Mein Moskau [15] – Deutsche regieren Russland

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das fünfzehnte Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Während der zehnjährigen Herrschaft der Zarin Anna Iwanowna (1730-1740) haben praktisch zwei Deutsche Russland regiert, allerdings nicht zum Wohl unseres Volkes.

Ernst Johann von Bühren, aus einem westfälischen Adelsgeschlecht, in Russland hieß er E. J. Biron, schaltete und waltete nach eigenem Gutdünken mit Hilfe einer von ihm errichteten Geheimpolizei. Der andere war Generalfeldmarschall Christoph von Münnich aus Oldenburg.
„Bironovschtschina“ nannte man im Volk dieses verhasste Terrorregime und hat es als deutsche Fremdherrschaft empfunden.

Im 18. Jahrhundert waren in sehr vielen Bereichen des russischen Lebens Deutsche tonangebend: in Handwerk, Handel, Wissenschaften, Militär, Technik, überall waren es Deutsche, die unser Geschick bestimmten; in der Literatur – ein Alexander Puschkin war noch nicht geboren – blickte man nach Deutschland; in der Musik – Dimitri Bortnjanski kam gerade erst zur Welt – war kirchliche Chormusik Tradition, ansonsten blickte man nach Italien; die bildende Kunst, die Malerei, war durch die kirchliche Ikonenmalerei geprägt, erste Einflüsse der „Öffnung nach Westen“ zeigten sich.

Die nach dem Tod von Peter dem Großen eröffnete Akademie der Wissenschaften war praktisch jahrelang eine deutsche Forschungsinstitution, an der auch deutsch gesprochen und geschrieben wurde. Der deutsche Einfluss war erdrückend.

Michail Lomonossow (1711-1765), der erste namhafte russische Naturwissen­schaftler aber auch Dichter, Mitglied dieser Akademie und später Mitbegründer der Universität Moskau (1755), hatte in Marburg studiert; aber auch er wehrte sich wütend gegen den übermächtigen Einfluss der Deutschen.

Und, wie könnte es anders sein, es war wieder eine Deutsche, die dieses überwuchernde Deutschtum in Russland beschnitt.

Katharina_die_Große_Grand_Duchess_Catherine_Alexeevna_by_I.P._Argunov_after_Rotari_(1762,_Kuskovo_museum)_

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Katharina II, später „die Große“ (1762-1796), war eine geborene Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst; sie heiratete den Großfürsten Peter, später Zar Peter III, trat zum orthodoxen Glauben über und nannte sich Katharina. Im Gegensatz zu ihrem Mann, den man schon als „deutschophil“ oder noch besser „holsteinophil“ bezeichnen kann, stellte sie bewusst ihr Deutschtum in den Hintergrund. Nachdem sie ihren Mann zur Abdankung gezwungen und wahrscheinlich auch hatte ermorden lassen, gewann sie zunehmend die Zuneigung ihrer russischen Untertanen.

Ihrem Einfluss ist die Geburt des russischen Theaters zu verdanken, sie hat Shakespeares für die russische Bühne entdeckt und brachte französisches Gedankengut nach Russland.

Im Unterschied zu Peter dem Großen leitete sie eine bäuerliche Zuwanderung aus Deutschland in die dünn besiedelten Gebiete Südrusslands ein. Während jedoch die bis dahin eingewanderten Deutschen mehr oder weniger in das russische Leben integriert worden waren und zum großen Teil auch russische Staatsbürger wurden, bildeten die Bauern eigene Dörfer mit eigener Verwaltung, deren Vorsteher wie in Deutschland Dorfschulzen waren; ja sie hatten sogar eigene Kreis- und Gebietsverwaltungen, allerdings mit russischer Kontrolle.

Wolgadeutsche_Flüchtlinge_Bundesarchiv_Bild_137-037542,_Westpreußen,_1920

Wolgadeutsche_Flüchtlinge_Bundesarchiv_Bild_137-037542,_Westpreußen,_1920

In mehreren Wellen wanderten damals bis 1897 insgesamt 1,8 Millionen Deutsche ein. Das entsprach 1,4 % der Gesamtbevölkerung. Bis zu den Russifizierungsgesetzen blieben sie deutsche Staatsbürger.“

„Aber sie fühlen sich bis heute als Deutsche! Und daran hat sich auch nichts geändert, nachdem Stalin sie über ganz Russland verteilt bat. Heute kommen die Wolgadeutschen als Aussiedler wieder nach Deutschland zurück.“

„Ja, leider.
Aber ich glaube, ich kann mit meiner Geschichtsstunde langsam zum Ende kommen.

Grundlegend Neues in den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland gab es im 19.Jahrhundert nicht mehr. Es war die übliche Machtpolitik der regierenden Häuser mit wechselnden Partnern; einmal verschlechterten sich die Beziehungen, dann verbesserten sie sich wieder. Es würde wirklich zu weit führen, auf das ganze Auf und Ab einzugehen.

Erst im 1. Weltkrieg änderte sich für die Deutschen in Russland die Situation grundlegend: im Februar 1915 wurden die ersten Liquidationsgesetze gegen die seit Generationen im Lande lebenden und wirkenden bäuerlichen Siedler deutscher Herkunft erlassen, am 10. Mai folgten die ‚Regeln über Handelsfirmen, die feindlichen Untertanen gehören‘ und am 28. Mai brach in Moskau ein Sturm aus auf alles, was deutschen Namen trug. Das war ein Ausbruch, den man nur mit den bei uns so wohlbekannten Pogromen der Judenverfolgung vergleichen kann und er war zweifellos wie viele dieser Pogrome behördlich angeregt und gesteuert.

Vertrag_von_Rapallo_Reichskanzler Joseph Wirth (2. v. l.) mit den Vertretern der sowjetrussischen Seite Krassin, Tschitscherin und Joffe

Vertrag_von_Rapallo_Reichskanzler Joseph Wirth (2. v. l.) mit den Vertretern der sowjetrussischen Seite Krassin, Tschitscherin und Joffe

Trotzdem entstand nach dem 1. Weltkrieg wieder ein Klima des Vertrauens und Verstehens zwischen Deutschland und Russland, wie es im Vertrag von Rapallo 1922 zum Ausdruck kam. Das hatte niemand erwartet, und die anderen Staaten reagierten auch entsprechend aufgeregt.

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