Mein Moskau [41] – Der Putsch (Fotogalerie)

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das einundvierzigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.

Alle Folgen finden Sie hier.

 

Am Sonntag, am frühen Nachmittag, fahren wir auf einer der großen Hauptausfallstraßen stadtauswärts.
Es ist zwischen halb zwei und zwei Uhr; normalerweise ist um diese Zeit in beiden Richtungen lebhafter Verkehr. Diesmal ist plötzlich die Gegenrichtung leer; aber nur kurz, danach rückt eine Militärkolonne ein. Nikolai murmelt so etwas wie ’schwarze Division‘.
„Was ist los?“ frage ich.
„Jetzt um 13 Uhr ist das Ultimatum abgelaufen, das Jelzin Chasbulatow, Ruskoj und den übrigen Besetzern des Weißen Hauses gesetzt hat. Jetzt wird es ernst. Hoffentlich gibt es keinen Bürgerkrieg!“
Wir fahren wieder nach Haus; alle Zufahrtstraßen nach Moskau sind schon weit außerhalb gesperrt.

Zu Hause schalten wir sofort das Fernsehen ein, um die neuesten Nachrichten zu bekommen; wir wohnen im Stadtzentrum, an einer großen Ausfallstraße, Luftlinie nur ungefähr drei Kilometer vom Weißen Haus entfernt, das ist doch so nah, dass es im Ernstfall ganz günstig wäre, gut informiert zu sein.

Die Ereignisse überschlagen sich:
Die Nachrichtensprecher der Moskauer Sender informieren laufend über die aktuellen Ereignisse, aktuelle Bilder werden wenig gezeigt.
Sie sprechen davon, dass sie nicht wissen, wie lange sie noch berichten können, denn bewaffnete Demonstranten seien in den Sender eingedrungen.
Ein Nachrichtensprecher sagt, dass er gar nicht wisse, ob seine Berichte überhaupt noch gesendet werden, aber er werde einfach weitersprechen.
Sie berichten, dass Schüsse im Sender gefallen seien.
Nach und nach werden alle Moskauer Sender stumm.
Nur der Petersburger sendet noch.

Ein Sender beginnt wieder zu arbeiten: Er zeigt Bilder der russischen Landschaft und ein Mann singt kirchliche und weltliche, traurige Lieder. Spät am Abend erscheint Gaidar im Fernsehen und bittet die Moskauer Bürger zum Haus des Moskauer Stadtsowjet zu kommen, um Jelzin zu unterstützen. Dann wieder rufen Teilnehmer einer Fernsehrunde die Bürger auf, besonnen zu bleiben, das Haus nicht zu verlassen und schon gar nicht ins Zentrum, wohin auch immer, zu kommen.
Die Demonstranten haben den Fernsehsender Ostankino gestürmt.
Die Miliz scheint einfach überrumpelt worden zu sein; oder hat sie sich etwa mit den Putschisten solidarisiert?
‚Nichts genaues weiß man nicht‘, und das ist das Schlimmste.
Wird es zum Bürgerkrieg kommen, oder nicht?
Dass letztlich Jelzin Sieger in diesem Kampf bleiben wird, davon scheinen alle in meiner Umgebung überzeugt zu sein. Nur, ‚hoffentlich fließt nicht zu viel Blut!‘ und ‚wie wird sich das Militär verhalten?‘
Draußen auf der Straße ist es sehr ruhig geworden, ungewohnt ruhig.

Am nächsten Morgen, die Moskauer Sender arbeiten wieder, werden Bilder von den Straßenschlachten und von der Erstürmung des Fernsehsenders Ostankino gezeigt.
Jetzt gibt es auch Direktübertragungen von den Kämpfen am Weißen Haus. Es sind aber keine Moskauer Kamerateams, die hier vom Ort des Geschehens berichten, es sind die Teams vom CNN! Das russische Fernsehen übernimmt einfach die Berichterstattung der Amerikaner – der Originalton ist im Hintergrund zu hören!

Auffällig ist der Unterschied bei der Kommentierung der Bilder:
Die Stimme des amerikanischen Reporters ist aufgeregt, sensationsgeladen, teilweise dramatisch – auch wo es den Ereignissen gar nicht entspricht – der russische Kommentator dagegen ist ruhig, sachlich, nur in dramatischen Augenblicken wird seine Stimme gefühlvoll oder aufgeregt; seine Stimme wirkt eher bedauernd, ja traurig.

Drei Panzer haben Position bezogen und feuern in das Weiße Haus; es brennt in einigen Stockwerken.
Menschen verlassen das Weiße Haus; sie werden beschossen, anscheinend von ihren eigenen Leuten. Es gibt Tote und Verwundete.

Die Kameras schwenken hin und her, gehen mit Supertele auf die Menschen; mir scheint, sie würden am liebsten die Seelen der Sterbenden noch filmen, wenn sie könnten.
Nicht nur von Elen, auch von anderen höre ich:
„Muss man das alles auch noch im Fernsehen zeigen? Ist es nicht schon schlimm genug, dass hier Menschen getötet werden? Wozu diese Tragödien im Fernsehen? Informationen, ja die sind wichtig, aber das Morden!?“

Morgen muss ich nach Deutschland zurück.
Ich muss also heute unbedingt noch einige wichtige Besprechungen führen. Meine Gesprächspartner haben ihr Büro in der Nähe vom Weißen Haus. Telefonanruf – sie erwarten mich!?

Nach riesigen Umwegen – die Zufahrten zum Weißen Haus sind abgesperrt – sind wir an Ort und Stelle.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl; wir sitzen hier, Luftlinie vielleicht 300 m von dem Ort entfernt, an dem geschossen wird, ab und zu ist das Donnern der Panzerkanonen zu hören, und unterhalten uns über geschäftliche hinge, als ob nichts wäre; es werden Pläne für die Zukunft gemacht, als ob die Zukunft – in unserem Sinn – außer Zweifel stünde; Telefonanrufe kommen an, der ‚Putsch‘ wird nicht mit einer Silbe erwähnt. Alles normal.

Nach unserer Besprechung will ich, nachdem ich praktisch neben dem Weißen Haus bin, an den Ort des Geschehens. Mein Dolmetscher Alexander schreit mich an, fragt, ob ich verrückt geworden bin, und sucht das Weite.

Ich will dabei sein, will mit den Menschen solidarisch sein, ich gehöre zu ihnen, will mit ihnen leben und – es hört sich pathetisch an – wenn es sein muss auch sterben, ein Hochgefühl hat mich ergriffen, nur noch Gefühl, kein klares Denken. Ich komme nicht weit, werde abgedrängt, denn das ist die falsche Seite, hier kommt man ins Schussfeld und hier sind Soldaten und bewaffnete Zivilisten; ich komme bis zur Uferstraße zwischen Weißem Haus und Moskwa, bleibe in der Menge stecken, vor mir die Vorderfront des Weißen Hauses und Panzer, Lastwagen und Soldaten. Die Panzer schießen, hin und wieder werde ich in dem Getümmel etwas gefragt, bleibe in der Menge stecken, rechts die Moskwa links vor mir das Weiße Haus. Aus den oberen Stockwerken dringt schwarzer Rauch. Ich werde abgedrängt und nach einiger Zeit ebben die ekstatischen Gefühle ab. Ich ziehe mich zurück, schlage einen weiten Bogen Richtung zuhause.

Es ist weniger Verkehr in Moskau, ich halte einen Wagen an. Die sonst um diese Zeit nur mühsam befahrbaren Straßen und Kreuzungen sind heute frei, wir flitzen durch die Stadt, nach Hause.

Zuhause angekommen erkundige ich mich sicherheitshalber bei der Deutschen Botschaft, ob meiner Fahrt nach Deutschland irgendetwas im Wege steht.
„Bisher haben wir keine Bedenken, bis auf die Innenstadt Moskaus gibt es keine Beschränkungen“, lautet, die Antwort.
„Von da komme ich gerade; mit einigen Umwegen bin ich auch dort durchgekommen“, kann ich nun meinerseits Auskunft geben.
„Wir haben jedoch soeben die Nachricht, bekommen, dass heute Nacht, von 23.00 bis 5.00 Uhr morgens eine Ausgangssperre verhängt werden wird. Sie wird angeblich auch bis auf weiteres gültig sein. Eine offizielle Bestätigung haben wir aber noch nicht. Wenn sich die Situation weiter verschärft, könnte es sein, dass Sie morgen nicht durch die Innenstadt kommen; Sie müssten dann über den Autobahnring oder über Kiew fahren.“
Ich wollte sowieso erst, gegen halb sechs fahren, bis dahin wissen wir mehr.“
„Viel Glück und gute Reise!“

Im Fernsehen kommen jetzt regelmäßig Berichte – wie bisher vom CNN aufgenommen, mit russischem Kommentar.
Plötzlich wird sogar die Stimme des russischen Kommentators aufgeregt:
Mit erhobenen Händen verlassen die Besetzer – die Faschisten, wie sie genannt werden – das Weiße Haus!
Wie gebannt starren wir auf den Fernsehschirm.
Werden die Drahtzieher Ruskoj und Chasbulatow dabei sein?

In langer Schlange kommen Menschen aus dem Weißen Haus; es scheinen doch noch erheblich viel mehr im Haus gewesen zu sein, als man angenommen hat. Sie werden sofort mit Bussen abtransportiert – jetzt wird mir klar, warum wir in der Nähe des Weißen Hauses so viele Busse gesehen hatten.
Da! Großaufnahme! Sie sind dabei!

Mit steinerner Miene, ohne erhobene Hände, besteigen sie einen Wagen. In deren Haut möchte ich jetzt nicht stecken!‘ Wir freuen uns riesig.
Gott sei Dank, jetzt, ist der Spuk vorbei!

Ich wünsche den beiden nichts Gutes, aber tief im Innersten tun sie mir sogar etwas Leid. Das muss für sie ein furchtbarer Kanossagang sein. Sicher, sie haben letztlich viele Menschenleben auf dem Gewissen – über Hundert Menschenleben hat der Kampf gekostet, wie ich später erfahre; aber sie haben für ihre Überzeugung, in der sie erzogen worden sind, gekämpft, wenn auch zum Schluss mit unsauberen Mitteln. Aber Jelzin, der zugegeben, nicht mehr anders handeln konnte – wahrscheinlich hat er zu lange gezögert – hat zumindest in deren Sicht; auch nicht legal gehandelt. Das ewige Thema der griechischen Tragödie:
Ob schuldhaft oder subjektiv schuldlos, menschliche Existenzen sind vernichtet, persönliche Schicksale.

Ruskoj als General droht sogar der Tod, wahrscheinlich wäre sogar ein militärgerichtliches Schnellverfahren möglich, das Urteil würde dann vielleicht sogar lauten: ’standrechtlich erschießen‘. Ich weiß es nicht, und ich hoffe es nicht.

Die Ausgangssperre wird, so wie es mir die Deutsche Botschaft schon gesagt hat, verkündet.
Ein Großteil der Demonstranten – Terroristen und Faschisten werden sie genannt – sei von außerhalb Moskaus, aus anderen Städten, eigens zur Unterstützung der Besetzer des Weißen Hauses angereist.
Die fast gleichzeitige Besetzung der Fernsehsender sei generalstabsmäßig geplant, vorbereitet und ausgeführt gewesen.
Moskau sei abgesperrt, um alle Unruhestifter zu erwischen.

– Es klingt kaum machbar, eine so riesige Stadt abzusperren, ist aber tatsächlich leicht möglich, da es nur eine bestimmte Anzahl großer Straßen gibt, auf denen man Moskau verlassen kann, und diese sind immer durch GAI-Stationen unter Kontrolle. –

Die Ausgangssperre hat für uns auch eine angenehme Seite: Schlag elf Uhr erstirbt der heute ohnehin geringe Verkehr. Von der Hauptverkehrsader, an der wir wohnen, dringt kein Laut in unser Schlafzimmer. Es ist still wie auf dem Land. Zwei, drei Mal werde ich wach, draußen fahren Lastwagenkolonnen vorbei. Oder sind es Panzer? Ich bin zu faul, um aufzustehen und nachzusehen.

Morgens um halb sechs fahren Nikolai und  ich los.
Wir fahren durch die Stadt. Als wir die Moskwa auf der Borodinskij-Brücke überqueren ist rechts neben uns in ungefähr 300 Meter Entfernung das Weiße Haus deutlich zu sehen: aus einigen Stockwerken dringt noch Rauch, darüber ist, das Weiße Haus jetzt schwarz.

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Es herrscht wenig Verkehr, Verkehrskontrollen gibt es nicht, nur einmal treffen wir Militär; alles ist ruhig.
Auch außerhalb Moskaus werden wir kein einziges Mal angehalten, nirgends sehen wir Militär. Alles normal.

An der weißrussisch-russischen Grenze werden wir nicht kontrolliert, wir werden durchgewinkt.
In Brest bringe ich Nikolai zum Bahnhof.

Irgendwo in Polen, mitten in der Nacht, kein Mond scheint, keine Laternen beleuchten die Straße, ich bin jetzt schon bald 20 Stunden unterwegs, winkt plötzlich jemand mit Rotlicht vor mir auf der Straße.
‚Halt Polizei!‘ Auch das noch!
Mit einer Vollbremsung (ich fahre etwa 120 km/h) komme ich knapp hinter den Polizisten zum Stehen.
„Radarkontrolle! Papiere bitte. Sie waren 120 km/h schnell.“
„Ja, warum?“
„Hier ist eine Stadt! Nur 50 km/h möglich!“
„Das habe ich nicht gesehen, hier sind nirgends Häuser,“
„Egal! Strafe zahlen. 100 DM.“
Mir werden die Knie weich, ich habe nur noch 5 Mark und 1000 Rubel.
„Bitte lassen Sie mich weiterfahren. Ich habe kein Geld mehr. Ich komme direkt aus Moskau und muss schnell nach Deutschland.“
„Aus Moskau? Putsch?“
Er leuchtet in meinen Wagen und sieht meine vielen Fotoapparate.
„Reporter?“
„Ja.“
„Schnell, schnell! Weiterfahren!“

Am nächsten Morgen, es ist schon nach acht Uhr, bin ich nur noch wenige Kilometer von unserem Dorf entfernt. Leider bin ich etwas zu spät. Schon die ganze Nacht habe ich mich darauf gefreut, meine Kinder noch vor Abfahrt zur Schule zu treffen. Aber sie müssen schon um sieben Uhr aus dem Haus.
Als ich traurig ins Dorf einfahre, kommen sie mir entgegen. Sie haben verschlafen!

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