Mein Moskau [11] – Zweite Ankunft in Moskau

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das elfte Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

Morgens um 715 Uhr geht mein Flugzeug nach Moskau zurück.

Oksana hat ein Taxi bestellt und geht auch nach unten, als das Taxi kommt, um das Ziel zu nennen und den Fahrer zu bezahlen, damit ich nicht wieder über den Löffel balbiert werde.

Das Ticket kann ich noch vor dem Abflug kaufen, es besteht keine Gefahr, dass die Maschine ausgebucht ist.

Ich bin gespannt, was der Grenzbeamte sagen wird, denn ich habe immer noch kein lettisches Visum.

Es ist sogar derselbe, der mich bei der Einreise kontrolliert hat. Er blättert durch meinen Pass, stutzt: „Visum?“

„Die Elisabetstraße war geschlossen.“

Er nickt nur mit dem Kopf, knallt einen Stempel in meinen Pass, und winkt mich weiter; keine Zollkontrolle, nichts. Ich hätte den halben Goldschatz von Lettland mit nach Moskau nehmen können.

Im Flugzeug spreche ich wieder mein Gedächtnis auf Band.

Ich bin müde von der kurzen Nacht, aber auch innerlich leer, ausgelaugt von den vielen Gefühlen, betroffen von dem Abschied, den ich immer noch als ein Stückchen Sterben empfinde.

Da hilft auch nicht der hinreißend schöne Anblick der blutrot aufgehenden Sonne, die die dichte Wolkendecke unter mir von kitschig rosa bis golden färbt.

Warum bildet man sich nur hier überall ein, es gehöre zum modern sein oder beweise gar, dass man modern ist, wenn aus dem Lautsprecher, sei es das Radio oder der Bordlautsprecher, wilde Pop- oder wie-sie-sonst-heißen-mag -musik dröhnt.

Dieses kritiklose Kopieren westlicher Lebensart, oder dessen, was man für westliche Lebensart hält, kotzt mich an!

Ich bin gespannt, wer und was mich am Flughafen Scheremetjevo 1 in Moskau erwartet. Schiefgehen kann jetzt nichts mehr, denn selbst wenn in den letzten Tagen Zoll- und Grenzkontrollen eingerichtet worden sein sollten, kann mir nichts mehr passieren; die ukrainischen Grenzbeamten haben mein russisches Einreisevisum damals nicht gestempelt, also bin ich offiziell noch nicht in Russland gewesen.

Landung.

Nichts hat sich geändert, keine Pass- und Zollkontrollen. Ich bin wieder in Moskau und offiziell immer noch nicht in Russland eingereist. Gebe Gott, dass sich das Problem Wohnen schon ein bisschen zwischen Nikolai und Natascha geklärt hat; ich habe ehrlich Angst, einen von beiden vor den Kopf zu stoßen.

In der Ankunftshalle – ich stelle erneut meine Uhr um eine Stunde vor – wartet Nikolai auf mich, allein; Natascha ist also nicht mitgekommen.

Nikolai, vierzig Jahre alt, groß, schlank, mit wuchtigem Schädel, auf dem die typisch russische Fellmütze thront, darunter schaut seine fast nicht zu bändigende leicht angegraute Haarmähne hervor; sein Gesicht, leicht pockennarbig, strahlt Ruhe, innere Ausgeglichenheit und Freude aus. Er trägt noch immer dieselbe Brille mit dem Sprung im linken Glas, wie als ich ihn vor sechs Monaten kennengelernt habe; in seinem grauen Wintermantel ist er eine imposante Erscheinung. Vollständig wird seine Erscheinung jedoch erst, wenn er anfängt zu sprechen: ein tiefster, wohltönender, fast könnte man sagen dröhnender, russischer Bass lässt ihn dann zum Prototypen eines Ur-Russen werden.

Nach alter russischer Sitte liegen wir uns in den Armen, klopfen, ja schlagen uns auf den Rücken, küssen uns immer wieder auf die rechte und die linke Wange und dröhnen vor Freude – auch mein Bass ist nicht von schlechten Eltern, so dass sogar hier die Umgebenden auf uns aufmerksam werden.

Draußen warten sein Freund und das junge Englisch sprechende Mädchen, Jane, in einem Lada Niva auf uns; das Gepäck ist schnell verstaut; wir fahren in die Stadt.
Da die Wohnung von Natascha auf dem Weg liegt, werden wir zuerst dorthin fahren.
Dort muss ich mich dann entscheiden, wo ich wohnen werde, bei Nikolai, bei Natascha oder – eine neue Variante – bei den Eltern dieses Mädchens, bei Igor Fedorowitsch.

Hier in Moskau hat es in den letzten Tagen weiter geschneit, die großen Straßen sind geräumt, riesige Schneeberge am Straßenrand werden von schneefressenden Ungetümen auf Lastwagen gespien und abgefahren; gesalzen werden die Straßen jedoch nicht.

Bei Natascha angekommen haben wir zuerst wieder das gleiche Problem, wie damals bei Igor Nikonov: in dem Hochhauskomplex müssen wir Nataschas Haus finden; wir fragen uns durch.

Diese in der Anlage freundliche, ungefähr zwanzigstöckige Hochhaussiedlung – insgesamt sind es mindestens 15 Blöcke – ist sicher nicht älter als zehn Jahre, trotzdem sind die Eingänge und Treppenhäuser vergammelt: die großen Eingangstüren gehen nicht mehr richtig zu, Glasscheiben fehlen und im Treppenhaus liegt einiger Dreck und Abfall herum, und es riecht auch danach; nicht sehr Vertrauen erweckend.

Im Haus steigen wir durch mehrere Stockwerke, um die Wohnung zu suchen. Nirgends sind Namensschilder, überall nur Nummern an den Türen.

Nataschas Wohnung dagegen – eine große Fünfzimmerwohnung – ist gepflegt, schön, mit dicken Teppichen und auch sonst stilvoll und gemütlich eingerichtet. Ich habe den Eindruck, dass hier kunstliebende und kunst­verständige Menschen wohnen.

Natascha ist eine schöne, leicht exotisch aussehende Frau, etwa Mitte Dreißig; wie Galinka hat sie sicher Mongolen- oder Kasachenblut in ihren Adern. Auch sie begrüßt mich herzlich wie einen alten Bekannten. Wir müssen uns sofort setzen, es gibt Tee und etwas zu essen.

Eine Verständigung ist leider sehr schwierig, denn sie spricht weder Deutsch noch Englisch. Jetzt können Jane und Nikolai helfen, später wird es ohne Dolmetscher dann aber schwierig werden.

Soviel ist jedenfalls klar, ich muss unbedingt, erst einmal bei ihr bleiben, denn heute Nachmittag kommt ein Onkel von ihr und der spricht perfekt Deutsch, dann können wir alles Weitere besprechen; sie hat viele Fragen, auch und vor allen Dingen wie es ihrer Freundin Galina geht. Ihre Freundin, die Deutsch sprechende Kunsthistorikerin, werde ebenfalls kommen. Gegen Abend wird Nikolai anrufen, dann wird die Entscheidung gefallen sein, wo ich wohnen werde.

Mein erster Eindruck hat mich in der Tat nicht getäuscht: Natascha ist Künstlerin; sie arbeitet aus Muscheln und Halbedelsteinen mit kleinsten „Zahnarztbohrern winzige Reliefs heraus, Gemmen oder Kameen, die dann zu Schmuck weiterverarbeitet werden. Freudig und stolz zeigt sie mir all ihre Schätze.

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