Mein Moskau [31] – „Du musst wissen, in Russland wird gestohlen.“

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das einunddreißigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Vier Tage später sitze ich wieder auf meinem Bett 1. Klasse Schlafwagen, diesmal von Breslau nach Moskau.

Mein russisches Visum läuft morgen ab. Heute ist der letzte Tag, an dem ich noch über die Grenze darf.
Eigentlich kann nichts mehr schiefgehen, denke ich mir.

In den vergangenen vier Tagen haben wir die Goldene Hochzeit meiner Eltern gefeiert. Es war ein typisch schlesisches Fest. Tagelang wurde vorbereitet.
Ein Schwein, ein Kalb und allesmögliche Federvieh wurde auf dem Altar der Freude geopfert. Die Flaschen Wodka habe ich nicht gezählt.
Ich weiß nicht, wie viele Tanten wie lange gebacken und gekocht haben.

Die Freude, dass das, was nie jemand auch nur im Traum zu hoffen gewagt hatte, möglich geworden war, dass die Goldene Hochzeit hier im Elternhaus meiner Mutter, in dem vor fünfzig Jahren auch die Hochzeit gefeiert wurde, gefeiert werden konnte, diese Freude war riesengroß.

Dabei fing die Feier mit einem Wermutstropfen an:
Zwei meiner Töchter – die älteste war leider verhindert – und meine Frau waren mit dem Zug im Liegewagen angereist.

Nach der Grenzkontrolle hatten sie sich wieder schlafen gelegt, die Tür war durch eine Kette gesichert. Als sie nach zwei Stunden wieder aufwachten, war die Kette geöffnet, alle Pässe und alles Geld waren gestohlen.
Der Schaffner hatte nur mit den Achseln gezuckt, so als ob es ihn nichts anginge.

Die Aufregung war anfangs natürlich groß.

Alle spendeten jedoch Geld für die jetzt ‚armen Verwandten aus dem Westen‘, Ersatzpapiere wurden auf dem Konsulat in Oppeln besorgt, und somit war die Feier nicht nachhaltig gestört.

 

Das Schlafwagenabteil ist mir jetzt schon fast zur zweiten Heimat geworden. Und wieder bin ich allein im ganzen Wagen.

Der Schlafwagenschaffner war vorhin hier und erklärte in einigermaßen verständlichem Deutsch, dass ich in der Nacht, wenn wir über der Grenze in Russland sind, die Kette vorlegen müsse, und zwischen Kette und Tür einen Kleiderbügel schieben solle, damit die Kette gespannt ist und nicht von außen geöffnet werden kann.

Er hat mir alles genau gezeigt: wie die Kette von außen geöffnet werden kann und wie das unmöglich ist, wenn der Kleiderbügel dazwischen steckt.
Die Begründung entbehrte allerdings nicht einer gewissen Ironie:

„Du musst wissen, in Russland wird gestohlen.“

Wenn der wüsste, dass uns das in Polen gerade vorgemacht worden war! Ich habe mich bedankt, ihn aber nicht aufgeklärt.

 

Allmählich habe ich Routine im Überschreiten von Grenzen:
Terespol, alles wie gehabt.

Brest.
Ein junger weißrussischer Grenzer betrachtet meinen Pass, mein Visum, schüttelt den Kopf und scheint, an die Grenzen seines Verstandes zu stoßen.

Er geht, den Pass genau durch:
Ein ukrainisches Transitvisum, abgelaufen.
Ein weißrussisches Transitvisum, gültig.
Lettische, ukrainische und weißrussische Stempel einerseits, tschechische und polnische Stempel andererseits.
Ein russisches Visum, gültig, aber nur noch für einen Tag. Er zeigt, mir, dass das Visum morgen abläuft. Ich sage nur: „Moskwa, Milizia“.

Er nickt ergeben mit dem Kopf, fragt mich nach einer Zigarre, weil ich auch gerade eine Zigarre rauche; ich schenke ihm drei Zigarren, er dankt freundlich, lächelt und verschwindet.
Wahrscheinlich denkt er, dass er es mit einem Verrückten zu tun hat, und da muss man vorsichtig sein.

Den Rest der Reise verschlafe ich; ich habe auch viel Schlaf nachzuholen.
Elen habe ich angerufen, sie wird mich abholen.
‚Fsjö normalna, Hans, du kannst, schlafen.‘

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