Keiner scheint Tschernobylerfahrungen zu brauchen

Am 26. April jährt sich die Havarie im Atomkraftwerk Tschernobyl zum 18. Mal (Von Jewgeni Welichow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften). Gleich nach dem Unglück von Tschernobyl hat mir ein Freund aus Amerika ein dringendes Telegramm geschickt. Die betroffenen Kinder sollten unbedingt Jodpillen einnehmen, schrieb er. Ich rief sofort den damaligen stellvertretenden Regierungschef, Iwan Silajew, an und berichtete über diese Empfehlung.

Kurz darauf wurde ich zur Sitzung der Staatlichen Kommission eingeladen und danach zusammen mit Mitgliedern dieser Kommission nach Tschernobyl geschickt, obwohl ich mich als Physiker auf andere Probleme spezialisiert hatte. Es trug sich zu, dass ich mich mit den Folgen dieser Katastrophe befassen musste. 18 Jahre nach dieser Tragödie möchte ich einige Gedanken dazu teilen. Erstens wurden die Konsequenzen der Havarie in all diesen Jahren enorm übertrieben, besonders von den Medien. Dass Tschernobyl die Gesundheit der Menschen stark beeinträchtigt hat, wird nicht dokumentarisch belegt. Ein weiteres Beispiel stammt aus der Statistik des Kurtschatow-Instituts. Alle Wissenschaftler des Instituts, die innerhalb der 18 Jahre ständig nach Tschernobyl fuhren und bis heute dort arbeiten, haben ihre medizinischen Werte im grünen Bereich und gehen ihrer Arbeit wie früher nach.

Zweitens hat Tschernobyl gezeigt, dass das Land auf solche Vorfälle nicht gefasst war, obwohl es eine Havarie solcher Art bereits gegeben hatte. 1957 ereignete sich eine Explosion im Chemiekombinat Majak in der Ural-Stadt Tscheljabinsk, wobei es auch zu einem Austritt radioaktiver Stoffe kam. Die sowjetische Staatsführung beschloss damals strenge Geheimhaltung. Geheim blieben auch die Schlussfolgerungen der besten Spezialisten, die die Ursachen und Folgen der Majak-Havarie untersuchten. Im Ergebnis war die Gesellschaft nach der Tragödie von Tschernobyl völlig ratlos.

Leider überzeugt uns die Zeit immer mehr von einer traurigen Tatsache: Obwohl die Erfahrungen von Tschernobyl nicht geheimgehalten wurden, erwiesen sie sich als kaum gefragt. Niemand in der Welt hat versucht, sie zu verarbeiten und Gebrauch davon zu machen. Und das ist sehr schlecht, denn die Erfahrungen von Tschernobyl sind unschätzbar. Auf deren Grundlage kann ein Verhaltensmodell für solche Situationen entwickelt werden. Leider können sich technische Havarien an Atomkraftwerken wiederholen, obwohl im Sicherheitsbereich der Atomenergie seit Tschernobyl sehr viel getan wurde. Auch die aktuelle Lage in der Welt und die zur Realität gewordene Gefahr des Terrorismus dürfen nicht ignoriert werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine schwere Strahlungssituation entsteht.

Paradoxerweise sind die Erfahrungen von Tschernobyl auch in Russland nicht gefragt. Auf jeden Fall werden sie nicht griffbereit „gelagert“. Wenn jemand diese Erfahrungen verarbeitet hat, so sind es Atomwirtschaftler. Nach dem Uglück von Tschernobyl wurden die Reaktoren vom Typ RBMK (der erste Typ eines russischen AKW-Reaktors) modernisiert. Nach den konstruktiven Verbesserungen sind diese Blocks sicher geworden und bis heute in Betrieb. Sie hätten also bereits vor der Tragödie zuverlässig gemacht werden können. Es kam jedoch zu einer Fehlfunktion und daran sind die Atomwirtschaftler schuld.

Ein Mangel des Projektes bestand darin, dass menschliches Versagen die Möglichkeit hatte, seine verhängnisvolle Rolle zu spielen. Als ein Engpass erwiesen sich auch das Steuerungssystem und die Personalvorbereitung des Kraftwerks. Eine Kette unzulässiger Handlungen der Dispatcher des AKW führte an jenem tragischen Morgen zu der Explosion im vierten Energieblock. Leider ereigneten sich Havarien in den ersten Atomanlagen auch in anderen Ländern.

Natürlich lassen sich Fehler nicht absolut ausschließen. Trotzdem garantieren wir heute die Sicherheit der Reaktoren. Wir garantieren auch, dass, falls es doch aus irgend einem Grund zu einer Havarie kommt, diese weder zur Evakuierung der Bevölkerung noch zu anderen Konsequenzen, die Leben und Gesundheit der Menschen beeinträchtigen, führt.

In den letzten zehn Jahren wurden keine neuen Atomkraftwerke in Russland gebaut, der Anteil der produzierten Atomenergie stieg jedoch von zwölf auf 16 Prozent. Die positive Dynamik ist auf die Vervollkommnung der Steuerungssysteme und die Modernisierung der Atomkraftwerke sowie auf eine ganze Reihe weiterer Faktoren zurückzuführen. Naturressourcen wie Erdöl, Gas und Steinkohle werden einmal erschöpft sein und der Energiebedarf der Menschheit nimmt zu. Eine Quelle wie die Atomenergie, die bisher keine realen Konkurrenten hat, erscheint vor diesem Hintergrund ziemlich aussichtsreich. Ohne sie würde es schwer sein, weitere Fortschritte zu erzielen.

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