jeglicher Zusammenarbeit mit ihnen sein“. Es sei auch ratsam, „russisches Kapital aus westlichen Ländern systematisch zu verdrängen, sowie alle bekannten Fakten über den Erwerb großer Vermögenswerte und Immobilien im Westen durch russische Beamte zu veröffentlichen“. Jede Möglichkeit der Korruption westlicher Politiker durch Russen gelte es auszuschließen und „ein vollständiges Verbot kremlfreundlicher Medien in westlichen Ländern einzuführen“.

Moskau bekomme mit jeder neuen Sanktion zusätzliche Argumente für eine „wirtschaftliche Wende“ nach China. Damit werde sich nicht so sehr die Abhängigkeit Europas von Russland, sondern eher die Russlands von Europa verringern“, vermutet Inosemtsew. Der Anteil der EU an den russischen Exporten beträgt 77,5 Prozent.

[hrsg/russland.NEWS]

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