Mein Moskau [17] – Jetzt wird’s ernst

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das siebzehnte Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Meine erste Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Moskau! Es ist wahrlich alles andere als ein Spaß! … Für mich! … Nikolai scheinen die Umstände nicht besonders zu berühren – oder zeigt er es nur nicht? Dabei trägt er noch den schwereren, sperrigeren Teil meines Gepäcks.
Warum ist er eigentlich nicht mit seinem Auto gekommen, das er vor einigen Monaten in Deutschland gekauft hat?
Nun, die Verständigung ist schwierig; ich werde es bald erfahren, wenn wir in Ruhe beisammen sitzen.

Wir sind bei Natascha in einem Vorort von Moskau, besser einem Randbezirk der Stadt, etwa 20 km von der Stadtmitte entfernt, es ist 7 Uhr abends, dunkel.
Um auf die Straße zur Bushaltestelle zu kommen, müssen wir uns eine steile, schneebedeckte und, soweit erkennbar, nur zur Hälfte begehbare Holztreppe hinaufhangeln.

Oben an der Straße halten die Busse. Es sind gleich drei Busstationen: eine für Oberleitungsbusse, auf Russisch „trolleibus“ (e und i werden getrennt ausgesprochen) und zwei für normale Busse, auf Russisch „awtobus“; diese Wörter zu behalten, sollte mir nicht schwer fallen. Viele Menschen warten; es schneit.

Die Busse, die an- und abfahren, sind schon bei der Ankunft brechend voll, und ich wundere mich jedes Mal, dass überhaupt noch jemand hineinpasst. Nach dem Prinzip „hau ruck“ kommen doch immer noch ein paar Menschen mit; die Türen gehen zwar teilweise nicht mehr zu, aber niemand regt sich auf; mit schon fast stoischer Ruhe wird gequetscht oder weiter gewartet. Mir wird angst und bange bei dem Gedanken an mein Gepäck. Bei einem der nächsten Busse schaffen es auch wir hineinzukommen; wir fahren zwar nur zwei Stationen, aber die haben es in sich.

Das Aussteigen ist leichter als das Hineinkommen: an der Metrostation werden wir praktisch hinausgespült.

Vor dem Eingang zur Metro, auf einem kleinen Platz, stehen viele kleine Marktstände, jetzt noch um diese Tageszeit! Im Vorbeieilen erkenne ich: Fleisch, Wurst, Schuhe, Eier, Bier, Wodka, Blumen in Glaskästen!! … dazwischen stehen einzelne Menschen mit einem Kleidungsstück über dem Arm, einer hält Schuhe in der Hand.

Ich komme gar nicht richtig zur Besinnung und kann alles nur wie durch einen Fotoapparat in mir ablichten. Immer Nikolai vor mir im Auge geht es durch die Menschenmenge in die Metrostation.

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Dort drückt Nikolai mir eine kleine Plastikmünze in die Hand, die ich an einer der vielen schmalen Schleusen in einen Schlitz werfen muss, dann erst kann ich durch die Schleuse gehen und bin in der Metro; dass das Ganze schnell gehen muss, versteht sich von selbst, denn ich schwimme in einem Strom von Menschen.
Ich bin jedoch nicht schnell genug: die Schleusen sind so schmal, dass immer nur einer durchgehen kann, also muss ich meine große Reisetasche vor mir her tragen; irgendwie habe ich es aber ungeschickt angestellt: als ich gerade mitten in der Schleuse bin, schlagen von rechts und links in Oberschenkel-Hüfthöhe zwei kleine Türchen zu, treffen mich empfindlich, und mein Gepäck ist auf der einen Seite und ich noch auf der anderen.
Der am Eingang stehende Kontrolleur befreit mich. Kaum bin ich befreit, da spült mich auch schon die Menschenmenge auf eine der abwärts fahrenden Rolltreppen. Diese Rolltreppen sind so ewig lang und fahren mit einer solchen Geschwindigkeit, dass mir für unsere deutschen Rolltreppen nur noch die Bezeichnung „Traumtreppchen“ einfällt.

Metro_kurskaja_ring_(c)_wietek

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Unten angekommen schwimmen wir weiter in eine der mit donnerndem Getöse hereinkommenden Züge; und auch das muss sehr schnell gehen.
Es haben sich noch längst nicht alle, die mitfahren wollen in den Zug gedrückt, da ertönt schon eine Ansage, die Türen schlagen zu; dort wo noch jemand in der Tür steckt, gehen die Türen noch einmal auf, aber nur um sofort erneut zuzuschlagen – im doppelten Sinn des Wortes; das geht solange, bis es der Getroffene entweder geschafft hat, in den Zug zu kommen, oder „freiwillig“ verzichtet.

Wir haben es geschafft.

Umfallen kann man jedenfalls in diesen mit schier atemberaubenden Tempo und Getöse fahrenden Zügen nicht – so viel Platz ist nicht.

Mir war schon auf der Rolltreppe trotz aller ungewohnten Hektik aufgefallen, dass nicht wenige Menschen in diesem Getümmel Bücher lesen; auf der Rolltreppe, während des Laufens und auch hier stehend im Zug. Ein wahrlich ungewöhnliches Bild!

Nachdem wir die Metro verlassen haben, vor der Metrostation das gleiche Bild: es ist jetzt 8 Uhr Abend, es schneit bei geschätzt minus 10 Grad, auf dem Vorplatz Marktstände, in denen die unterschiedlichsten Waren angeboten werden – auch hier wieder Blumen; und einzelne Menschen, die irgendetwas verkaufen, eine alte Frau bietet sogar zwei Flaschen Bier an!

Wir befinden uns in einem Altbaugebiet ziemlich in der Stadtmitte; die Häuser sind ungefähr zehn Stockwerke hoch, breite Straßen, wenig Verkehr. Vorsicht ist geboten, denn die Gehwege sind nicht von Schnee geräumt. Durch eine große Hofeinfahrt gelangen wir zu den verschiedenen Hauseingängen.

Als ich die schief in den Angeln hängenden Türen unseres Einganges sehe, wird mir doch etwas mulmig in der Magengegend; das Gefühl verstärkt sich als ich ins Treppenhaus komme, und als ich vor dem Aufzug stehe, hält mich allein der Gedanke, dass Nikolai denselben ja wohl öfter benutzt, davon ab, lieber die sieben Stockwerke zu Fuß zu gehen.

Der Aufzug hält ratternd und krachend in unserem Stockwerk an, und ich bin froh, so schnell wie möglich aus diesem Käfig herauszukommen.
Auf die Geräusche unseres Aufzuges hatten augenscheinlich schon einige gewartet, denn sofort geht eine Wohnungstür auf; zwei Mädchen, ungefähr sechs und neun Jahre alt, und Nikolais Frau Tatjana begrüßen mich stürmisch wie einen lange und heiß ersehnten Freund.

Die Wohnung besteht aus vier Zimmern, Flur-, Küche, Bad und Toilette. Es sind hohe und große Räume einer typischen Altbauwohnung.

Noch während ich mich aus meinen verschiedenen Winterschichten schäle, kommen aus einem der Zimmer eine Frau und ein Kind; sie begrüßen mich kurz und gehen in die Küche. Offensichtlich wohnen sie ebenfalls hier.
In dem anderen Zimmer, in das ich nur kurz hineinschaue, schlafen wohl Nikolai, seine Frau und die Kinder; es gibt keinen Schrank, die Kleider hängen an der Wand bzw. sind dort gestapelt; ein Tisch, Stühle und mehrere Kisten stehen an der anderen Wand; von den Doppelfenstern sind mehrere zerbrochen und notdürftig geflickt; aus der Tür ist ein Stück herausgesagt, dort war wohl einmal ein zusätzliches Schloss, das man nur noch auf diese Weise öffnen konnte.
An der einen Wand des Flures steht eine etwa drei Meter lange Garderobe, in der unzählige Wintermäntel, Mützen und Hüte hängen, auf dem Fußboden steht eine ganze Batterie Winterstiefel in allen Größen. In der Küche stehen drei Kühl- und zwei Küchenschränke, die sicher schon bessere Zeiten gesehen haben, ein Gasherd, auf dem eine Flamme brennt, ohne dass etwas gekocht würde, und quer durch den Raum sind Wäscheleinen gespannt, an denen Kinderwäsche zum Trocknen hängt. Vermischt mit dem Essensduft, ergibt das eine Luft wie in einer Großküche.
Wir gehen alle gemeinsam in ein anderes Zimmer. Dort hängt an der einen Wand ein großer, schöner Orientteppich; zwei Bücherschränke voller Bücher, ein breites Bett, ein Fernsehapparat, eine Frisierkommode und ein Tisch stehen in diesem Zimmer.

Wir setzen uns an den gedeckten Tisch; es gibt Tee, Brot, Speck, Quark, Wurst, Knoblauch, Zwiebeln aber auch Nüsse, genauso, wie ich es liebe. Während wir essen kommt ein junger Mann ins Zimmer, der mich ebenfalls – ich komme mir langsam bei dieser andauernden Wiederholung kindisch vor – freundlichst begrüßt; er ist ein Freund von Nikolai und wohnt in diesem Zimmer. Er spricht von „seiner Wohnung“, Nikolai spricht von „seiner Wohnung“, und als ich nachfrage, erfahre ich, dass die beiden anderen Zimmer auch jeweils einen anderen Besitzer haben.

Langsam komme ich zu der Überzeugung, dass es vielleicht doch ein Fehler war, von Natascha wegzugehen; aber Nikolai sprach davon, dass ich in „seiner Wohnung“ wohnen könne; dass seine Wohnung nur aus einem Zimmer besteht, hat er nicht gesagt. Soll ich etwa irgendwo zusätzlich mit ihm und seinen Kindern im Zimmer schlafen? Das kann heiter werden! Und was heißt diese Wohnung „gehört“ dem und dem? Nach und nach lichtet sich für mich das Dunkel:

Jeweils eine Familie hat ein Zimmer gekauft; mit Geld bezahlt. Es ist ihr Eigentum; Küche, Bad, Toilette und Flur werden gemeinsam benutzt; es ist jeweils „ihre Wohnung“. Sie können diese Wohnung weiterverkaufen oder auch gegen eine andere tauschen. Nikolai hat z.B. diese Wohnung gegen seine frühere und ein Auto, das er aus Deutschland mitgebracht hat, eingetauscht. Das geschieht alles offiziell und wird mit Kaufvertrag auch behördlich registriert und eingetragen. Diese Form der Wohnung ist auch nichts Besonderes; ‚eta normalna‘ höre ich wieder einmal. Natürlich gibt es auch andere, größere Wohnungen, die man mieten aber auch kaufen kann, wenn man über das entsprechende Geld verfügt.

Das Haus hat früher dem KGB gehört, erfahre ich; scherzhaft mein Nikolai, sie seien wahrscheinlich wegen der vielen „tarakan“ ausgezogen. Mein Wörterbuch übersetzt: „Schaben“. Gute Güte, das kann heiter werden! Auch, wo ich schlafen werde, klärt sich langsam auf:

Ich werde in diesem Zimmer wohnen. Freund Micha – so heißt der Besitzer dieses Zimmers – zieht für die Zeit, in der ich hier bin, zu seinen Eltern, die ungefähr 30 km außerhalb von Moskau wohnen.

Ich bin nicht nur sprachlos sondern auch unangenehm berührt und will es nicht annehmen.

Micha will bei diesem Wetter jeden Tag zwischen seiner Arbeit hier in Moskau und der Wohnung seiner Eltern draußen auf dem Land hin und her pendeln! Das kann ich nicht annehmen! Ich will morgen wieder zu Natascha, dort mache ich nicht solche Umstände!

Mit diesem Vorschlag stoße ich jedoch auf heftigen Widerstand: nein, das sei normal, selbstverständlich, bedeute keine Umstände usw., usw., usw. Will ich mich nicht im Streit von ihnen trennen, muss ich das Angebot annehmen. Nun versuche ich wenigstens, Micha für die entstehenden Unkosten Geld zuzustecken. Das ist allerdings der größte Fehler, den ich machen kann: „Hans, bist du unser Freund, willst du uns beleidigen?“ Ich gebe kleinlaut nach, entschuldige mich und wiegele ab, um die aufgebrachten Gemüter wieder zu beruhigen.

Genauso schnell wie die Gemüter sich erhitzt hatten, sind sie wieder abgekühlt, und mit einigen Gläsern Wodka ist der Frieden wieder hergestellt. Wir gehen schlafen.

Kakerlake

Kakerlake

Als ich in der Nacht auf die Toilette gehe, merke ich, dass mein Wörterbuch falsch übersetzt; richtig muss es heißen: „Kakerlaken“! Und das in allen Größen – von kleinst bis monstergroß!!

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