Mein Moskau [35] – Ein Agentenkrimi (Fotos)

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das fünfunddreißigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Den Stadtplan hatte ich natürlich nicht bei mir, konnte also auch nicht zu Fuß gehen. Ich wusste nur, wo ich wohne. Wie ich dorthin komme, wusste ich nicht. Nur die Gegend um die Metrostation war erleuchtet, ansonsten war alles dunkel, Verkehr war um diese Tages- besser Nachtzeit so weit außerhalb kaum noch.

‚Was tun, sprach Zeus, die Götter sind besoffen.‘

Etwas flau war mir schon in der Magengegend.
Okay, denke ich mir, jetzt, wird es sich weisen, wie sicher oder unsicher Moskau hier draußen bei Nacht ist.
Ich stellte mich auf die Straße, hielt den Arm heraus und wartete. Nach fünf Minuten kam ein Auto, es hielt; ich versuchte so russisch wie nur irgend möglich meine Adresse zu nennen, nickte eifrig mit den» Kopf und sagte ‚da, da, da‘ (da heißt ja) als er den Preis nannte. So viel – oder besser so wenig – verstand ich schon in der Zwischenzeit und stieg ein. Kaum saß ich, kam noch jemand angerannt, der auch mitfahren wollte; spätestens jetzt offenbarte sich, dass ich Ausländer war: er sprach mich an, wahrscheinlich, um mich zu fragen, ob er mitfahren darf, und ich konnte nur mit meinem einzigen, fließend gesprochenen russischen Satz ’nje panemaju pa russki‘ (ich verstehe kein Russisch) antworten.
Sofort radebrechten beide auf Englisch los.

Und mir wurde es noch flauer in der Magengegend. Die klassische Steilvorlage für einen Überfall: Ein Westler mitten in der Nacht in einem unbekannten Auto mit kaum erkennbarem Fahrer und einem Unbekannten auf der Rückbank in einem dunklen, totenstillen Außenbezirk von Moskau. Es wäre ein Leichtes, mich auszurauben und dann tot oder lebendig aus dem Auto zu schmeißen.
Aber ich gab mir Entwarnung. Die beiden waren derartig damit beschäftigt, mit ihrem Englisch zu glänzen, dass mir dieses Szenarium unwahrscheinlich erschien. Nur wenn die beiden sich Russisch verständigten, keimte neuer Verdacht in mir auf.
Aber Fehlalarm!!!
Mein Mitfahrer stieg mit mir aus – überflüssig zu erwähnen, dass er den reichen Ausländer zahlen ließ – und wir gingen unserer Wege.

Mit dieser Bewährungsprobe war ich ein echter ‚Moskowitsch‘ (Sohn Moskaus) geworden.
In den Augen meiner Freunde war ich allerdings ein selbstmörderischer Idiot.
Aber was hätte ich tun sollen?

 

Drei Tage vor unserer Abfahrt, Visum und Fahrkarten waren schon gekauft, wäre Elens Fahrt mit mir nach Deutschland dann beinahe doch noch ins Wasser gefallen:

Durch einen reinen Zufall erfuhr ich von Nikolai, dass russische Bürger mit einem deutschen Visum zwar nach Deutschland einreisen, ohne russischen Erlaubnisstempel im Pass aber nicht aus Russland ausreisen dürfen!
Elen meinte, als wir es am Freitag erfuhren – Sonntag war Abreise! „Kein Problem, ich habe einen Onkel im Außenministerium, dort bekomme ich den Stempel sofort.“
Das aufkommende Problem schien gelöst. Wir gingen getrennte Wege.

Um kurz nach drei Uhr kam ich in meine Wohnung, da empfing mich schon vor der Tür unerbittliches Telofonläuten:

„Hans, bitte komme schnell, diesen Stempel zu bekommen, dauert normal heute zwei Wochen! Ich habe drei Adressen, da wird der Stempel sofort gegeben, es kostet aber zwischen 50 und 70 Dollar! Und dort wird um vier oder fünf Uhr geschlossen! Morgen ist nichts möglich! Alles Weitere erkläre ich dir nachher.“

Um kurz nach vier eilten wir durch ein Wohngebiet von Moskau und Elen erklärte:

kgb_emblem_klein„Diesen Stempel bekommt man nur durch den KGB, genau wie Einladungen an Ausländer-West erst vom KGB genehmigt werden müssen. Durch Beziehungen habe ich jedoch erfahren, dass es in der Stadt, einige Orte gibt, an denen Leute, wahrscheinlich vom KGB, diese Stempel gegen Dollar ganz schnell besorgen. Das kostet bei den einzelnen unterschiedlich zwischen 50 und 70 Dollar.
Allein möchte ich dorthin nicht, gehen, aber du hältst bitte dort unbedingt den Mund und sagst keinen Ton; sie sollen nicht merken, dass du Ausländer bist!“

Wir waren inzwischen hei der bewussten Adresse angekommen: Eine Wohnung in einem ganz normalen Wohnhaus. Wie üblich kein Türschild, nur die Wohnungsnummer.

Auf unser Klingeln öffnet ein schwarz uniformierter, bewaffneter Soldat oder Milizionär. Elen nennt ihren Wunsch. Wir werden in einen Raum gewiesen. Dort stehen ein Schreibtisch und drei Stühle, sonst ist alles kahl und leer. Hinter dem Schreibtisch sitzt, ebenfalls ganz in Schwarz, ein Mann, im Hintergrund des Zimmers steht noch ein Bewaffneter, natürlich auch in Schwarz. Wir setzen uns. Nur wenige Sätze werden gesprochen. Elen reicht ihren Pass über den Schreibtisch, ich meine 70 Dollar. Wir stehen auf und gehen.

Draußen auf der Straße musste ich mich kneifen, um festzustellen, dass ich nicht träume. Es war wie im Kino.

„Was hat er denn nun gesagt“, wollte ich wissen.

„Alles geht in Ordnung, hat er gesagt, am Sonntagmorgen um 10 Uhr wird uns in der Metrostation ‚Majakowskaja‘, erster Wagen der aus dem Zentrum kommenden Züge, ein Mann den Pass übergeben. Morgen Abend wird er bei dir in der Wohnung anrufen, um das Treffen noch einmal zu bestätigen.“

Am nächsten Abend kam der angekündigte Telefonanruf. Elen ging ans Telefon.
Sie sagte nur einmal ‚da‘ und legte kurz danach wieder auf.
„Falsch verbunden?“ wollte ich wissen.
„Nein, Hans, es ist wie im Kriminalroman: als ich abnahm, fragte eine Stimme ‚ist, da Helena Seharenkina?‘, ich sagte nur ‚ja‘, dann sagte die Stimme ‚morgen früh, vereinbarter Ort, vereinbarte Zeit‘ und dann hat er aufgelegt.“

Ein Spionagekrimi!

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Am nächsten Morgen, es war Sonntag und die Metrostation fast menschenleer, warteten wir schon einige Minuten vor der vereinbarten Zeit und konnten mit Muße die erst vor wenigen Jahren eröffnete prächtige Station bewundern. Wir waren aber nicht die einzigen, die warteten; auch andere standen, mehr oder weniger betont unauffällig, an verschiedenen Rhodonit-Säulen.

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Punkt 10 Uhr kam mit der Metro aus dem Stadtzentrum ein Mann in schwarzer Lederjacke, nahm einen Stapel Pässe aus der Tasche, blickte um sich, schaute in einen Pass, kam auf uns zu, fragte ‚Helena Seharenkina?‘, Elen antwortete ‚da‘, er gab den Pass und ohne ein weiteres Wort ging er zum nächsten. Zehn Pässe hatte er in der Hand!

Zehn mal siebzig, das macht, siebenhundert Dollar, und das nur weil da jemand Zugriff zu einem wichtigen Stempel hat!

Ich glaube, der KGB beginnt sich privatwirtschaftlich umzuorientieren! Aber ‚eta, fsöranow, ist egal‘, wir haben es geschafft.

Wir sitzen, oder genauer, wir liegen in unserem Abteil und bewegen uns in Richtung Deutschland.

Ein schönes Abschiedsgeschenk habe ich noch ganz zum Schluss bekommen:
Nikolai wusste, dass ich Kontakt zu einem russischen Jugendchor suche, um eine Beziehung zum Fränkischen Jugendchor zu vermitteln.

Noch am Tag unserer Abfahrt waren wir zur Mittagszeit zu einer Probe – wie ich später erfuhr, war es eine Sonderprobe für mich – eines berühmten Moskauer Kinderchores eingeladen. Selbst, der heute nicht mehr aktive Gründer des Chores war gekommen!

Dieser Chor muss wirklich keinen Konkurrenten, sei es den Windsbacher Knabenchor oder wen auch immer, scheuen. Es war ein vollendeter Genuss!
Es muss mir gelingen diesen Kontakt herzustellen.

Zehntausend Kilometer werde ich in diesen drei Wochen zurückgelegt haben, wenn ich wieder in Deutschland bin, geht mir noch durch den Kopf und dann schlafe ich ein.

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