Kontinuität und neue Akzente in der deutschen Russland – Politik

russland.RU Interview mit Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt

Herr Staatsminister, Sie haben seit November ein Regierungsamt mit einem weiten Verantwortungsbereich inne.
Bedeutet dies, dass Russland für Sie etwas in den Hintergrund tritt?

Ich habe verabreden können, dass ich mich meinen beiden Hauptschwerpunkte – Russland, der GUS und dem Kaukasusgebiet sowie Zentralasien und Südosteuropa prioritär weiter widme. Aber ich kann mich natürlich nicht mehr nahezu ausschließlich mit Russland befassen, da sich mein Zuständigkeitsbereich deutlich erweitert hat.

Woher rührt Ihre starke Affinität besonders zu Russland?

Ich habe Geschichte im Hauptfach und ostslawische Sprachen als Nebenfach an der FU Berlin und in Freiburg studiert. Danach war ich acht Jahre am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte an der Uni in Feiburg tätig. Dort habe ich mich mit russischer und sowjetischer Geschichte befasst, vor allem mit frühsowjetischer Kulturpolitik. Damals habe ich mir auch Grundkenntnisse in der russischen Sprache angeeignet, die ich später noch ausbauen konnte, als ich Anfang der 70er Jahre zu einem Wissenschaftleraustausch für ein halbes Jahr in Moskau und Leningrad war.

Wie sind heute Ihre Russischkenntnisse?

Ich spreche fließend Russisch und kann das natürlich auch in meiner Arbeit immer wieder nutzen.

Wie ist die Bundeskanzlerin bei ihrem ersten Besuch als Regierungschefin in Moskau aufgenommen worden, wie ist sie aufgetreten?

Die Bundeskanzlerin hat Wert darauf gelegt, dass wir eine Kontinuität in den deutsch- russischen Beziehungen brauchen und auch haben wollen, was sich im Begriff der strategischen Partnerschaft ausdrückt. So ist es schließlich auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Aber sie hat auch sehr auffällig einen neuen Akzent gesetzt durch ihre Teilnahme an dem Empfang beim deutschen Botschafter für Vertreter der Opposition, der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte, von Menschenrechtsorganisationen, der Wirtschaft. Nach meinen Informationen ist das von diesen Gruppierungen sehr positiv aufgenommen worden und hat eine neue Atmosphäre geschaffen, ohne dass dies den offiziellen Beziehungen geschadet hätte.

Hat sie selbst Russisch gesprochen?

Ja, das hat sie und ihre Gesprächspartner waren sehr angetan davon, dass sie sich bei den persönlichen Gesprächen auf dem Empfang ohne Dolmetscher unterhalten konnte.

Kurz vor der Merkel-Reise haben Sie gesagt, die Bundesregierung werde nun stärker auf die innere Entwicklung in Russland achten. Wo sehen Sie hier die Grenze zur Einmischung in innere Angelegenheiten?

Man braucht immer einen Anknüpfungspunkt. Bei dem sehr umstrittenen NGO-Gesetz beispielsweise war es, dass Russland in Kürze den Vorsitz im Europarat übernimmt. Da lag es nahe vorzuschlagen, dieses Gesetz auch dem Europarat zur Prüfung vorzulegen, was Putin befürwortete. Wir haben dann ein Gutachten des Europarates bekommen, das ist sogar von russischer Seite veröffentlicht worden, es ist öffentlich zugänglich gemacht worden und es hat dann doch erhebliche Veränderungen an dem Gesetz gegeben. So haben wir die Gesetzbildung beeinflusst, ohne dass es deshalb zu diplomatischen Problemen kam. Das sollte auch der Weg der Zukunft sein, dass wir an russische Selbstverpflichtungen anknüpfen.

Können Sie Beispiele nennen für Veränderungen im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf des NGO-Gesetzes?

Am deutlichsten sind die Veränderungen hinsichtlich der ausländischen Stiftungen, die nun nicht mehr nach russischem Recht umgegründet werden müssen. Allerdings wird ihre Tätigkeit kontrolliert und auch ihre Finanzen werden überprüft. Eine andere wichtige Änderung ist, dass bestehende NGOs nicht dieser Neuregistrierung unterliegen. Außerdem werden kleinere, nicht formalisierte Initiativen von der Registrierungspflicht ausgenommen. Damit haben Vorschläge des Europarates zu einigen Erleichterungen geführt. Allerdings bleibt die Sorge, dass durch die neu geschaffene Registrierungspflicht dem Justizministerium weit reichende Vollmachten übertragen werden und da gibt es leider schon einige negative Beispiele, wie ein Tätigkeitsverbot für einige Hilfsorganisationen, wie der deutschen „HELP“, oder die massiven Vorwürfen, die im Zusammenhang mit einer angeblichen britischen Spionageaffäre gegen das russische Helsinki-Komitee erhoben werden. Somit sind die Sorgen hinsichtlich der Umsetzung des Gesetzes nicht gewichen.

Aber der Text des NGO-Gesetzes war schon fertiggestellt, bevor Frau Merkel nach Moskau kam?

Die Hauptaktivitäten des Europarates und einzelner Staaten zum NGO-Gesetz lagen schon vor dem Besuch. Auch der deutsche Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, hat sich schon frühzeitig mit möglichen Folgen des Gesetzes befasst. Insofern ging es bei dem Besuch der Bundeskanzlerin nicht mehr um Änderungen im Text, sondern eher darum, bei der Anwendung des Gesetzes die Interessen der Zivilgesellschaft zu wahren.

War Tschetschenien beim Antrittsbesuch ein Schwerpunktthema oder wurde s nur der Vollständigkeit halber erwähnt?

Es war schon ein wichtiges Thema, weil es hier auch eine deutsche Initiative gibt, die inzwischen eine europäische Initiative ausgelöst hat. Seit Dezember 2004 steht das Angebot der Bundesrepublik, dabei zu helfen, die Lebensbedingungen der Menschen in der Nordkaukasusregion zu verbessern durch konkrete Hilfe für soziale und gesundheitspolitische Einrichtungen, durch Ausbildung von Verwaltungsfachleuten und auch durch Beratungen hinsichtlich des Verhältnisses der Regionen zum Zentrum. Nach einigem Zögern werden diese Angebote jetzt mehr und mehr von der russischen Seite genutzt. Das gilt übrigens auch für ähnliche europäische Programme. Damit sind wir bei der Tschetschenienfrage nicht mehr in dem Stadium, wo wir uns nur kritisch mit dem Konflikt auseinandersetzen. Jetzt geht es vielmehr darum, wie wir helfen können, eine nachhaltige politische Lösung zu finden. Darüber hat Frau Merkel in Moskau mit Präsident Putin gesprochen.

Hat die große Koalition einen anderen Blick auf das Tschetschenienproblem als die rot-grüne Regierung?

Die Programme zur zivilen Lösung des Tschetschenienproblems sind schon unter der rot-grünen Bundesregierung und mit dem besonderen Engagement von Gerhard Schröder entwickelt worden. Insofern gibt es hier eine kontinuierliche Entwicklung. Was sich ändert ist, dass die Kanzlerin diese Themen auch öffentlich sichtbar mit dem russischen Präsidenten bespricht, während Gerhard Schröder geradezu demonstrativ auf eine öffentliche Diskussion verzichtet hat, weil er die besonderen persönlichen Beziehungen zu Wladimir Putin auch politisch nutzen wollte.

Welche Rolle spielt Tschetschenien im gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus?

Die Lösung des Tschetschenienproblems ist deshalb so wichtig, weil es ja sehr gefährliche Aktivitäten gibt, die sich aus dem tschetschenischen Raum entwickelt und längst auf ganz Russland übergegriffen haben, wie im Sommer und herbst 2004, als zwei Passagierflugzeuge in der Luft zur Explosion gebracht wurden, als mitten in Moskau, fünf Kilometer vom Kreml entfernt, bei einem Bombenanschlag auf eine U-Bahn-Station elf Menschen starben und bei der Tragödie in Beslan.
Hier hat die ganze Welt gesehen, dass der Tschetschenienkonflikt eine Quelle von sehr breiter Gewaltanwendung geworden ist, von der alle russischen, aber auch ausländischen Bürger betroffen sind. Daher sind die internationalen Bemühungen, den Konflikt friedlich beizulegen, ein Teil des Kampfes gegen den Terrorismus auf der Welt.

Die von Angela Merkel bekräftigte strategische Partnerschaft mit Russland hat neben wirtschaftlichen auch politische Aspekte. Wie stellt sich das gegenwärtig im Irankonflikt dar?

Strategische Partnerschaft bedeutet nicht nur eine enge wirtschaftliche Kooperation, vor allem im Energiebereich, sondern schließt auch Zusammenarbeit bei internationalen Konflikten ein. So ist Russland Mitglied der Kontaktgruppe auf dem Balkan, versucht im Quartett der Verhandlungspartner im Nahostkonflikt, eine tragfähige Lösung zu finden und es ist ein unverzichtbarer Partner bei der internationalen Antwort auf die iranischen Atomprogramme. Nachdem Russland hier lange Zeit seine eigene Strategie verfolgt hat, bringt es nun seine Vorschläge in das gemeinsame Konzept der internationalen Gemeinschaft ein. Damit sind die Spaltungsversuche der iranischen Seite fehlgeschlagen. Hier zeigt sich, was strategische Partnerschaft in der Praxis bedeutet.

Die Reise der Bundeskanzlerin fand kurz nach dem Gaskonflikt zwischen Russland und der Ukraine statt. Sie haben in diesem Zusammenhang von „einigen offenen Fragen“ gesprochen. Sind die in Moskau beantwortet worden?

Wie gesagt, Frau Merkel ist zu einem kurzen Antrittsbesuch nach Russland gereist, bei dem sie nicht von einer größeren Wirtschaftsdelegation begleitet wurde und deshalb standen wirtschaftliche Fragen auch nicht im Vordergrund. Aber natürlich hat die Kanzlerin die Gelegenheit genutzt, die Sorgen Europäer im Zusammenhang mit dem Gasstreit zum Ausdruck zu bringen. In Europa ist dieser Konflikt als eine sehr unangenehme Premiere wahrgenommen worden, weil nämlich Russland zum ersten Mal den Gashebel politisch genutzt hat. Über Jahrzehnte hat es keine Probleme mit Russland wegen der Energielieferungen gegeben und diese Kontinuität hat auch unter großen politischen Umwälzungen, wie der Perestroika, dem Ende und der Auflösung der Sowjetunion, der Amtübernahme durch Jelzin und später von Putin, keinen Schaden erlitten. Wir hatten immer eine völlig sichere, von politischer Instrumentalisierung freie Lieferbeziehung. Deshalb löste der Gasstreit einen politischen Schock aus, weil die Europäer sahen, dass hier zum ersten Mal Energielieferungen als politisches Instrument genutzt wurden. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt, als sich kurz darauf mit Georgien Ähnliches abspielte. In Europa dachte man nun darüber nach, ob Russland auf Dauer noch ein verlässlicher Partner ist und ob es nicht von nun an seinen Ressourcenreichtum zunehmend politisch nutzen wird. Diese Bedenken sind noch nicht ausgeräumt.

Wie tief der Schock saß und immer noch sitzt, zeigt sich daran, dass wir inzwischen eine sehr intensive Diskussion über die Diversifizierung der europäischen Energieversorgung haben, wie es sie bisher noch nicht gab.

Natürlich hoffen wir, dass Russland auch künftig ein zuverlässiger Wirtschaftspartner und Energielieferant für Deutschland und Europa bleibt.

Was ist Ihre persönliche Meinung als Kenner Russlands und der GUS zum Gasstreit, der ja nicht neu ist und zu dem auch der Vorwurf Russlands gehört, die Ukraine zweige unentgeltlich für Europa bestimmtes Gas ab?

Ich meine, dass an dem Ziel, in den Lieferbeziehungen Marktregeln einzuführen, nichts zu kritisieren ist. Die Frage ist nur, wie man die Methoden und den Zeitpunkt beurteilt. So wird bei vielen in Europa das Bild vom Zudrehen des Gashahnes in Erinnerung bleiben als Anwendung eines wirtschaftlichen Druckmittels – was ja letzten Endes auch funktioniert hat, denn danach ist es dann zu den neuen Liefervereinbarungen gekommen. Doch zunächst war auch die Gasversorgung für einige andere europäische Abnehmer gestört. Das wollte die russische Seite natürlich nicht, und um den Schaden zu begrenzen, hat sich der russische Präsident offensichtlich persönlich in die Suche nach Lösungsmöglichkeiten eingeschaltet. Trotzdem wird es für Russland schwierig werden, die aufgekommenen Ängste wieder zu zerstreuen.

Sie äußerten kürzlich die Auffassung, dass Russland seine Politik und seine Interessen im postsowjetischen Raum neu definieren muss. Was meinen Sie damit?

Es ist offensichtlich, dass Russland in den Beziehungen zu den ehemaligen Sowjetrepubliken Unterschiede macht. So hat man dort mit sichtlichem Unbehagen die Veränderungsprozesse in der Nachbarschaft – wie die Ümwälzungen in der Ukraine und in Georgien – aufgenommen, in der Furcht, der Funke könnte auf Russland überspringen..

Nur wenn man das weiß, kann man auch einige der russischen Maßnahmen verstehen. Das Problem ist, dass einige Europäer dieses Vorgehen von GAZPROM und der russischen Führung auch in Verbindung bringen mit den Parlamentswahlen in der Ukraine am 26. März. So ist der Eindruck entstanden, dass die russische Aktion nicht nur mit der Einführung von Weltmarktpreisen zu tun hat, sondern auch mit dem Versuch, auf diese Weise Einfluss auf die Wahlen zu nehmen.

Darüber hinaus bemerken wir in der Tat gegenwärtig eine Neuorientierung der russischen Politik gegenüber dem postsowjetischen Raum. Russland hat nicht mehr viele verlässliche Partner unter den ehemaligen Sowjetrepubliken. Da bleiben nur Weißrussland unter Lukaschenko, einem sehr schwierigen Partner, und die sehr stabilen Beziehungen mit Kasachstan. Die Ukraine ist inzwischen aus dem Vorhaben eines gemeinsamen ökonomischen Verbundes ausgestiegen, so dass die russischen Ideen zur Neuordnung des postsowjetischen Raumes nahezu wertlos sind. Verständlich, dass diese Veränderungen die russische Politik in eine schwierige Lage bringen, aber wir würden uns natürlich wünschen, dass Russland dabei nicht auf die Karte der Instrumentalisierung der Energielieferungen setzt. Das entspricht nicht den europäischen Wertvorstellung und ebenso wenig den Prinzipien der allerdings von Russland leider immer noch nicht akzeptierten europäischen Energie-Charta. Es wäre schädlich für Russland, wenn der Eindruck entstünde, dass die russische Führung in der augenblicklichen Defensive ihrer Politik im postsowjetischen Raum zu den klassischen Methoden des ökonomischen Zwanges greift.

Zurück zum Merkel-Besuch in Moskau: War es ein Gastgeschenk der russischen Führung, dass Siemens gerade jetzt Zuschlag für das Aktien-Kontrollpaket bekommen hat?

Mit der Genehmigung ist ein negativer Eindruck korrigiert worden, der im Zusammenhang mit „Silowye Maschiny“ entstanden ist, nämlich dass Russland auf der einen Seite zwar die Durchsetzung der marktwirtschaftlichen Prinzipien immer wieder propagiert, aber sich andererseits, wie im Falle des Siemens-Engagements, nicht daran hält. Hier haben sicher auch politische Erwägungen wegen der Produktionspalette von „Silowye Maschine“, die Rüstungsgüter einschließt, eine Rolle gespielt. Insofern ist gefundenen Kompromiss nur zu begrüßen.

Ein wichtiger Aspekt beim Moskau-Besuch der Bundeskanzlerin war das klare Bekenntnis zum Bau der Ostsee-Gasleitung. Hier befinden wir uns im Einklang mit der europäischen Politik, dem europäischen Interesse an sicherer, aber auch diversifizierter Energieversorgung. Wir sind nach genauer Prüfung zu der Erkenntnis gekommen, dass sich die Pipeline gegen niemanden richtet und dass sie auch zur sicheren Versorgung von Partnerländern, wie Großbritannien und den Niederlanden, dient. Wir könnten uns außerdem gut vorstellen, dass auch die Ostseeanrainer von dem Projekt profitieren. Insofern war das Bekenntnis der Bundeskanzlerin in Moskau zur Gasleitung ein eindeutiges und wichtiges Signal.

Ihre Einschätzung des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist je nach Anlass sehr verschieden. Einerseits kritisieren Sie seine zentralistischen Bestrebungen mit ihren Begleiterscheinungen, wie mangelnde Verantwortung in den Regionen, Einengung der Meinungsvielfalt, zunehmende staatliche Kontrolle in allen Bereichen der Gesellschaft – andererseits schreiben Sie in Ihrem Buch „Russland kommt“, dass Machtgewinn für Putin kein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel, um seine Reformpläne durchzusetzen.

Was überwiegt bei Ihnen, Verständnis oder Kritik?

Ein Urteil ist nie statisch, es entwickelt sich anhand von aktuellen Ergeinissen immer weiter. Ich bleibe dabei, dass ich die Grundausrichtung des russischen Präsidenten, den europäischen Weg zu gehen und Russland auch immer mehr in europäische Prozesse zu integrieren, begrüße. Aus meiner Kenntnis der russischen Geschichte weiß ich, dass es auch immer Kräfte gibt, die nach Alternativen suchen und auch in der Lage wären, einen Wechsel in der Ausrichtung herbeizuführen. Auf der anderen Seite sehe ich im Kontext mit der noch ungelösten Frage der Präsidentschaftswahlen im Jahre 2008 immer stärkere Reflexe der Zentralisierung, offenbar aus Angst vor „orangenen“ Entwicklungen Die harte Politik gegenüber Oppositionsbestrebungen, der Kontrollreflex gegenüber der Zivilgesellschaft erscheinen mir angesichts der Machtfülle des Präsidenten und der Präsidentenpartei „Edinnaya Rossia“ schwer nachvollziehbar. Aber es wäre falsch zu übersehen, dass die Grundausrichtung der Putinschen Politik durchaus im europäischen Interesse ist.

In Ihren Überlegungen zum Russland der Zukunft setzen Sie Ihre Hoffnungen auf eine neue Generation von Politikern. Was erwarten Sie davon?

Ich glaube tatsächlich, dass in Russland eine neue Generation heranwächst, die sich kritisch mit der sowjetischen Geschichte und auch mit bestimmten russischen Traditionen auseinandersetzt. Das ist übrigens kein rein russisches Phänomen, wir haben einen solchen Wandel in den Auffassungen und Zielen der Generationen in vielen Staaten, auch in der unmittelbaren Nachbarschaft Russlands. Da ist beispielsweise die ungeklärte Nachfolgefrage in mehreren zentralasiatischen Republiken. Auch hier sehe ich, dass eine neue Generation heranwächst, die nicht mehr bereit ist, alles zu akzeptieren, was sie vorfindet. Ich meine, dass Deutschland hier richtig handelt, indem wir auf einen stärkeren Jugendaustausch setzen, zum Beispiel durch das 2004 geschlossene, aber noch umzusetzende Abkommen oder auf den Petersburger Dialog, dessen Ziel ist, die Zivilgesellschaften beider Länder einander näherzubringen. Ich würde mir auch wünschen, dass in Deutschland das Interesse an der russischen Sprache und Kultur nicht weiter zurückgeht. So wie ich mir umgekehrt wünsche, dass in Russland nicht nur das Interesse an den USA, sondern auch an Europa und besonders an Deutschland wächst. Ich glaube daran, dass die jungen Generationen auf beiden Seiten ein neues Kapitel in den gegenseitigen Beziehungen aufschlagen können.

Aber es ist sicher erst die übernächste Generation, die dann wirklich auch politische Macht erhalten kann…

Das ist wohl richtig, wie sich auch an der so genannten 2008-Frage zeigt, in der es gegenwärtig in Russland eine schwer zu verstehende Verunsicherung gibt. Wir hatten dieses Phänomen schon beim Wechsel von Jelzin zu Putin, als Jelzin auf der Suche nach einem Nachfolger mehrere Ministerpräsidenten „ausprobiert“ hat. Am Ende hat er auf Putin gesetzt und das war letztlich auch erfolgreich. Jetzt beobachten wir Bestrebungen, wonach auf jeden Fall ein Ende der Ära Putin vermieden werden soll, weil die hergestellte Balance zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften, beispielsweise den Petersburger Liberalen und den „Silowiki“, also den Vertreter der Macht, nicht durch ein unvorhergesehenes Ergebnis der Präsidentenwahl in Frage gestellt wird. Daher wird offenkundig alles sehr genau organisiert, damit sich an diesem Gleichgewicht nichts ändert und alles kontrolliert so weitergeht. Das ist natürlich mit unseren Vorstellungen von demokratischem Wandel, wie er zum Beispiel im September in der Bundesrepublik stattgefunden hat, nicht vereinbar und es zeigt, dass hier in Russland noch lange Wege zu gehen sind. Aber wir müssen uns auch bemühen zu verstehen, dass es in der russischen Politik schon immer eine eigenartige Nähe von Macht und Ohnmacht gibt. Auf der einen Seite die unglaubliche Machtfülle des Präsidenten, auf der anderen seine persönlichen Erlebnisse von Machtlosigkeit. Das reicht vom Sinken des Atom-U-Bootes „Kursk“, über die schrecklichen Ereignisse im Theater an der Dubrowka bis hin zu der Tragödie in der Schule von Beslan. Die ganze Macht Putins hat nicht gereicht, um die Dinge unter Kontrolle zu bekommen. Dennoch glaubt die Bevölkerung auch in dieser Frage an Putin. Man muss versuchen, dass zu verstehen, um auch das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Kontinuität, nach kontrollierter Machtübergabe in Russland nachvollziehen zu können.

Wie fällt Ihr persönlicher Vergleich des politischen Anspruchs und der historischen Rolle von Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und Wladimir Putin aus?

Ich meine, jeder von ihnen ist mit seiner Zeit eng verbunden. Michail Gorbatschow war im Westen immer viel mehr anerkannt als im eigenen Land. Die russische Öffentlichkeit hat ihn eher mit dem Ende der Sowjetunion identifiziert, wir haben ihn vor allem mit der Perestroika verbunden.
Diese unterschiedliche Betrachtungsweise setzte sich bei Jelzin fort. Für uns war er derjenige, der einen Putsch von rechts verhindert hat, der für erste demokratische Gehversuche in Russland steht. Die Russen kreiden ihm einen Machtverfall des Zentrums, eine wirtschaftlichen Verschlechterung und eine zu große Selbständigkeit und mangelnde Kontrolle der Regionalfürsten an.

Bei Putin hat sich das Verhältnis umgekehrt: Er hat immer noch, ungeachtet einiger Dellen in der Sozialgesetzgebung, eine sehr hohe Zustimmung im Lande. Die meisten Russen verbinden mit ihm das Gefühl von mehr Sicherheit, eine Stärkung des Zentrums, während im Westen die Sorgen immer lauter werden, dass er die Demokratisierungstendenzen bremst und ein autoritäres System installiert.

Die Wahrnehmung der russischen Staatsführer im Westen unterscheidet sich also sehr stark von jener im Lande selbst. Deshalb werben wir mit Recht dafür, dass sich mehr Menschen bei uns mit Sprache, Kultur und Entwicklung dieses großen Nachbarn beschäftigen.

Dabei spielt aber der visafreie Reiseverkehr keine unwichtige Rolle. Welche Entwicklungen gibt es in dieser Richtung?

Wir haben jetzt auf europäischer Ebene Fortschritte gemacht, was auch damit zusammenhängt, dass Russland ein Rücknahmeabkommen für illegal aus Drittländern in die EU eingereiste Personen akzeptiert und es gibt jetzt Regelungen für bestimmte Berufsgruppen, die deutliche Erleichterungen bringen. Aber wir sind natürlich konfrontiert mit dem russischen Wunsch, in absehbarer Zeit ein visafreies Regime einzuführen. Das wird allerdings erst dann möglich sein, wenn Russland noch einiges verändert – bei der Grenzkontrolle, bei der Bekämpfung von organisierter Kriminalität, bei der Zuverlässigkeit der Passsysteme. Es ist auch unser Wunsch hier voranzukommen, allerdings hat die Visaaffäre die die Stimmung in Deutschland dabei nicht gerade begünstigt.

Ich erhoffe mir von einem verstärkten Austausch von Jugendlichen, Wissenschaftlern oder Künstlern, so dass wir uns allmählich dem Ideal von sich frei austauschenden Gesellschaften annähern. Auch die russische Seite weiß, dass dies nur ein Prozess des Gebens und Nehmens sein kann.

Ich meine, es ist schwierig, konkrete Termine für einen visafreien Reiseverkehr zu nennen, aber diese Frage steht auf der Agenda der europäisch-russischen Beziehungen. Wir beginnen jetzt mit den Vorbereitungen eines neuen Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und Russland. Das bisherige läuft Ende 2007 aus und ich bin sicher, dass in der neuen Vereinbarung das Thema Visafreiheit einen ganz prominenten Platz einnimmt.

Wann sind Sie das nächste Mal in Russland?

Im Mai dieses Jahres. So steht es zumindest in meinem Arbeitsplan und die Reisen nach Russland gehören zu denen, die ich immer wieder besonders gern wahrnehme.

[  Das Gespräch führte Hartmut Hübner – russland.RU – die Internet – Zeitung ]

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