Lawrows Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz

Außenminister Lawrow begann seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz mit einem geschichtlichen Rückblick. Denn aus der Geschichte müsse gelernt werden, sagte er, sich auf den großen russischen Historiker W. O. Kliutschewski beziehend.

„Vor 80 Jahren, 1938, hier in München, wurde eine Einigung über die Teilung der Tschechoslowakei erzielt, die zum Auftakt des Zweiten Weltkrieges wurde. Später, im Nürnberger Prozess, erklärten die angeklagten Führer des Dritten Reiches – insbesondere Generalfeldmarschall von Keitel –, um die Münchner Verschwörung zu rechtfertigen, es sei ihr Ziel gewesen ‚Russland aus Europa zu vertreiben‘. In der Tragödie von München spiegelten sich alle Schmerzpunkte jener Zeit wider. Unter ihnen ist der Glaube an die eigene Exklusivität, Uneinigkeit und gegenseitiger Argwohn, der Verlass auf den Bau von „sanitären Absperrungen“ und Pufferzonen und die unverhohlene Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder.“

Diese Erinnerungen, meint Lawrow, seien besorgniserregend, wenn man sie mit der Realität der Gegenwart vergleiche, mit den Versuchen einer skrupellosen Verzerrung der historischen Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg und der vorangegangenen Ereignisse und mit der Rehabilitierung der Nazis und ihrer Komplizen in einigen EU-Ländern, wo die Gesetzgebung sie mit den Befreiern Europas gleichsetzt und wo Denkmäler für die Sieger über den Faschismus zerstört werden.

„Eigentlich hätte die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und die anschließende Teilung des Kontinents im Zeitalter der bipolaren Konfrontation den Menschen in Europa für immer die Überzeugung vermitteln sollen, dass es keine Alternative zum Aufbau eines „gesamteuropäischen Hauses“ gibt, und dass seine Bewohner nicht in „unsere eigenen“ und „Fremde“ geteilt werden dürfen. Das Integrationsprojekt Europäische Union beruht ja auf dem Wunsch der Gründerväter, Rückfälle in die Konfrontation, die den Kontinent immer wieder in eine Katastrophe stürzten, zu vermeiden.

Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands, in der Russland eine entscheidende Rolle gespielt hat, haben wir viele Jahre lang versucht, ein Gebäude der gleichen und unteilbaren Sicherheit in der euro-atlantischen Region aufzubauen. Wir haben unser militärisches Potenzial an den Westgrenzen deutlich reduziert. Konsequent befürworteten wir die Stärkung der europäischen Institutionen, vor allem der OSZE, und forderten die Harmonisierung der vertragsrechtlichen Regelungen im Bereich der europäischen Sicherheit.

Leider sind unsere Forderungen nach einem gleichberechtigten Dialog und der Umsetzung des Prinzips der Unteilbarkeit der Sicherheit in die Praxis, nicht gehört worden.

Im Gegensatz zu dem, was uns in den 1990er Jahren zugesichert wurde – und dies wurde erst kürzlich durch die Veröffentlichung von Dokumenten des Nationalarchivs der Vereinigten Staaten bestätigt – hat sich die NATO nach Osten ausgeweitet. An unseren Grenzen werden militärische Einheiten aufgestellt und die militärische Infrastruktur der NATO wird installiert. Systematisch bereitet die Allianz einen Kriegsschauplatz vor. In Europa werden Pläne zur Schaffung eines US-Raketenabwehrsystems umgesetzt, das die strategische Stabilität untergräbt. Es wird zielgerichtete Propaganda betrieben, die in der westlichen Öffentlichkeit eine feindselige Haltung gegenüber Russland hervorruft. Im Establishment vieler Länder ist es fast eine neue Regel der politischen Korrektheit, über unser Land „entweder schlecht oder gar nicht“ zu sprechen.“

Lawrow erinnerte an die Versprechen, die im Rahmen der „Östlichen Partnerschaft“ Russland gegeben wurde. Russland fordere, dass diese Versprechen eingelöst werden, statt sich in Russophobie zu ergehen.

Ein Ergebnis dieses Verhaltens sei der Ukraine-Konflikt. Hier sei die Ukraine vor die falsche Wahl gestellt worden, sich entweder für die EU oder Russland zu entscheiden. Und anschließend hätten die Staaten, die eigentlich Garanten der Lösung des Konflikts sein sollten, einen verfassungsfeindlichen Staatsstreich unterstützt.

„Heute ist ein Land mit einem großen Lebenspotenzial und einem talentierten Volk in einen Zustand der Unfähigkeit, sich selbständig zu verwalten, versetzt worden. Russland ist wie kein anderer daran interessiert, die interne ukrainische Krise zu lösen. Der Rechtsrahmen ist bereit -– es ist das Minsker „Maßnahmenpaket“, das von Russland, Deutschland, der Ukraine, Frankreich zusammen mit Donezk und Lugansk entwickelt und vom UN-Sicherheitsrat genehmigt wurde. Wir müssen es strikt umsetzen. Bisher wurden die entsprechenden Bemühungen der Kontaktgruppe und im „Normandieformat“ jedoch von Kiew, das offiziell ein militärische Szenario verkündet, offen sabotiert. Ich bin mir sicher, dass die EU die ganze Gefahr einer solchen Umkehrung versteht.

Leider wird versucht, die Länder der gemeinsamen Nachbarschaft Russlands und der EU, sei es in der GUS oder auf dem Balkan, zu zwingen, eine Wahl zu treffen – Westen oder Osten. Die deutsche Zeitung „Die Welt“ erschien kürzlich mit der Überschrift „Die EU oder Putin – wer wird den Westbalkan bekommen“. Und das ist keineswegs ein Einzelfall, wie die öffentliche Meinung im Sinne der „eigenen“ Philosophie verarbeitet wird.“

Die Ablehnung der Zusammenarbeit habe den „Kontinent nicht sicherer gemacht. Im Gegenteil, in Europa nimmt das Konfliktpotential sichtlich zu, die Zahl der Probleme und Krisen“ nähmen zu.

Die Ereignisse im Nahen Osten und in Nordafrika hätten gezeigt, dass der Versuch eines „Regime Change“ nicht nur zu Chaos führt, sondern auch ein Bumerang sei, der Westeuropa durch illegale Migration treffe. All dies müsse berücksichtigt werden, wenn man die Gründe für den jetzigen Zustand zwischen dem Westen und Russland verstehen wolle.

„Die Führung Russlands hat viel Kraft „und politisches Kapital investiert. Eine wahrhaft strategische Partnerschaft, ein verlässliches und stabiles System von Beziehungen, das eine Steigerung der gemeinsamen Wettbewerbsfähigkeit Russlands und der EU garantiert, aufzubauen, bleibt jedoch unrealisiert. Es ist nicht unsere Schuld.“

„Meiner Meinung nach hat die EU in den vergangenen Jahrzehnten keinen „goldenen Mittelweg“ in den Beziehungen zu unserem Land gefunden. Die 1990er waren geprägt von der Vorstellung von Russland als „Lehrling“, der unabhängig von seinen Einwänden nach westlichem Maßstab methodisch gelehrt werden sollte. Jetzt herrscht ein irrationaler Mythos von der „allmächtigen russischen Bedrohung“, deren Spuren überall zu finden seien – vom Brexit bis zum katalanischen Referendum. Beide Stereotypen sind zutiefst falsch und sprechen nur von einem Mangel an Vernunft und Verständnis für unser Land. Wir stellen fest, dass die Zahl derjenigen, die in Verbindung mit der abnormalen Situation in unseren Beziehungen Unbehagen empfinden, in der EU zunimmt. Zugelassene Experten erkennen offen an, dass die EU zu „diplomatischer Lähmung“ gezwungen ist, um ein einheitliches Auftreten gegenüber Russland zu demonstrieren.

Russland hat seine Ansätze zur Zusammenarbeit mit der EU nicht geändert. Wir würden es gerne zusammenhalten, basierend auf den grundlegenden Interessen der Mitgliedsländer. Sie selbst müssen bestimmen, wie sie ihre Wirtschaft und ihre außenwirtschaftlichen Beziehungen entwickeln können. Zum Beispiel, wie man seinen Energiebedarf sichert – mit pragmatischen, kommerziellen Positionen oder unter dem Einfluss politischer und ideologischer Überlegungen.

Wir gehen davon aus, dass die Europäische Union eine aktive, verantwortungsvolle und, sagen wir, unabhängige Rolle in internationalen Angelegenheiten spielen kann. Ich habe auf das Interview von Wolfgang Ischinger mit der Zeitung „Bild“ aufmerksam gemacht, in dem unser geschätzter Vorsitzender [der Münchner Sicherheitskonferenz] über die Notwendigkeit spricht, das außenpolitische Profil der EU zu verbessern. Wir betrachten insbesondere seine Forderung nach der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen Russland, der EU, den USA und China zur Unterstützung der Schaffung einer Sicherheitsarchitektur im Nahen Osten als wichtig. Ein ähnlicher Ansatz ist für den Persischen Golf durchaus anwendbar.

Es liegt im Interesse Russlands, dass eine starke, vorhersehbare Europäische Union als Nachbarstaat in der Lage ist, als verantwortungsvoller Teilnehmer am internationalen Leben in einer polyzentrischen Welt zu handeln, die vor unseren Augen Realität wird.

Es ist an der Zeit, aufzuhören, gegen die Strömung der Geschichte zu schwimmen und zusammenzuarbeiten, um das System der internationalen Beziehungen unter der Koordination der Vereinten Nationen, wie sie in der Charta verankert ist, auf dem neuesten Stand zu halten. Russland ist offen für eine gleiche, gegenseitig respektvolle Partnerschaft, die auf dem Interessenausgleich mit der EU beruht, um effektive Antworten auf die Herausforderungen von heute zu finden. Nach den gleichen Prinzipien sind wir bereit, unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und allen anderen Ländern aufzubauen.“

Eine Zusammenarbeit zwischen EU und Russland ist gemäß Lawrow notwendig, um „einen gemeinsamen Raum des Friedens vom Atlantik bis zum Pazifik, gleiche und unteilbare Sicherheit und für beide Seiten vorteilhafte wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Strategisch möchte ich auch auf die Initiative des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Förderung eines großen eurasischen Projekts hinweisen, in dessen Rahmen die Bemühungen der Teilnehmer der Integrationsstrukturen im Raum der GUS, der SOZ und der ASEAN verbunden werden. Ich sehe keinen Grund, warum die EU sich nicht an dieser Arbeit beteiligen können sollte, angefangen muss man mit der Aufnahme professioneller Kontakte mit der EAG. Ich hoffe, dass diese Zeit nicht weit ist.“

Auf eine Frage, was er dazu sage, dass in den USA gesagt wird, Russland habe jeden Monat 1,25 Millionen USD ausgegeben, um die Wahlen in den USA zu beeinflussen, meinte Lawrow, da sehe man, wie alles immer größere Dimensionen annehme. „Ich lese auch die Aussagen von Jeanette Manfra, der Beauftragten für Cybersicherheit der Heimatschutzbehörde [der USA], die Berichte leugnete, dass irgendein Land die Wahlergebnisse beeinflusst habe. Das Gleiche … sagte, wie ich es verstehe, der Vizepräsident der USA Mike Pence. Bis wir die Fakten sehen, wird alles andere ein Durcheinander sein. Entschuldigung für den nicht sehr diplomatischen Ausdruck.“

Auf den Vorwurf eines Journalisten, Russland übe selbst Druck auf verschiedene Länder, um sie in seinem Einflussbereich zu halten – was er der EU vorgeworfen habe, antwortete Lawrow:

„So entsteht Russlands „Bedrohung“. Sie haben Ihre Frage mit der Aussage begonnen, dass ich gesagt habe, dass die „Östliche Partnerschaft“ dazu benutzt wird, diese Länder aus Russland [Einflussbereich] „zu reißen“. Ich sagte, als wir die „Östliche Partnerschaft“ bildeten, wurde uns versichert, dass sie nicht gegen Russland gerichtet sein würde. Ich habe die Hoffnung geäußert, dass diese Erklärungen umgesetzt werden, da einige der von Ihnen genannten Länder gerne sehen würden, dass so die „Östliche Partnerschaft“ genutzt würde. Das ist alles.“

Eine weitere Frage lautete. „Sie haben meinen Artikel in der Bild-Zeitung über die Zusammenarbeit zwischen Russland, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern im Nahen Osten erwähnt. Was ist aus russischer Sicht notwendig, um eine Art Sicherheitsarchitektur in einer Region mit so vielen Krisen systematischer zu organisieren? Was ist dafür erforderlich?

„Zu erkennen, dass alle Länder der Region dort legitime Interessen haben – der Irak, Ägypten, Algerien, Saudi-Arabien, anderen Ländern des Persischen Golfes, einschließlich des Iran – und sich diesen Fragen nicht nur aus geopolitischen Gründen nähern Der Westen ist gegen Russland, oder der Westen ist gegen den Iran, oder jeder will mit der Türkei zusammen sein, aber er verhält sich anders.

Natürlich können diese Probleme nicht mit einer anderen, noch gefährlicheren „Abzweigung“ (ich meine die Widersprüche innerhalb der islamischen Welt) angegangen werden und man darf nicht versuchen, die Probleme der Region zu lösen, indem man die Widersprüche zwischen Sunniten und Schiiten schürt. Ich denke, das ist tödlich gefährlich.

Die Gruppe von Leuten, die Wolfgang [Ischinger] in ihren Interviews mit den Vereinigten Staaten, Russland, der EU und China erwähnt hat, ist wahrscheinlich eine Kombination von externen Akteuren, die in unterschiedlichem Maße Einfluss auf alle Seiten haben. Jemand spricht mit einer Gruppe von Protagonisten, jemand zu anderen Teilnehmern dieses Dramas. Wenn wir die Führung der Arabischen Liga hinzufügen, stellen sie alle zusammen einen externen Mechanismus dar, der die Situation „vor Ort“ beeinflussen kann. Wenn es möglich wäre, dies zu tun, dann könnten meines Erachtens Vorschläge entwickelt werden, die weitgehend auf den Erfahrungen der Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und den Erfahrungen des Helsinki-Prozesses beruhen.
Hier gibt es nichts zu erfinden – es sind vertrauensbildende Maßnahmen, militärische Transparenz, Einladungen zu Unterweisungen, Unterweisungen und vieles mehr. Davon ausgehend ist das meiner Meinung nach nicht sehr schwierig. Aber die Hauptsache ist jetzt, die Gegner davon zu überzeugen, dass externe Akteure Konflikte in der ethnischen oder konfessionellen Bruchlinie nicht unterstützen werden. Wir sind jederzeit bereit für solche Kontakte.“

In der letzten Frage wurde Lawrow zu seiner Aussage, der Nationalsozialismus gewänne in Europa wieder an Boden, gebeten, zu erklären, von wem er spreche.

„Ich meine, dass Komplizen von NS-Verbrechern, die vom Nürnberger Tribunal verurteilt wurden, weiterhin in einer Reihe von Ländern, einschließlich der EU, geehrt werden. Wir wissen, dass in einigen Ländern im Norden der EU Märsche zu Ehren von Neonazis abgehalten werden. Wir wissen, dass gerade in der Ukraine auch neonazistische Symbole aktiv genutzt werden – das Emblem des Bataillons „Asow“ gehört eindeutig zu den Symbolen der SS. Es geht nicht nur um Embleme und Symbole, obwohl Fackelzug-Prozessionen größtenteils symbolisch sind, und ich denke, dass viele in Europa sich immer noch daran erinnern, worum es geht. Aber die Art und Weise des Verhaltens – die Vernichtung aller nichtradikalen, Anforderungen, Ukrainisierung von allen Bereichen des Lebens, den nationalen Minderheiten, im Wesentlichen Kinder, in ihrer eigenen Sprache unterrichtet zu werden, zu verbieten, das Verbot unerwünschter Medien, Angriffe auf orthodoxe Kirchen der russisch-orthodoxen Kirche, und vieles mehr – das ist das Merkmal der radikalen Nationalisten in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit dem Neonazi-Ton. Das ist alles. Ich denke, dass alle Anwesenden die Entwicklungen in Europa verfolgen und genau wissen, um was es geht.

[Hanns-Martin Wietek/russland.NEWS]

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