Nachruf Helmut Kohl

[von Julian Müller] Bonn, 1. Oktober 1982: Über mehrere Stunden lieferten sich einige der herausragenden politischen Persönlichkeiten der Bundesrepublik einen leidenschaftlichen Schlagabtausch hinsichtlich weit über den Horizont gewöhnlicher Debatten hinausgehender Erwägungen. Einziger Punkt auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages: Das konstruktive Misstrauensvotum nach Artikel 67 des Grundgesetzes, beantragt von CDU/CSU und der Mehrheit der Liberalen. Begnadete Redner wie Helmut Schmidt, Rainer Barzel, Heiner Geißler, Herbert Wehner und FDP-Fraktionschef Wolfgang Mischnick rangen dabei auf intellektuell sehr hohem Niveau um die Deutungshoheit bezüglich der Frage nach der Legitimität eines Regierungswechsels in der laufenden Legislaturperiode. Schließlich verkündete Bundestagspräsident Richard Stücklen das Ergebnis der Abstimmung: Für den Antrag nach Art. 67 GG. hatten 256 Abgeordnete gestimmt. Somit war Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Frenetischer Jubel in den Reihen der zukünftigen Regierungsparteien. Der anschließende Glückwunsch von Helmut Schmidt an seinen Nachfolger gehört zu den zentralen Bildern der bundesrepublikanischen Geschichte. Mit ihm verbindet sich für Helmut Kohl die Krönung einer Karriere, wie sie keinem anderen Politiker in Deutschland gelungen ist.

Geboren am 3. April 1930 als Spross einer mittelständischen Familie in Ludwigshafen, galt der gläubige Katholik Helmut Kohl innerhalb der CDU bald als ehrgeiziger Aufsteiger. 1969 trat er mit gerade einmal 39 Jahren die Nachfolge von Peter Altmeier im Amt des Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz an und führte den dortigen Landesverband seiner Partei bei der Landtagswahl 1971 zur absoluten Mehrheit. 1973 beerbte er den glücklosen Rainer Barzel als Vorsitzenden der Bundespartei und kandidierte schließlich 1976 für das Amt des Bundeskanzlers. Hervorragende 48,6 Prozent der Zweitstimmen gewannen CDU und CSU und verfehlten damit die Ablösung von Helmut Schmidts sozialliberaler Koalition nur knapp. Trotz seiner Niederlage gab Kohl sein Amt in Rheinland-Pfalz auf und fungierte von nun an als Oppositionsführer in Bonn.

Seine beiden größten politischen Rivalen Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß mögen rhetorisch um einiges beschlagener und von der Persönlichkeit her bedeutend markanter gewesen sein – letztlich unterlagen sie Kohl aufgrund dessen legendären Machtinstinkt. Stets auf langfristigen Erfolg bedacht, ließ Kohl seinem unionsinternen Widersacher aus Bayern bei der äußerst hart geführten Bundestagswahl 1980 den Vortritt. Er tat dies im sicheren Wissen um dessen Chancenlosigkeit gegen den populären Amtsinhaber, schließlich war für Kohl nach der krachenden Niederlage von Strauß der Weg frei. Selten hat sich der umtriebige Bayer derart getäuscht wie im Rahmen der berühmten Wienerwald-Rede, wo er dem Pfälzer Kohl „totale Unfähigkeit“ unterstellt im Zusammenhang mit der vermeintlichen Feststellung, dass dieser „niemals Bundeskanzler wird“. Schmidt dagegen dürfte insbesondere Kohls Beharrlichkeit unterschätzt haben, die FDP für ein Regierungsbündnis gewinnen zu wollen. Nach innen abgesichert hat Kohl seine Macht durch ein vertrauensvolles persönliches Umfeld sowie den Kontakt zu sämtlichen Ebenen seiner Partei – selbst mit Ortsvorsitzenden hat er regelmäßig telefoniert. Undenkbar schien eine Situation wie jene am Ende der Kanzlerschaft von Schmidt, wo dieser von seiner eigenen Partei fallen gelassen wurde.

Einer der Hauptgründe für den Bruch der sozialliberalen Koalition waren unterschiedliche Ansichten der Regierungsparteien hinsichtlich des NATO-Doppelbeschlusses. Helmut Schmidt gehörte zu den wenigen in der SPD, welche die Stationierung der Pershing 2 vorbehaltlos unterstützten. Mehr und mehr hatten sich die Sozialdemokraten dem gesinnungsethischen Pazifismus der Friedensbewegung verschrieben. Helmut Kohl setzte den NATO-Doppelbeschlusses konsequent um und hat damit mehr für den Frieden getan als all jene, die meinen, dass sich Frieden mit symbolischen Gesten und besten Absichten erreichen lässt. Hier zeigt sich eine Grundhaltung von Kohls bürgerlichem Politikverständnis: Ihm ging es nicht wie der politischen Linken darum, mit ihrer Hypermoral die Welt verbessern zu wollen und am Ende auf dem harten Boden der Tatsachen zu landen, sondern den Menschen in Deutschland und Europa durch pragmatisches politisches Handeln ein gutes Leben zu ermöglichen. Er war nie der Liebling der linksliberalen Journaille, insbesondere mit dem Spiegel fühlte er sich in inniger Abhängigkeit verbunden. Niemand zierte das Cover des Hamburger Magazins häufiger als Kohl, die Redakteure des Sturmgeschützes der Demokratie schienen sich in ihrer ganzen Überheblichkeit sicher gewesen sein, den konservativen Pfälzer aus dem Kanzleramt wegschreiben zu können. Seine berühmten Strickwesten wirkten bieder und altbacken, Kohl waren derartige Stilfragen jedoch egal, er und seine Partei liefen dem Zeitgeist nicht hinterher. Vielmehr verstand er sich als Anwalt des bürgerlichen Teils der deutschen Gesellschaft, verlor die andere Seite jedoch nie aus den Augen. Franz Josef Strauß legte den Unterschied zwischen der Politik von Helmut Kohl und Rot-Grün auf dem Bundesparteitag der CDU 1986 anschaulich dar: „Entweder bleiben wir auf dem Boden trockener, spröder, notfalls langweiliger bürgerlicher Vernunft und ihrer Tugenden oder wir steigen in das bunt geschmückte Narrenschiff Utopia ein, in dem dann ein Grüner und zwei Rote die Rolle der Faschingskommandanten übernehmen würden“.

Insbesondere zu Beginn seiner Amtszeit ist Helmut Kohl in das eine oder andere Fettnäpfchen getreten. In Erinnerung bleiben etwa der Besuch eines Truppenübungsplatzes mit Margaret Thatcher, wo sich der deutsche Bundeskanzler gehüllt in einen Kampfanzug wenig vorteilhaft auf einem Leopard 2 der Öffentlichkeit zeigte. Bedeutend schwerer wog zweifellos sein krasser Fehltritt, als er Michail Gorbatschow bescheinigte, wie Goebbels eine Menge von PR zu verstehen. Vor diesem Hintergrund mutet es vielleicht etwas seltsam an, dass Kohl ausgerechnet im Zusammenschluss mit Gorbatschow seinen größten politischen Erfolg einfädelte, welcher ihm auf alle Zeiten einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern wird. Die Einheit Deutschlands war stets Kohls oberstes politisches Ziel. Geradezu infam sind die Vorwürfe mancher Zeitgenossen, Kohl sei nur zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten war nur in der ganz besonderen historischen Situation des zerfallenden Ostblocks möglich, in welcher sie stattgefunden hat. Konsequentes und engagiertes Handeln war gefragt – schon kurze Zeit später hätte die politische Großwetterlage in Europa dergestalt sein können, dass die Einheit nicht mehr möglich gewesen wäre. Heute ist der 3. Oktober das bedeutendste Datum der deutschen Geschichte und die Feierlichkeiten an eben diesem Tag vor dem Reichstag im Jahr 1990 stehen für das nahezu unvorstellbare Glück, welches den Deutschen zum Ende des 20. Jahrhunderts nach all den zuvor erfahrenen Schrecken zuteil geworden ist.

Die Bundestagswahl 1998 markiert eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Erstmals wurde eine Bundesregierung komplett abgewählt, erstmals erhielten die traditionell rechts der Mitte verorteten Parteien nicht mehr die Mehrheit im deutschen Bundestag. Ein Jahr später zog die neue Bundesregierung unter Führung von Gerhard Schröder nach Berlin um und leitete eine Reihe bedeutender Reformen ein. An Kohls Wahlniederlage von 1998 manifestiert sich das Ende der Bonner Republik. Vielleicht hätte er nach 16 Jahren Regierungsverantwortung die Zeichen der Zeit erkennen und nicht noch einmal antreten sollen – seine herausragende Stellung in der deutschen Geschichte hatte er zu dem Zeitpunkt ohnehin schon sicher. Kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt kam die bis heute nicht restlos aufgeklärte CDU-Spendenaffäre ans Licht. Kohl weigerte sich, die Namen von Spendern zu nennen und legte schließlich seinen Ehrenvorsitz nieder. Trotz seiner eindeutigen Verfehlungen schmälern diese durchweg negativen Ereignisse Kohls politische Leistungen nicht. Im Jahr 2001 nahm sich seine Frau Hannelore nach 41 Jahren Ehe das Leben. Der nächste Schicksalsschlag ereilte Kohl 2008, als er bei einem schweren Sturz bleibende Schäden davontrug. Während sein Vorgänger Helmut Schmidt im hohen Alter von Talkshow zu Talkshow zog und zum moralischen Gewissen der Bundesrepublik geriet, konnte Helmut Kohl aus gesundheitlichen Gründen nicht wie Schmidt an seinem Vermächtnis arbeiten. Es wird ihn sehr geschmerzt haben.

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