Mein Moskau [28] – und wieder ein Abschied

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das achtundzwanzigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Im Deutschen Konsulat für Passangelegenheiten gibt es keine Probleme. Vor den Toren steht eine fast unübersehbare Menschenmenge; alle warten darauf, ein Visum beantragen oder abholen zu können. Als Deutscher zeige ich meinen Pass vor, und kann mit meinen Freunden sofort das Tor passieren. Einladung und Visumantrag sind schnell ausgefüllt, und abgegeben. Drei Rubel werden pro Visum bezahlt, morgen Nachmittag können die Pässe mit  den Visa abgeholt werden.

Russische Staatsbürger, die ihr Visum selbst beantragen, haben dagegen schon größere Probleme:

Zuerst einmal heißt es warten, um die Einladung abgeben und das Visum beantragen zu können; das kann Tage dauern, also ‚otscherit‘ von morgens bis abends. Ist das geschafft, erhält man eine Nummer, die dann in einigen Monaten, wenn das Visum fertig ist, aufgerufen wird: also von neuem ‚otscherit‘ und alle paar Wochen vor dem großen Tor nachfragen, welche Nummern z. Zt. gerade aufgerufen werden; wenn dann die eigene Nummer langsam an die Reihe kommt, heißt es wieder einige Tage ‚otscherit‘ von morgens bis abends.

Visumanträge erhalten zurzeit eine Nummer mit 24 tausendund…, abgeholt werden Visa mit den Nummern 14 tausendund…!

Wir fahren zum Geschäftszentrum und Hotel Slawianskaya, gleich neben dem Kiewer Bahnhof, wo ich hoffe, noch in letzter Minute meinen Telefonanruf loszuwerden, und das muss ich, sonst komme ich mit meinem Gepäck von Breslau unmöglich weiter.

Wie sich doch der Kreis schließt: hier war meine erste Station in Moskau und hier wird auch meine letzte Station sein.

Im ‚Business Center‘ kann ich über eine Spezialleitung nach überall in der Welt direkt telefonieren, was über das normale Telefonnetz nicht möglich ist, 3 $ jede angefangene Minute, das sind 6 Pfennige pro Sekunde. Naja, Hauptsache ist, es geht.

Ich bitte um den ‚City Code‘ von Kedzerzyn Kozle in Polen. Den weiß niemand.

„Dann rufen Sie doch bitte für mich die Auskunft, an.“
„Die Auskunft weiß ihn auch nicht!“
„Wer weiß ihn denn dann?“
„Vielleicht, der KGB“, sagt eine der Damen scherzhaft.
„Dann rufen Sie doch bitte den KGB an. Ich muss dringend nach Polen telefonieren!“
„Wir wissen aber die Nummer vom KGB nicht!“
Ich glaube, ich werd‘ verrückt!

Also ruhig Blut, Hans, und überlegen. In Deutschland würdest du die Auslandsauskunft, anrufen; diese Nummer kennst du aber auch nicht. Deine Familie ist um diese Zeit nicht zu Hause, dort kannst du also auch nicht fragen. Wer kommt sonst noch in Frage? Die Apotheke, in der du zuletzt gearbeitet hast!

Diese Nummer weiß ich auswendig.
Ich rufe dort an.

Ein Riesen-Hallo, als ich mich von Moskau melde und bitte, von der Auslandsauskunft die Vorwahlnummer zu erfragen. – Als ob ich von einem anderen Stern anriefe!

Wenige Minuten später rufe ich zurück und erhalte die Nummer. Ich bin stolz auf mich.

Jetzt scheint alles geklärt; ich rufe in Schlesien an. Tuuut….Tuuut, niemand zuhause!

Erneuter Anruf in der Apotheke mit der Bitte, solange dort anzurufen, bis sie jemanden erreicht haben, damit einer meiner Verwandten mich in Breslau abholt.

Von Moskau über Bayern nach Polen, nur um einen einzigen Satz mitzuteilen! Diese wenigen Minuten Telefonieren haben mich fast halb so viel gekostet wie meine Fahrkarte nach Breslau! Hoffentlich geht, nichts schief!

Gleich neben dem Kiewer Bahnhof ist ein ‚Deutscher Supermarkt‘. Nur deutsche Artikel werden verkauft; sie sind auch in DM ausgezeichnet; bezahlt, wird in DM, Dollar oder Rubel zum Tageskurs; gesprochen wird Deutsch und Englisch, Um allerdings in den Supermarkt zu gelangen, müssen wir uns erst durch die Verkäufermenge um den Bahnhof kämpfen:

Jeder verkauft alles, und das unter großen Schildern, dass das Verkaufen bei Strafe von 500 Rubeln verboten ist. Die Verbotsschilder haben offensichtlich noch nichts von der Inflation gehört!

Ich kaufe im Supermarkt ein, womit ich glaube, Nikolais Familie eine Freude machen zu können. Die Endsumme zeigt mir, dass es wirklich deutsche Preise sind.

Wer kann das hier bezahlen? Ich habe jetzt mehr als einen durchschnittlichen Monatsverdienst, ausgegeben!

Wir bringen unseren Einkauf nach Hause, ich verteile alles, verabschiede mich von Micha und den Kindern, und fahre zu meinem letzten – streng genommen ist es aber auch das erste persönliche – Rendezvous mit Elen. Diesmal ist, es der Dichter Majakowskij, der Dichter der Oktoberrevolution und später der scharfzüngigste Kritiker der Parteibürokratie, den wir uns als Treffpunkt, gewählt haben.

– Eigentlich ein Witz, dass ausgerechnet er, der sich sogar wegen der ‚neuen privilegierten Klasse‘ mit 35 Jahren das Leben nahm, eben von dieser Bürokratie ein Denkmal bekam. Wie muss der Arme im Grabe rotiert sein! –

Wir gehen in ein Caffee in einem Keller, das ganz nett sein könnte, wenn die Einrichtung nicht so vergammelt wäre, und unterhalten uns noch die verbleibende Zeit bis ich zum Bahnhof muss.

Es ist schade, dass wir uns nicht eher getroffen haben; ich glaube, wir haben beide das Gefühl, viel versäumt zu haben. Sicher, ich will wiederkommen, schon allein weil ich hoffe, den vergessenen Kindern helfen zu können. Aber wer weiß? Sind es am Ende nicht vielleicht doch nur die üblichen Versprechungen?

Zur Erinnerung schenke ich ihr ein Foto von mir, sie scheint  sich zu freuen.

Am Bjelorusskij voksal warten am Bahnsteig schon Nikolai, Tanja und Andrej mit meinem Gepäck vor dem wartenden Zug. Ich fahre diesmal in einem polnischen Schlafwagen und werde nicht nur ein Abteil, sondern den ganzen Waggon für mich allein haben.

So herzlich wie die Begrüßung ist der Abschied. Alle weinen. Ich auch.

 

Und wieder sitz ich allein auf meinem Bett. 1. Klasse Schlafwagen, diesmal Richtung Breslau, 21 Uhr ab Moskau, und ’sinniere für mich hin‘:

Eine ereignisreiche Zeit, liegt hinter mir:
Ich kam an in Moskau mit Angst, und bin sogar nach Riga geflüchtet.
In einer anderen Welt habe ich gelebt, nicht, dass ich nur Neues gesehen hätte – ich habe es durchlebt.

Nicht als Tourist, wie aus einem goldenen Käfig, habe ich in eine fremde Welt geschaut, in andere Schicksale war ich eingebunden, so eng, dass ich sie als mein Schicksal empfunden habe.

Als einer, der helfen kann, wurde ich gesehen; mit meiner Kraft habe ich Hoffnung geweckt und Trost gespendet, und doch war ich im täglichen Leben so hilflos wie ein kleines Kind.

Ich fahre zurück in meine Welt, nicht mit dem Gefühl, eine Episode meines Lebens beendet zu haben, ähnlich einem Film, den man mit, großer innerer Anteilnahme gesehen hat und dann beim Verlassen des Filmtheaters ins wirkliche Leben zurückkehrt. Mir ist, als ob hier etwas Neues begonnen hat, als ob sich mein Lebensbereich erweitert hätte. Dies ist ein Teil meines Lebens und wird immer ein Teil meines Lebens sein. Vielleicht habe ich deshalb keinen Abschied empfunden?

Gerade fing ich an hier selbständig zu werden, konnte mich aus der mich auffressenden Gastfreundschaft langsam befreien – für einen ausgeprägten Individualisten, der ich bin, kann diese selbstlose Gastfreundschaft und das Gefühl, darauf angewiesen zu sein, zur Belastung werden. Mir ist, als könnte ich jetzt alles mit eigenen Augen, ohne ‚Blindenhund‘, sehen, als könnte ich jetzt als Teil dieser Welt aktiv werden. Die Welt ist tatsächlich kleiner geworden für mich, nicht weil ich fast fünftausend Kilometer zurückgelegt habe, sondern weil hier, zweieinhalbtausend Kilometer weit weg von der Welt, aus der ich kam, Menschen in mein und ich in deren Leben eingetreten bin; die Lebenskreise haben sich nicht nur am Rand berührt, sie sind im Kern aneinandergestoßen, und das hinterlässt Spuren. Ich bin ein anderer geworden!

Muss ich eigentlich dieses Kennenlernen jetzt unterbrechen, um irgendwann einen dann fast neuen Anfang zu machen?
Was hindert mich eigentlich, nach der Familienfeier wieder nach Moskau zu fahren, um dort selbständig zu werden?
Eine Herausforderung!
Aber nur deshalb?
Sicher nicht.

 

Noch immer bin ich offiziell in Russland gar nicht eingereist. Ich besitze immer noch mein vollständiges und noch für eine Woche gültiges Visum; russische Stempel sind in meinem Pass nicht zu finden, nur ukrainische und lettische. Und in Brest, ist die Grenze zwischen Weißrussland und Polen, nicht zwischen Russland und Polen.

Was wäre, wenn ich an dieser weißrussisch-polnischen Grenze der Meinung bin, dass die Weißrussen mein russisches Visum gar nicht zu interessieren hat? Was kann ich dafür, dass es keine ukrainisch-russische und weißrussisch-russische Grenze mit Zoll- und Passkontrolle gibt?
Und für Weißrussland brauche ich wie für die Ukraine nur ein Transitvisum, ich bin ja tatsächlich nur durchgefahren. Das will ich gern kaufen. Basta.

Sollte es Ärger geben, kann ich das Visum immer noch vorzeigen mit genau dieser Erklärung. Im Übrigen: ’nje panemaju pa russki‘, ich verstehe kein Russisch, was ja auch stimmt.

Wenn der Ärger ganz groß wird, riskiere ich höchstens, dass sie mich aus dem Zug holen und dann später abschieben, eingelocht wird man heute deswegen ja wahrscheinlich nicht mehr. Und da der Zug drei Stunden an der Grenze steht, habe ich größte Chancen, mit genau diesem Zug dann weiterzufahren. Vielleicht ist es auch ganz günstig ein paar Dollar in meinem Pass aufzuheben. Zehn Dollar ‚als eiserne Reserve‘ sollten genügen.

Wenn mir das alles so gelingt, kann ich anschließend, nach der Familienfeier, mit meinem Visum offiziell nach Russland einreisen, d.h. wenn sich dann jemand für mein Visum interessiert.

Ich werde es versuchen. Das gäbe große Augen bei meinen Freunden in Moskau!

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