Kirche im Feindesland – fünf Jahre nach dem Pussy-Riot-Urteil

Die oppositionelle Internetzeitung „Meduza“ fragt Experten, inwieweit die Verurteilung der Punkband Pussy Riot vor fünf Jahren die Russisch-orthodoxe Kirche verändert hat.

„Vor fünf Jahren, am 17. August 2012, hatte Richterin Marina Syrowa vom Moskauer Chamowniki-Bezirksgericht Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Alechina und Jekaterina Samuzewitsch zu jeweils zwei Jahren Strafkolonie verurteilt. Sie wurden für die Punk-Andacht „Mutter Gottes, verjage Putin“ in der Christ-Erlöser-Kathedrale wegen „Rowdytum“ schuldiggesprochen. Diese Aktion von Pussy Riot und das Urteil wurden zu einem äußerst wichtigen Meilenstein in der neuesten Geschichte der Russisch-orthodoxen Kirche (ROK). „Meduza“ hat den Religionswissenschaftler Konstantin Michailow (Zentrum zur Erforschung der Religionen an der Universität für Humanwissenschaften) und Roman Lunkin (Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften) gebeten, Punkt für Punkt darzulegen, welche Veränderungen der Fall mit der Punk-Andacht in der Kirche ausgelöst hat.

Konstantin Michailow:
In der Russisch-orthodoxen Kirche meint man ernsthaft, von Feinden eingekreist zu sein

Spricht man von den Veränderungen innerhalb der Kirche selbst, sind sie weniger politisch oder strukturell als weltanschaulich und ideologisch. In der modernen Ideologie der ROK ist ein sehr wichtiges Konstrukt aufgetaucht, das davon ausgeht, dass die Kirche ständigen Verfolgungen ausgesetzt ist. Von außen betrachtet scheint alles genau umgekehrt zu sein: Die Kirche ist sehr stark und verfolgt selbst Andersdenkende, aber innerhalb der Kirche sind die Wahrnehmungen andere.

Der Grund dafür ist nicht nur Pussy Riot, aber der Fall spielte eine große Rolle. Heute haben viele schon fast vergessen, dass der Prozess gegen Pussy Riot vor dem Hintergrund anderer aufsehenerregender Geschichten lief – zum Beispiel dem Skandal mit der Armbanduhr des Patriarchen und seiner Wohnung, wofür die ROK stark kritisiert wurde. Das löste ebenfalls die Wahrnehmung einer Bedrohung aus, aber das zentrale Ereignis war natürlich der Fall Pussy Riot. Diese Idee – „Die Kirche ist von Feinden eingekreist“ – ist nicht einfach Rhetorik, sondern spiegelt ganz genau die innere Selbstempfindung vieler Leute in der ROK wider.

Die ROK hat ihre Positionen gegenüber dem Staat gestärkt

Der Fall Pussy Riot wurde zum wichtigen Ausgangspunkt für die Stärkung der Rolle der Kirche im Staat und möglicherweise für die gesamte russische konservative Wende der letzten Jahre. Außer den aufsehenerregendsten Folgen – der Annahme des Gesetzes über die Verletzung der Gefühle von Gläubigen – gibt es auch andere: Wenn die Einführung der Grundlagen der orthodoxen Kultur als Schulfach auch schon vor Pussy Riot diskutiert wurde, so wurde zum Beispiel jetzt die Theologie in die Liste der wissenschaftlichen Disziplinen aufgenommen, es wurde bereits die erste Dissertation verteidigt.

Wir beobachten die aktive Teilnahme von Kirchenvertretern an politischen Ereignissen; die Stimme von Geistlichen ist in Gesprächen zu Themen zu hören, bei denen ihre aktive Teilnahme früher nicht zu erwarten war. Ein charakteristisches Beispiel ist der schon ziemlich lange andauernde Skandal mit dem noch nicht erschienenen Film „Matilda“, der ein ganzes Stück weit von der Abgeordneten Natalia Poklonskaja provoziert wurde, aber aus irgendeinem Grund von irgendwelchen Geistlichen unterstützt wird. Die konservative Schräglage gab es auch vor Pussy Riot, aber diese Geschichte hat sie stark beschleunigt.

Roman Lunkin:
Die ROK ist zur strafenden Macht geworden

Der Fall Pussy Riot hat eine Kettenreaktion ausgelöst: Die Kirche hat begonnen, staatliche Sicherheitsstrukturen für ihre Ziele zu nutzen. Unter anderem deswegen, um durch Prozesse um die Verletzung der religiösen Gefühle von Gläubigen die eigene Bedeutung zu demonstrieren. Das Bistum Jekaterinburg hat aktiv am Fall Ruslan Sokolowski teilgenommen. In Sotschi wurde unlängst ein Mensch verurteilt, weil er eine Karikatur mit der Darstellung von Jesus Christi geteilt hatte – und Anlass war der Brief eines Geistlichen aus dem Bistum Krasnodar. Auch an der Geschichte mit „Tannhäuser“ in Nowosibirsk war das Bistum direkt beteiligt (den Antrag bei der Staatsanwaltschaft stellte Tichon, der Metropolit von Nowosibirsk und Berdsk – Anm. von „Meduza“).

Die Kirche hat sich von ihrem barmherzigen Image entfernt, das die absolute Mehrheit der Menschen als ihre wichtigste Eigenschaft ansieht – von der Kirche wird Barmherzigkeit erwartet. Unsere soziologischen Untersuchungen zeigen, dass ein bedeutender Teil der jungen Geistlichkeit in der Provinz diese neue Politik des Patriarchats verspürt, die sich für die breite Mission der orthodoxen Kirche als hinreichend verderblich erweist – vor allem unter der Jugend. Weil mit der Kirche immer öfter Strafaktionen und Macht assoziiert werden, und das bringt junge Menschen von ihr ab.

Die ROK hat sich endgültig gegen die demokratische Opposition gestellt

Zweifellos war der Fall Pussy Riot eine symbolische Wende, in dem Sinne, dass die orthodoxe Kirche sich endgültig gegen die demokratische Opposition gestellt hat. Das ist ganz offensichtlich geworden. Noch 2011 hatte der Patriarch erklärt, dass wir alle politischen Kräfte begrüßen, denen sich verschiedene Gläubige zugehörig fühlen, aber 2012 verurteilte er bereits alle möglichen Auftritte und öffentliche Aktionen als gegen die existierende Staatsmacht gerichtet und unannehmbar.

Vielen jungen Orthodoxen gefällt die Politik der ROK nicht

Nach dem Fall Pussy Riot hat ein bedeutender Teil der Gesellschaft eine kritischere Haltung gegenüber der Kirche eingenommen. Vertreter des Patriarchats sprechen von einer kirchenfeindlichen Kampagne und dass die Kritiker zur atheistischen Intelligenzija gehören, die der Kirche feindlich gegenübersteht. Aber viele kritisieren die Kirche nicht von atheistischen, sondern von religiösen oder sogar christlichen Positionen aus.

Spricht man von den Proportionen, machen diese Menschen [die gegenüber Kirche aus gewissen verschwommenen oder allgemeinchristlichen Gründen kritisch eingestellt sind] etwa ein Drittel aus – das geht unter anderem aus den Untersuchungen des Lewada-Zentrums hervor. Soll heißen: Das sind keine prinzipiellen Gegner der Kirche oder von Patriarch Kirill, sondern Menschen, die ein gewisses neues Bild von der Kirche sehen oder es irgendwie korrigieren wollen. Davon gibt es nicht wenige.

Charakteristisch ist, dass Alexej Nawalny ebenfalls erklärt, er sei ein orthodoxer Mensch, aber dabei will er unter den Kirchenvertretern keinen sehen, der handelt wie ein Staatsanwalt. Er als Politiker mit nationalistischen Nuancen, der unter anderem mit patriotischen Gefühlen spielt, fühlt gerade diese Stimmung nur zu gut. Man darf nicht absolut ungläubig, nicht-orthodox sein. Das ist unbeliebt in der Gesellschaft, marginal. Man muss orthodox sein, aber dabei kritisch gegenüber der Kirche eingestellt sein. Und nach Pussy Riot ist diese Position populär geworden.“

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