Mein Moskau [27] – „Trauer muss Elektra tragen“ (Fotos)

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das siebenundzwanzigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Viel Zeit bleibt mir nicht mehr, um meine Geschenke einzukaufen. Auf dem Alten Arbat finde ich russische Trachtentücher in wunderschönen Farben und Mustern, etwas Vergleichbares habe ich noch nicht gesehen. Die Tücher sind so groß, dass sich eine Person ganz darin einhüllen kann, sechs Dollar das Tuch! Hoffentlich gefallen sie nicht nur mir!

Ein Stückchen weiter werden von einem jungen Mann weiße T-Shirts angeboten und – ich traue meinen Augen nicht – auf Vorder- und Rückseite ist in roter Farbe das Porträt von Lenin abgebildet, darunter steht: Mc Lenin und das „Mc“ ist, auch noch dem Zeichen von Mc Donald nachempfunden!
Ich glaube, ein deutlicheres Zeichen, dass sich die Zeiten geändert haben, gibt es nun wirklich nicht mehr!

Wir marschieren weiter und kommen an einem der zahlreichen Denkmäler eines Dichters vorbei. Es ist Puschkin, wie mir Tanja sofort mit einem gewissen Stolz erklärt.

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„Sieh‘ ‚mal Hans, findest du nicht auch, dass Puschkin traurig schaut? In Moskau sagt man, er schaut heute trauriger als früher.“
„Mmm? Ich verstehe nicht.“
„Doch, schau‘ mal, was Puschkin heute die ganze Zeit vor Augen hat!“
Ich begreife immer noch nicht.
„Hans, siehst du nicht? Zwei riesige Leuchtreklamen! Eine von Mc Donald und eine von Coca Cola! Und der Arme kann den Kopf nicht wenden, kann nirgendwo anders hinschauen!“

Das war kein platter Witz! Gottseidank!

 

Es wird Zeit, ich muss zur Universität. Tanja fährt nach Hause, ich fahre mit der Metro zum vereinbarten Treffpunkt.
Schon drei Züge nach mir kommt Elen an. Natascha, erfahre ich, wird nun doch nicht kommen.
„Sie ist eben Künstlerin“, meint, Elen, „da kann sich vieles schnell ändern.“ Nun, ich bin Natascha nicht böse, dass sie nicht  kommt; der Gedanke, mit Elen allein zu sein, ist mir nicht unangenehm; ich bin gern mit ihr zusammen, wir verstehen uns recht gut.

Zehn Minuten Fußweg, und vor uns liegt die Lomonossow-Universität (Moskau hat mehrere Universitäten).

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Ein etwa vierzigstöckiges Hochhaus, sich nach oben immer weiter verjüngend, mit einer langen Turmspitze, die in einem goldenen Mast ausläuft, den ein großer Sowjetstern krönt. Angebaut sind vier verwinkelte Flügel, ungefähr zwanzig Stockwerke hoch, die ebenfalls mehrere niedrigere Türme mit, Säulen und Zinnen tragen.

Diese Art von Gebäuden kenne ich von Bildberichten über Moskau; dieser ‚Zuckerbäckerstil‘ hat sich mir als typisch für das kommunistische Russland eingeprägt.

„Gebaut zwischen 1949 und 1953, eines der letzten Gebäude in stalinistischer Prunkarchitektur, dem ‚Stalin Empire‘, benannt, nach dem Gründer der ersten Moskauer Universität, Michail Lomonossow“, klärt mich mein ‚Fräulein Professor‘ auf.
„Stalin Empire?“
„Ja, Stalin Empire.
„Das ist in der Kunstgeschichte die ganz offizielle Bezeichnung für diese Stilepoche. Es gibt mehrere dieser Hochhäuser in Moskau. Wenn wir Zeit  hätten, könnten wir z.B. das Hotel Ukraine besuchen; du würdest über den Prunk staunen, in dem die Räume ausgestattet, sind: Marmor, Messing, Stuck und Skulpturen von namhaften Künstlern.“

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„Gibt es denn auch ein Chruschtschow Empire?“
„Es gibt einen typischen Chruschtschow Stil, wie es einen Breschnew Stil gibt, aber das ist, kein Empire; beide Stile sind wesentlich nüchterner.“
„Und das hier ist, alles Universität?“
„Ja. Hier im Haupthaus wohnen Studenten, unten ist  die Mensa, und ganz in der Spitze ist die geologische Ausstellung. Da hinauf werden wir fahren.“

Mit dem Fahrstuhl (einmal umsteigen) geht es nach oben.
Und jetzt bin ich doch froh, hierhergekommen zu sein: Man hat einen herrlichen Rundblick, und wir sind hier oben ganz allein. …

 

Am Abend gibt Igor Fedorowitsch eine kleine Abschiedsfeier für mich. Nikolai hat für mich angefragt, ob ich noch jemanden mitbringen dürfe. Wie Nikolai schon meinte, ist das eine Selbstverständlichkeit. Ich nehme Elen mit.

Mir zu Ehren hat Igor sogar noch zwei weitere, Deutsch sprechende Gäste eingeladen.

Es wird, wie immer, ein feucht-fröhlicher Abend mit viel Essen und Gesang. Als ein Trinkspruch auf die Damen ausgebracht wird, laufen diese ganz schnell in die Küche; ich weiß nicht warum.

Zu später Stunde bringe ich Elen nach Hause und wir vereinbaren, uns morgen – oder ist, es schon heute? – am späten Nachmittag zu treffen, um dann gemeinsam zum Belorusskij voksal, dem Weißrussischen Bahnhof, zu fahren, von dem ich abfahren werde.

 

Der nächste Morgen bringt für mich meine ‚Lieblingsarbeit‘: packen. Dieses Packen ist grausam; mit, jedem Stück, das im Koffer oder der Reisetasche verschwindet, werden die frisch gewachsene Verbindungen ein Stückchen mehr zerschnitten; das schmerzt.

Ich komme mir vor wie ein Chirurg, der sich mit seinem Skalpell Stückchen für Stückchen durch das Gewebe arbeitet, hier ein Äderchen durchtrennt und abbindet, dort, eine Vene, weiter etwas Bindegewebe, dann wieder Blutgefäße, und so weiter, und so weiter; und das alles in meinem eigenen Gewebe und ohne Narkose.

Warum kann ich kein stolzes Segelschiff sein, das mit geblähten Segeln schon ungeduldig an seinen Leinen zerrt? Die Leinen werden in aller Eile gekappt; man hört das Schiff förmlich aufstöhnen vor Freude, wenn es sich, befreit von allen Fesseln, auf seinen Weg macht? Mit Freude in eine unbekannte Zukunft! Das wäre schön!

Meine Freude ist, das Wiedersehen mit meinen Kindern und meiner Familie, mein Schmerz ist die Ungewissheit ob, und wenn ja, wann ich die hier lieb gewonnenen Menschen wiedersehen werde. Ich hoffe es!

Und da ist also doch ein bisschen Narkose:
Die Hoffnung ist, die Narkose! Ohne Hoffnung lassen sich keine Schmerzen ertragen.

Die Koffer sind gepackt. Merkwürdig, ich nehme mehr mit zurück, als ich hergebracht habe.

Ich muss noch einmal in die Stadt, Nikolai und Tanja brauchen noch ein Visum für Deutschland, sie werden mich besuchen. Unbedingt muss ich noch nach Schlesien telefonieren, damit, mich jemand in Breslau abholt; es ist mir bis jetzt, nicht gelungen, die Vorwahlnummer des Wohnortes meiner Verwandten herauszubekommen, und endlich will ich Nikolais Kindern noch eine kleine Freude machen.

Damit wir nicht, so viel laufen müssen und wir keine nassen Füße bekommen – Moskau ist immer noch eine kleine Seenlandschaft – fährt uns Nikolais Freund Andrej mit seinem Lada.

Unterwegs an einem großen Platz deutet Nikolai auf einen Gebäudekomplex und erklärt, das sei die Lubjanka.

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„Die Lubjanka? Was ist, Lubjanka?“
„Hans, das ist das Gebäude, in dessen Keller du jetzt, sitzen würdest, wenn du dich vor ein paar Jahren auf dem Kreml so verhalten hättest, wie du es vor wenigen Tagen getan hast; das KGB-Gebäude!“

Nun, bei diesem Anblick und Gedanken wird mir doch ein bisschen mulmig zumute.

Aber was ist das? Mitten auf dem Platz, auf einem großen Denkmalsockel steht ein großes russisch-orthodoxes Holzkreuz!
„Nikolai, was ist, das? Ein Holzkreuz? Hier?“
„Das steht noch nicht lange hier. Früher stand an dieser Stelle die Statue von Dserschinski, dem Begründer der berüchtigten politischen Geheimpolizei Tscheka, das erste Terrorsystem und der Vorläufer der GPU, später NKWD, heute KGB.“

‚Tempora mutantur! Die Zeiten ändern sich!‘

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