Mein Moskau [32] – Unabhängig!!

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das zweiunddreißigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

In einem Außenbezirk von Moskau, 20 Minuten bis ins Zentrum, in einer Siedlung, habe ich eine Wohnung gemietet. Eine Eckwohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad im achten Stock mit Blick von oben auf tief verschneite Bäume, die zwischen den zwölfstöckigen Wohnhäusern stehen.

Eine wunderbare Ruhe umgibt mich; ich genieße es, endlich auch in einem mehr als drei Quadratmeter großen Raum, sprich Schlafwagenabteil, allein zu sein.

Diese Siedlung ist, dem Stil nach zu urteilen, wahrscheinlich Ende der fünfziger Jahre gebaut, Chruschtschow-Stil, soviel habe ich in der Zwischen­zeit bei meinem ‚Fräulein Professor‘ gelernt.

Die Wohnung gehört der Mutter von Andrej und Anja, das sind Nikolais Freunde, der Lada-Fahrer und seine Schwester, Dolmetscherin für Deutsch. Andrejs Mutter bezieht eine Rente von ungefähr 4.000 Rubel im Monat. Ich bezahle für eine Woche 100 $, das sind zurzeit ungefähr 50.000 Rubel; für dieses Geld ist, sie freudestrahlend eine Weile zu ihren Kindern gezogen.

Einen Tisch gibt es im Wohnzimmer nicht, statt dessen eine Nähmaschine. Ein Sofa, ein Stuhl, ein Fernsehapparat und eine Vitrine, das ist die Einrichtung.
In der Vitrine stehen Gläser und allerlei Krimskrams und ein postkartengroßes bekränztes Bild von Lenin mit seinem markigen Blick. Und an den Wänden hängen zwei große Bilder von der schmerzensreichen Gottesmutter Maria!

‚Lenin und Maria! Hier in Russland ist wohl alles miteinander vereinbar!‘
Aber ich bin sehr froh, dass ich jetzt hier bin.

 

Elen hatte mich freudestrahlend vom Bahnhof abgeholt. Ich fuhr zu Natascha, damit Micha nicht wieder wegen mir zu seinen Eltern aufs Land zieht. Sie nahm mich freudig auf und ich wohnte zuerst einmal bei ihr.
Als ich später Andrej erzählte, dass ich eine Wohnung mieten wolle, hatte ich zwei Stunden später dieses Angebot.

Wir fuhren zu Natascha, um mein Gepäck abzuholen.

Unterwegs, auf der Leningrader Chaussee, bat ich Andrej, anzuhalten, denn ich wollte zu später Stunde an einem der vielen Verkaufskioske noch Blumen für Natascha und Wodka für mich kaufen bevor ich umziehe.

Gesagt, getan, wir gehen gerade zu unserem Wagen zurück, da knallen Schüsse, uns pfeifen Kugeln um die Ohren, Autoreifen quietschen, ein Auto jagt, davon, ein zweites hinterher. Andrej bückt sich hinter das Auto, während ich wie ein Ölgötze mit meinen Blumen und dem Wodka in den Händen auf dem Glatteis stehe und nicht wage, mich schnell zu bewegen, weil ich  Angst habe auszurutschen!

Das Ganze hatte kein zehn Sekunden gedauert; wir stiegen in den Lada, und Andrej beeilte sich weiterzukommen.
Im Wagen lachte Andrej nur, schüttelte den Kopf und meinte:
‚malinkii Chicago w Moskwje!‘ – Klein-Chicago in Moskau!

Als wir mit meinem Gepäck dann glücklich hier ankamen, putzte und wienerte seine Mutter noch fleißig, damit ich ja zufrieden sei mit dieser Wohnung. Anja, seine Schwester, war auch gekommen, und in fließendem Deutsch bekam ich alle weiteren notwendigen Anweisungen.

Es dauerte jedoch noch eine ganze Weile, bis ich das System der Schlösser an der Wohnungstür begriffen hatte: das eine ist nur nach links zu öffnen, das andere nur nach rechts, und eines kann nur von innen geschlossen werden.

Falls niemand die Tür mit einer Handgranate öffnet, bin ich hier sicher wie in einem Burgverlies.

Da ich nun auch wissen musste, wo ich wohne, bekam ich die Adresse dieser Wohnung. Und bei dieser Gelegenheit lüftete sich für mich das Geheimnis der Hausnummern in Moskau:

Dieses System der Hausnummern und Wohnungen in Moskau ist für einen Nichteingeweihten praktisch undurchschaubar:

An keiner Wohnung steht ein Name, sondern immer nur eine Nummer; wer diese Nummer nicht weiß, wird kaum zu seinem Ziel kommen. Aber nicht nur das!
Jede Hausnummer steht meistens für einen Gebäudekomplex, manchmal sind es mehrere Häuser, oder zumindest für ein Haus mit mehreren Eingängen. Die einzelnen Eingänge sind ebenfalls nummeriert.

Der ‚russische Herr Meier‘ wohnt z.B. in der Xyskij-Straße Nummer 3 (dom 3, Corpus 5, Quartier 257).
D.h. er wohnt im Gebäudekomplex Nr. 3, Haus oder Eingang Nr. 5, und Wohnung Nr. 257, wobei die 1. Zahl ‚2‘ bei Quartier 257 (russische Abkürzung „kv“ von kvartir) nicht etwa, das Stockwerk bezeichnet, wie wir es erwarten würden – die Wohnungen sind durchnummeriert.
Man muss also immer noch zusätzlich das Stockwerk wissen, in dem sich die Wohnung befindet, sonst muss man sich eventuell bis in den 12. Stock durchsuchen – und die meisten Häuser in Moskau sind wenigstens sechs- meisten acht- bis zehnstöckig.

Biese Regelung wird nicht nur als normal empfunden, die sich daraus ergebende Anonymität wird sogar begrüßt.

 

Geschlafen habe ich wunderbar, und während ich mein Rührei mit Speck, Brot und Kaffee vertilge, betrachte ich, wie schon erwähnt, die tief verschneiten Bäume unter mir, und stelle fest, dass ich immer noch nicht weiß, ob diese großen schwarzen Vögel, die in den Bäumen sich aufplusternd sitzen, Raben oder Krähen sind.

Eines jedoch weiß ich: es ist grausam kalt. Das Thermometer am Fenster zeigt minus 30°C! bei postkartenkitschig blauem Himmel.

Während Nikolai seit zwei Tagen von einem Amt zum nächsten wandert, (und jeder gibt eine andere Auskunft), um mein Visum verlängern zu lassen – ich habe ein richtig schlechtes Gewissen –, bin ich mit  Bus und Metro zum Roten Platz gefahren.

Zwischen Metrostation und Rotem Platz hat ein junger Mann einen großen Verkaufstand mit Büchern aufgebaut. In erster Linie sind es Kunstbildbände in Russisch, Englisch und Deutsch. Ich bin interessiert und will mir die Bücher ansehen. Bevor ich das erste Buch in der Hand habe, ich habe noch keinen Laut von mir gegeben, werde ich schon von ihm auf Deutsch angesprochen. Ich bin überrascht, denn erstens bin ich vollständig wie ein Russe gekleidet, und zweitens, wenn er mich schon irgendwie als Ausländer erkennt, woher weiß er, dass ich Deutscher bin?

Ich frage ihn, worauf ich zur Antwort erhalte, dass ich vor einiger Zeit mit einer jungen Dame schon einmal hier gewesen sei und mit ihr Deutsch gesprochen habe.
„Alle Achtung, dann haben Sie aber ein gutes Personengedächtnis“, ist meine Reaktion.
„Das war überhaupt nicht schwierig“, meint er, „Sie sind sicher der einzig Mann in Moskau mit Vollbart, der auch noch Pfeife raucht.“ Der junge Mann scheint eine gute Beobachtungsgabe zu haben, deshalb frage ich sofort weiter:
„Hätten Sie mich denn auch ohne diese markanten Merkmale als Ausländer erkannt?“
„Natürlich, Ausländer bewegen sich ganz anders und sie schauen auch ganz anders.“
„Wie denn?“
„Die Bewegungen sind viel freier, lockerer, der Blick ist offener, fordernder aber oft auch kälter, abschätzender“, meint er.
Wenn man es auch sicher nicht verallgemeinern darf, so scheint aber doch etwas Wahres dran zu sein.

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