Mein Moskau [10] – Noch ein Abschied

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das neunte Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

Am nächsten Tag fahren wir nach Jurmala; dort findet ein Djed Maros-Fest für russische Kinder statt.

Jurmala, ein über viele Kilometer lang gestreckter Badeort an der Rigaer Bucht etwa eine Autostunde von Riga entfernt, besteht vorwiegend aus Holzhäusern, die mich in ihrer Verspieltheit, in ihrer Leichtigkeit; stark an norwegische oder finnische Häuser erinnern.

Ein romantisches Bild, wie sie in dem fahlen Licht der durch den Dunst scheinenden, nur wenig über dem Horizont stehenden Sonne im Schnee daliegen. Könnte ich malen, es gäbe ein herrliches Bild!

Die Halle, in der das Fest stattfindet, ist ein großer Rundbau, eine typisch skandinavische Holzkonstruktion. Wäre die russische Sprache nicht, ich würde mich irgendwo in Schweden oder Finnland glauben.

Die Feier selbst enttäuscht mich: moderne westliche Musik, von russischer Tradition kann ich nichts bemerken, und auch Helena bestätigt mir, dass noch vor drei bis vier Jahren diese Form des Festes nicht möglich gewesen wäre; ein leises Bedauern darüber, dass die alten Bräuche und Formen so schnell abgestreift und westliche angenommen werden, kann ich aus ihren Erklärungen schon entnehmen.

Während die Kinder weiter feiern, gehen wir an den nur wenige Minuten entfernten Strand der Ostsee, genauer der Rigaer Bucht. Ein seltenes Bild bietet sich uns hier: durch den strengen Frost, es ist ungefähr minus fünfzehn bis minus zwanzig Grad kalt, bedeckt am Ufer Eis die Ostsee und am Strand liegt ein breiter Gürtel aus gefrorenem Schaum.

Am Abend, wieder in Riga, gilt es nun für mich meine erneute Ankunft in Moskau vorzubereiten. Ich will doch noch einen Versuch machen, Moskau kennenzulernen; meinen Plan, auch nach St. Petersburg zu fahren, habe ich aus Zeitgründen schon aufgegeben.

Helena wäre die ideale Reisebegleiterin, aber genau in dieser Zeit muss sie Prüfungen an der Universität abnehmen. Schade!

Igor Nikonov verspricht mir telefonisch, wenn ich in Moskau bin, eine Wohnung zu besorgen; er will sich in der Zwischenzeit bemühen. Eine letzte Adresse, die ich aber eigentlich nicht in Anspruch nehmen wollte, habe ich noch: in ihrem letzten, traurigen Brief nach unserer Trennung hat mir Galinka noch die Telefonnummer und Adresse ihrer Freundin in Moskau gegeben und mir versichert, ich sei dort ganz bestimmt willkommen. Vielleicht spricht diese Freundin, sie heißt Natascha, Deutsch oder Englisch und kann mir weiterhelfen. Ich rufe an. Sie versteht zwar Deutsch, spricht es aber kaum. Helena hilft aus.

Galinka scheint sie von unserem ursprünglich gemeinsam geplanten Besuch informiert zu haben, denn auch sie sagt, dass ich erwartet werde, und wo Galinka sei. Sie will mich morgen am Flughafen abholen. Ich soll unbedingt zu ihr kommen, auch gebe es keine Verständigungsschwierigkeiten, denn sie habe eine Freundin, die spreche fließend Deutsch, sei Kunsthistorikerin und könne mir ganz Moskau zeigen.

Ich rufe noch einmal Igor Nikonov an, um ihm diese neueste Entwicklung mitzuteilen. Er hat aber in der Zwischenzeit nicht nur für mich eine Wohnung gefunden, die ich mieten kann, sondern auch noch mit Nikolai dem Sänger, der jetzt wieder in Moskau ist, gesprochen; dieser besteht darauf, dass ich bei ihm wohne; die Tochter eines Freundes spreche perfekt Englisch, habe in den nächsten zwei Wochen frei und könne mich auf Schritt und Tritt begleiten; und auch er werde mich morgen am Flughafen erwarten.

Noch vor wenigen Stunden wusste ich nicht, wo ich in Moskau wohnen kann, und ob nicht vielleicht mein Plan doch noch sehr unrühmlich enden wird, und jetzt habe ich drei Wohnmöglichkeiten und bin in der misslichen Lage, zumindest einem, der fest mit mir rechnet und mich gern aufnehmen möchte, absagen zu müssen, ohne ihn zu beleidigen; und ich weiß noch nicht einmal, wem ich absagen soll.

Helena gibt Nikolai Nataschas Telefonnummer, damit sie sich wenigstens schon einmal besprechen und nicht beide unabhängig voneinander am Flughafen erscheinen.

Aber ich bin froh, dass es wenigstens aussichtsreich weitergeht. In meine Freude mischt sich jedoch Trauer, denn dieses Weitergehen bedeutet gleich­zeitig auch wieder einen Abschied.

Ich habe sie lieb gewonnen diese beiden, Helena und Oksana, mit denen ich mehrere Nächte viele ihrer Sorgen geteilt habe, sehr viel Persönliches, ja Intimes mit ihnen besprochen habe.

Es wird mir eng ums Herz, als Helena mir zum Abschied sagt:
„Hans, es war ein Segen für uns, dass du gekommen bist, bitte komm bald wieder; rufe an, wenn du angekommen bist, vielleicht können wir doch noch zusammen nach St. Petersburg oder Moskau fahren.“ Und nicht zum ersten Mal höre ich: „Hans, du hast eine slawische Seele.“

Habe ich Euch wirklich helfen können?

Du, Helena, warst in der Zwischenzeit in München und hast mehrmals vergeblich versucht, mich zu erreichen. Wie geht es Dir jetzt in Riga? Von Oksana weiß ich, dass Du lange inständig gehofft hast, dass wir uns wieder­sehen; Du hattest schon einen Teil Deiner Zukunft mit mir geträumt; es war keine Liebesgeschichte, es war Liebeshoffnung, die Du geträumt hast, und es schmerzt mehr, wenn Hoffnung keine Chance erhält; aber es schmerzt auch, zu wissen, dass ich Hoffnungsträume nicht erfüllen konnte.

Du, Oksana, bist in der Zwischenzeit doch in Deutschland; Du hast Dich auf eine zweifelhafte Heirat eingelassen, nur um mit Deinem Sohn im „gelobten Land“ bleiben zu können. Ich wünsche Dir, dass Du glücklich wirst. Aber nach allem, was ich weiß, und schon bei dem Wenigen, das ich von Dir kenne, bezweifle ich es.“

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