Leb wohl, Europa? Immer weniger Russen halten Russland für ein europäisches Land© russland.NEWS

Leb wohl, Europa? Immer weniger Russen halten Russland für ein europäisches Land

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum aus dem Jahr 2008 dachten 52 Prozent der Befragten, dass Russland zu Europa gehört, während 36 Prozent das Gegenteil glaubten. Im Vergleich zu 2008 denken fast doppelt so viele Russen heute, dass Russland nicht Europa ist, und halb so viele, dass Russland Europa ist. Das sind vor allem junge Menschen. Unter den 18 bis 39-Jährigen sagen 70 Prozent, Russland sei kein europäisches Land.

Heute assoziieren sich die Menschen eher mit ihrer Region: zum Beispiel Moskowiter oder Bewohner des Fernen Ostens.

„Die Desidentifikation mit Europa ist ein schwankender Prozess. In allen 30 Jahren unserer Messungen gab es im Moment des Zusammenbruchs der Sowjetunion die stärkste Orientierung auf die Integration mit Europa. Damals hofften 60 Prozent, dass wir eines Tages der europäischen Gemeinschaft beitreten würden, 40 bis 45 Prozent glaubten, dass wir uns integrieren, der Nato beitreten sollten. Dies wurde als die einzige Möglichkeit gesehen. Alle Probleme hingen mit dem langjährigen Bestehen des Sowjetsystems zusammen, das nach Meinung der Russen zu Degradierung und Zusammenbruch führte. Damals waren solche sadomasochistischen Reaktionen der Bevölkerung sehr verbreitet: wir sind die Schlimmsten, wir sind ein Volk von Sklaven. Daher gab es eine natürliche Tendenz zur westlichen Entwicklung: Russland sollte dem globalen Weg folgen“, sagt der Direktor des Lewada-Zentrums Lew Gudkow. „Das ist verständlich, denn der Westen wurde immer als eine Art Utopie dessen wahrgenommen, was die Menschen zu Hause gerne hätten – Wohlstand, Menschenrechte, Rechtsschutz, Demokratie, Freiheit. Später wurde dies verwischt. Ende der 90er Jahre entstand unter dem Einfluss der kommunistischen Propaganda eine negative Einstellung: die ganze Perestroika sei eine Verschwörung gegen Russland, um die Sowjetunion zu zerstören und so weiter. Mit der Machtübernahme von Putin wurde dieses Ressentiment bereits von der ganz bewussten Propaganda überlagert.

Das Jahr 2008, vor der Krise, war der Höhepunkt des Wohlstandes. Nach Putins Münchner Rede verschärfte sich allmählich die neue Konfrontationslinie mit dem Westen. Die alte Einstellung zum Westen wurde von den älteren Menschen bewahrt, die die Perestroika noch erlebt haben und immer noch glaubten, dass der Weg Russlands die Modernisierung und der Beitritt zu Europa ist, und dass dies der einzig mögliche Weg zum Wohlstand ist. In Moskau glauben natürlich 47 Prozent der Einwohner, dass wir Europäer sind, aber auf dem Land, in den Provinzen, nimmt das ab. Wenn wir irgendwo in Tscherepowez Fokusgruppen durchführen, wird uns gesagt: „Nun, Tscherepowez ist doch kein Europa!“ Das ist Russland mit seinen Komplexen, der Armut, der Not und so weiter. Minderwertigkeitskomplexe und Isolationismus nehmen nun zu. Es gibt einen Wunsch nach Schließung, ein drückendes, bedrückendes Bewusstsein, dass wir uns in einer aussichtslosen Krise befinden, weil die Einkommen seit zehn Jahren nicht mehr wachsen, und das Gefühl der Stagnation, der Perspektivlosigkeit wächst.“

Gleichzeitig nimmt die positive Einstellung gegenüber der EU seit 2018 zu. „Die Müdigkeit, die sich nach der Krim-Mobilisierung angesammelt hat, die Rentenreform verursachte scharfe Empörung, ein Gefühl der Beleidigung und des Betrugs. Alle propagandistischen Allgemeinplätze begannen an diesem Punkt zu schwächeln, und positive Einstellungen wurden wiederhergestellt: gegenüber der EU in höherem Maße, gegenüber den USA in geringerem Maße. Die Wahrnehmung von Europa ist grundsätzlich ambivalent. Sie ist ein Bezugspunkt und ein sehr wichtiger Bestandteil der Modernisierungsvorstellungen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch das re-sentimentale Bewusstsein: Wir werden nie Teil Europas werden können, wir sind rückständig, arm und so weiter. Und es entsteht eine Abwehrkomponente: „Wir haben einen besonderen Weg, eine besondere Zivilisation, und es ist besser, sich davor zu verschließen“. Wenn es eine politische oder geopolitische Krise gibt, militärische Niederlagen, gibt es immer eine Kehrtwende. Heute befinden wir uns einfach in der Phase eines starken Erstarkens des Konservatismus“, so Gudkow.

[hrsg/russland.news]

COMMENTS