Mein Moskau [36] – Nach Moskau mit dem Wagen

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das sechsunddreißigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Es ist Ende März, ich bin mit einem Kleinbus unterwegs nach Moskau. Der Wagen ist voll beladen mit Gegenständen für die Gemeinde der „Vergessenen Kinder“.

Nach meiner Rückkehr aus Moskau im Januar habe ich dem Pfarrer der Gemeinde im Coburger Land von meinen Gesprächen und Erlebnissen bei den „Vergessenen Kindern“ erzählt; er war sofort bereit zu helfen. Der größte Teil des Geldes wurde auf das Konto eines Paters überwiesen, der für die Betreuung der Gemeinde zuständig ist, und für einen kleineren Teil habe ich eingekauft.

Eine Sammelaktion im Kreis meiner Bekannten hat mehrere Säcke Kleidung und Schuhe eingebracht, und von meiner Gemeinde wurde Kleidung für die Erstkommunion der Kinder gespendet. Auf diese Weise wurde der Bus voll.

Den Bus habe ich von einem Bekannten; ich werde ihn in Moskau verkaufen.

Heute Morgen bin ich um 3 Uhr abgefahren; in Görlitz, an der deutsch-polnischen Grenze, bekam ich unbesehen den Stempel in meinen Pass und konnte ohne Aufenthalt weiterfahren.

– Die Zeiten haben sich wahrlich geändert! Als ich das letzte Mal an dieser Stelle über die Grenze ging, es war 1982, Kriegsrecht in Polen – ich fuhr einen Lastwagen des Malteser Hilfsdienstes mit Spenden für eine Gemeinde in Schlesien – standen wir aus absolut unersichtlichen Gründen vier Stunden! Ein Pfarrer eines anderen Hilfskonvois, der nach dem Grund für den langen Aufenthalt gefragt hatte, musste ‚zur Belohnung‘ seinen Lastwagen vollkommen abladen und, ohne dass wirklich kontrolliert worden wäre, anschließend wieder beladen! –

Um 9.00 Uhr war ich in Breslau, um 14.00 Uhr in Warschau und jetzt  fahre ich auf die polnisch-russische Grenze zu.

Wenn alles weiter so gut geht wie bisher, werde ich genau nach Plan um 17.00 Uhr an der Grenze sein. Nach 1.250 km Fahrt werde ich pünktlich sein!
Das hatte ich nicht zu hoffen gewagt. Mir fällt ein Stein vom Herzen.

Auf der anderen Seite der Grenze bin ich zu dieser Zeit mit einem jungen Mann verabredet, der mit dem Zug aus Moskau angereist ist, um mit mir ohne Aufenthalt bis Moskau wieder zurückzufahren. Er ist Automechaniker, macht solche Fahrten öfter und kostet 300 $!
Wie mir versichert wurde, ist das der normale Tarif.

Übernachten kann ich nirgends, denn den voll beladenen Bus würde ich auch in Deutschland nicht irgendwo in der Nacht allein auf der Straße stehen lassen. Und wenn man unseren täglichen Zeitungsmeldungen Glauben schenken darf, bedeutet das in Polen und erst recht in Russland, dass der Wagen samt Inhalt am nächsten Morgen mit Sicherheit gestohlen wäre.
Und vor der Fahrt durch Russland ist mir selbst mit Begleitung bang.
Hoffentlich hat der junge Mann irgendeine Waffe zur Verteidigung bei sich, denn die Verbrecherbanden stehen angeblich bis weit, ins Land gestaffelt, um alles, was nach leichter Beute aussieht, zu kassieren.
So lesen und hören wir täglich in unseren Nachrichten: Nur im Konvoi, und am besten mit Geleitschutz ist man sicher.
Nun denn, wir werden sehen!

Noch 500 m bis zur Grenze.
Aus der Traum von Pünktlichkeit! Bis zur Grenze ein Auto hinter dem anderen. Alles steht! Ich glaube, ich drehe durch.

Nach Aussagen einiger vor mir, stehen sie schon eine Stunde, ohne dass es auch nur einen Meter weitergegangen wäre. Das kann einen ganzen Tag dauern, bis ich über die Grenze bin. Dann wartet aber auf der anderen Seite mit Sicherheit niemand mehr auf mich.

Die Verzweiflung hat aber gar keine Zeit, vollkommen von mir Besitz zu ergreifen, da versucht mich ein Mann, zu irgendetwas zu überreden. Ich spreche kein Polnisch, er kein Deutsch. Er scheint, mir etwas für 50 Mark verkaufen zu wollen. Ich winke ab. Er lässt nicht locker und zeigt mir ein kleines Papier mit einem Stempel. Ich verstehe immer noch nicht. Nachdem er mit der Hand an der Autoschlange vorbeizeigt, auf seine Uhr deutet und ’10 Minut Russia‘ sagt, dämmert mir, was er damit sagen will. Ich kann es aber nicht glauben: Für 50 DM soll ich in 10 Minuten über die Grenze sein? Und was ist, wenn er mich nur übers Ohr hauen will? Nach einer viertel Stunde, in der wir nicht einen Meter weitergekommen sind, ist mir alles egal.

Ich riskiere es und bedeute ihm, dass ich einverstanden bin.

Er steigt zu mir in den Wagen und wir fahren an der ganzen Schlange vorbei, bis vor den Schlagbaum. Dort stehen ein paar junge Leute, offensichtlich Kumpane von ihm, sie weisen mich als ersten in die Schlange ein – niemand von den anderen Autofahrern murrt merkwürdigerweise, ich erhalte diesen gestempelten Zettel, er seine 50 Mark, dann gibt er dem Zöllner am Schlagbaum ein Zeichen und verschwindet.

Nach zwei Minuten kommt der Zöllner zu mir, lässt sich den Zettel zeigen und winkt mich durch.

Passkontrolle, Zollkontrolle, Zollerklärung für das Auto, Eintrag meiner Autonummer ins Visum. Die ganze Prozedur hat keine 15 Minuten gedauert. Dieser gestempelte Zettel scheint das ‚Sesam öffne dich‘ zu sein; durch drei Schlagbäume, diesseits und jenseits des Bug (Grenzfluss) muss ich noch, und immer wird nach diesem Zettel gefragt. Am letzten Schlagbaum stehen zwei einfache Soldaten; sie fragen nur noch nach Wurst und Zigaretten.

Ich bin dank der polnischen Mini-Mafia fast pünktlich in Russland! Eigentlich bin ich ein Gegner dieser Mafiosi-Praktiken. Ich hatte mir geschworen, bei so etwas nie mitzumachen. Mein Gewissen muckt auf!

Mit dem Gedanken, dass meine Planung, vielleicht sogar meine ganze Reise ins Wasser gefallen wäre, weil ich morgen noch nicht über der Grenze wäre, kneble ich das Gewissen. Widerwillig schweigt es.

Hinter dem letzten Schlagbaum fahre ich langsam an den Rand der breiten Straße, immer um mich blickend, ob ich einen jungen Mann in der Menge der hier wartenden Menschen ausmachen kann, der ein Zeichen des Erkennens gibt. Er weiß, dass ich mit einem Bus, natürlich mit deutschem Nummernschild oder deutscher Zollnummer komme. Um sicher zu gehen, hat er ein Passfoto von mir, das ich Nikolai und Tanja gegeben habe. Mit diesem Foto wird er sich mir gegenüber auch als der Richtige ausweisen.
Während ich noch um mich schaue, steht er wie aus dem Boden gewachsen neben mir und zeigt das Bild.

Dem Himmel sei Dank, es ist geschafft.

Er heißt Pascha, zu Deutsch Paul, und spricht nur Russisch, was kein Fehler ist, denn während des Fahrens schweige ich am liebsten und denke.

Die Straße, eine sehr breite Autobahn, ist gut und schnurgerade soweit das Auge reicht. Genau in dieser Richtung liegt Moskau, denn die Straße führt tatsächlich über 1100 km fast schnurgerade durch das Land. Aufs Gaspedal und ab!

Schade, dass es jetzt schnell dunkel wird, so sehe ich nichts von der unendlich weiten Landschaft Russlands.

Wir sind noch nicht lange gefahren so schnell der Wagen kann, da kommen wir an einem Schild »GAI 2 km« vorbei. Pascha bedeutet mir langsamer zu fahren. Maximal 100 km/h, wenn ich richtig verstanden habe, auf russischen Straßen gilt eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Kurz danach wird das Tempo immer weiter begrenzt bis wir mit 30 km/h – Pascha sagt ‚Radar‘ und achtet darauf, dass ich das vorgeschriebene Tempolimit genau einhalte – auf einen GAI-Posten zurollen: Zwei wachturmähnliche Gebäude stehen rechts und links der Straße und große, im Augenblick geöffnete Schranken über beide Fahrbahnen, das ist der Kontrollposten der Verkehrspolizei. Oben in den Wachtürmen sitzen Polizisten und betrachten mit Ferngläsern den Verkehr, unten an der Straße langweilen sich die Anderen. Sie führen offensichtlich ein gemütliches Leben, denn es ist fast kein Verkehr. Wir haben auf der Fahrt bis hierher kein Auto getroffen oder überholt, einmal ist ein Mercedes 500 ohne Nummernschild an uns vorbei gerauscht, das war alles.
Neben einem der Wachtürme ist ein Parkplatz, auf dem viele Autos stehen; im Vorbeifahren erkenne ich, dass es aber wohl eher ein Schrottplatz ist, denn die Wagen stehen sicher nicht freiwillig hier.
Die GAI-ler beäugen uns kritisch, lassen uns aber unbehelligt weiterfahren. Nach der GAI-Station geht es wieder mit Tempo weiter.

Diese GAI-Posten stehen in schöner Regelmäßigkeit auf allen großen Straßen. Das Straßennetz in diesem riesigen, dünn besiedelten Land ist bei weitem nicht so dicht, wie bei uns, ein Umfahren dieser Posten ist praktisch nicht möglich. Auf diese Weise hat die Miliz den Verkehr (und die Menschen) des Landes gut im Griff. Jetzt verstehe ich etwas besser, warum der Polizeiapparat über das ganze Land hinweg so schlagkräftig sein kann.
Es kann natürlich auch eine gute Seite haben: Wer auf dieser langen Strecke irgendwo gut bewacht in seinem Wagen eine Weile schlaffen will, hat hier die Möglichkeit.

Geöffnete Tankstellen habe ich bisher aber noch nicht gefunden, manchmal stehen junge Kerle mit Benzinkanistern am Straßenrand. Aber Pascha scheint sich keine Sorgen zu machen, vielleicht hat er irgendwo seine ‚eigenen‘ Tankstellen.

Es ist dunkel geworden, ich bin jetzt 18 Stunden mehr oder weniger ohne Unterbrechung am Steuer, es reicht. Pascha fährt weiter. Ich rolle mich in meinem Mantel hinten zwischen das Gepäck und werde schlafen.
Zuvor müssen wir aber noch tanken.

Pascha spricht ein paar junge Kerle bei einem Benzinkanister an; wir fahren über einen Feldweg, nach wenigen Minuten sind wir bei einem Schuppen. In der Dunkelheit kann ich noch einige Holzhäuser oder –schuppen erkennen.

Aus Kanistern bekommen wir 40 Liter Normalbenzin für ganze 30 DM! An den Tankstellen würde der Liter nur ein paar Pfennige kosten.

Hauptsache, wir haben Benzin und kommen so schnell wie möglich aus dieser düsteren Ecke weg.

 

9.00 MZ (Moskauer Zeit), wir fahren in Moskau ein.

In Deutschland ist es jetzt 7.00 MEZ. Das heißt, dass ich in den vergangenen 28 Stunden 2.400 km hinter mir gelassen habe.
Ohne den geringsten Zwischenfall!
Ich habe niemanden der ‚gestaffelten Verbrecherbanden‘ gesehen. Selbst  die gefährdetsten Augenblicke wie das Tanken in irgendwelchen dunklen Ecken waren ereignislos.

Nun, ich bin unbeschadet aber müde bei Elen angekommen.

Dieses Mal werde ich bei ihr wohnen. Ein achtstöckiges Mietshaus (Chruschtschow Stil) in der Warschawskoje Chaussee, einer breiten, in jeder Richtung ungefähr vierspurige Ausfallstraße im vierten Stock. Der in diesen Häusern übliche, vergitterte Aufzug bringt mich nach oben. Elen und ihre Mutter, Mamuschka, begrüßen mich überschwänglich nach russische Sitte. Meine Freude ist zwar auch groß, aber ich bin furchtbar müde und verschwinde erst einmal im Bett.
Der Wagen steht, so wie er ist, unten im Hof.

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