Kein Grund stolz zu sein? Kollektive Identität der Russen©russland.news

Kein Grund stolz zu sein? Kollektive Identität der Russen

Worauf gründet sich die nationale Identität der Russen? Welche historischen Ereignisse und Symbole vereinen die russische Gesellschaft? Diese Fragen werden in der Studie „Das gegenwertige Kollektivgedächtnis in Russland. Performativer Kontext“ von Raisa Barasch, Doktorin der Politikwissenschaften, leitende Forscherin am Zentrum für komplexe Sozialforschung des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften beantwortet.

Bis vor kurzem schien es, dass buchstäblich alle Russen Freude und Stolz über den Anschluss der Krim an Russland empfanden. Politologen sprachen über das Phänomen des „Krim-Konsens“. Barasch stellt jedoch fest, dass die jüngste Konsolidierung nach der Krimkrise durch eine ausgewogene Haltung gegenüber der Annexion der Krim ersetzt wurde. So oder so werden die „Krim-Erfolge“ der russischen Armee und die internationale Position des Landes von der Mehrheit der Bürger nicht als ernsthafter Grund für Nationalstolz und dementsprechend als Grund für eine zivile Konsolidierung wahrgenommen. Nur ein Viertel (24 Prozent) ist stolz auf die Wiedervereinigung der Krim mit Russland. Unter den jungen Menschen im Alter von 18 bis 30 Jahren ist der Stolz „auf die Krim“ am geringsten (21 Prozent), unter den Befragten mittleren Alters (31 bis 50 Jahre) liegt er bei 22 bis 25 Prozent. Ältere Befragte über 60 Jahre (28 Prozent) gaben am ehesten an, dass der Anschluss der Krim an Russland ein Grund für Nationalstolz sei.

Im Allgemeinen finden die Russen kaum einen Grund, auf die Ereignisse der jüngsten Geschichte des Landes stolz zu sein, diese Geschichte wird von vielen Russen sogar offen abgelehnt. Die epochalen Ereignisse des „neuen Russlands“ sind unter den Gründen für historischen Stolz am wenigsten beliebt: Glasnost und Perestroika in der Zeit von Michail Gorbatschow rufen nur bei einem Prozent der Russen ein Gefühl des Stolzes hervor, der Übergang zur Marktwirtschaft in der Zeit von Boris Jelzin bei zwei Prozent, die Aufhebung des „Eisernen Vorhangs“ zwischen Russland und dem Rest der Welt bei sieben Prozent der Befragten. „Trotz der historischen Bedeutung und des vermeintlichen Nutzens für die Entwicklung des Landes und das Wohlergehen seiner Bürger erwiesen sich die sozialen Folgen und teilweise auch der ‚Preis‘ dieser Ereignisse als zu hoch“, so die Soziologin.

Besonders stolz sind die Russen auf die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. „An der Spitze der symbolischen Gründe für den Nationalstolz stehen vor allem die Ereignisse der sowjetischen Geschichte. Sowohl für erwachsene Russen (über 60 Jahre), Russen mittleren Alters (über 40 Jahre) als auch für junge Menschen zwischen 18 und 39 Jahren sind die wichtigsten Gründe für den nationalen historischen Stolz die Ereignisse rund um den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg (67 Prozent) und der Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg (57 Prozent)“, schreibt Barasch. Unterstützt durch die performativen Bemühungen, Informationen über die Familiengeschichte zu erhalten, spiegelt die Kriegserinnerung der Mehrheit der Russen den Stolz auf den Sieg des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg wider. Aber die Wissenschaftlerin warnt: Dieses Post-Gedächtnis wird naturgemäß schwächer und verliert sein Konsolidierungspotenzial. „In einer Situation, in der es an aktuellen Beispielen konstruktiven bürgerschaftlichen Engagements mangelt, werden die Anlässe für Solidarität an der Basis sowie das ursprüngliche kollektive Gedächtnis und die Identität allmählich schwächer werden, was wiederum die Debatte über die Grundlagen der bürgerlichen Konsolidierung problematisiert.“

Sogar der Stolz auf die russische Armee wird durch den Stolz auf die langjährigen nationalen militärischen Erfolge „genährt“, vor allem auf den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Der Schlüssel zur Bewertung der Armee als Attribut des Nationalstolzes ist jedoch der aktuelle Zustand der Streitkräfte des Landes. Bezeichnenderweise hat sich der Stolz auf die Armee im Vergleich zu den 90er-Jahren verdoppelt (von 16 Prozent im Jahr 1998 auf 31 Prozent im Jahr 2020).

Die Wissenschaftlerin kommt zu dem Schluss, dass die Erinnerung an die Sowjetzeit zunehmend mythologisiert wird und die Züge eines Nationalepos annimmt. „Die Intensivierung des kollektiven Gedächtnisses der Russen an das sowjetische Erbe wird auch durch die Bemühungen der Politik stark begünstigt. Die heutige russische Führung kultiviert aktiv eine „prosowjetische“ Nostalgie für ein unbestreitbar ruhmreiches und heldenhaftes, aber sehr weit von der Gegenwart entferntes sowjetisches Erbe.“

[hrsg/russland.NEWS]

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