Jurmala – im lettischen Ostsee-Badeort spricht man Russisch

An der Mittelmeerküste ist es überall über 40 Grad heiß. In die Türkei fliegt man als anständiger Mensch nicht. Die Kanarischen Inseln sind zu weit. Wo kann man denn noch im August Urlaub machen? An der Ostsee? Nicht schon wieder! Obwohl… Stopp! Es gibt nicht nur deutsche Ostseeurlaubsorte.

Jurmala! Natürlich! Der Meeresort, nur 25 km von der lettischen Hauptstadt Riga entfernt. Bis zu sechs Millionen Sowjetbürger machten hier in den 80ern jährlich Urlaub. 32 km lange Strände, weißer Sand, ruhiges, flaches Meer, Kiefernwälder. Jurmala war ein Paradies für die sowjetische Partei- und Intellektuellenelite, etwas für die Kenner. Anders als die laute und überfüllte Schwarzmeerküste. Die war für das Proletariat. Schon damals bauten die Parteibonzen in Jurmala ihre Datschen.

Der Strand von Jurmala / copyright Daria Boll-Palievskaya

Der Strand von Jurmala / copyright Daria Boll-Palievskaya

Wir buchen einen Flug nach Riga. Der Flug in einem klitzekleinen Propellerflugzeug von Air Baltic ist zwar definitiv zu teuer, aber die zwei Stunden übersteht man gerade so. Die Stewardessen tragen Namensschilder mit drei kleinen Flaggen: das soll zeigen, dass sie Lettisch, Englisch und Russisch sprechen. Genau, wird meine russische Herkunft nicht ein Problem sein? Nach dem Erlangen der Unabhängigkeit im Jahr 1991 herrscht in den baltischen Ländern eine ziemlich antirussische Stimmung, liest und hört man. Viele Russen leben dort immer noch als sogenannte Nichtbürger, NATO-Truppen werden stationiert usw. Ich bestelle meinen Tee (3,50 €!) vorsichtshalber auf Englisch.

Der Taxifahrer, der uns für knapp zwanzig Euro (bei einem anderen Taxiunternehmen hätten wir elf bezahlt) vom Flughafen nach Jurmala bringt, will im besten Russisch sofort wissen, wo wir herkommen. „Moskau“, antworte ich vorsichtig. Das erweist sich allerdings als Fehler. Wiederholt schimpft der Fahrer über die „Moskauer Idioten“, die die Preise in die Höhe treiben. „Sehen Sie diesen kleinen Gemüsemarkt? Das ist der teuerste Markt in ganz Europa, alles wegen den Moskauern!“

Häuser in Bulduri / copyright Daria Boll-Palievskaya

Häuser in Bulduri / copyright Daria Boll-Palievskaya

Soll ich es vielleicht an der Hotelrezeption lieber auf Deutsch versuchen? Doch das hätte mich überhaupt nicht weitergebracht. Hier spricht man Russisch. Oh, pardon, ein wenig Englisch auch. Junge Rezeptionistinnen sind sehr freundlich und kompetent, das Hotel ist perfekt. Wo ist das Meer? Sehen Sie den kleinen Kieferwald? Dahinten! Weißer Sand, solang das Auge reicht! Alle fünfzig Meter ist ein Volleyballnetz gespannt, alle hundert Meter gibt es ein kleines Strandrestaurant. Hunderte Urlauber joggen, gehen mit Nordic Walking Stöcken, fahren Fahrrad. „Mama, bist Du sicher, dass wir nicht in Russland sind?“, fragt mich mein Sohn unsicher.

Tatsächlich, wir sind seit mehreren Stunden in Lettland, doch bis jetzt haben wir nur die russische Sprache gehört und noch kein Wort auf Lettisch. Allerdings gelesen, denn alles hier steh nur auf Lettisch. Natürlich nicht alles, die Speisekarten der unzähligen Restaurants werden auch auf Russisch geführt. Die Preise sind allerdings doch eher westeuropäisch, oder soll ich besser sagen…Moskowitisch? Ein Abendessen zu dritt und ohne Alkohol kostet zwischen 80 und 115 Euro. Die lettische Küche ist unspektakulär (rote Bete, Heringe, Fischsuppen). Komischerweise werden viele Muscheln- und Spargelgerichte mitten im August angeboten. Auf meine Frage, wo sie bitteschön Spargel herhaben, antwortet ein Kellner nicht ohne Stolz: „Aus dem Ausland!“

Jurmala besteht aus mehreren Orten, die ineinander übergehen. In Lielupe und Bulduri stehen die schönsten Häuser. Großzügige Grundstücke nah am Meer – hier geht es sehr ruhig zu. Die reichen und die schönen Russen bleiben unter sich. Auch die Autos, die hier verkehren, scheinen vom letzten Genfer Autosalon zu kommen. Viele haben Moskauer oder Petersburger Kennzeichen. Anfang der 2000er Jahre ist es unter den betuchten Russen beinahe zur Mode geworden, eine Immobilie in Jurmala zu besitzen. „Man hat hier ganze Stadtteile aufgekauft“, erzählt mir ein Taxifahrer. Bekannte russische Schauspieler, Popstars und Bankiers – alle wollten ein Haus an der lettischen Küste haben. „Jetzt wollen viele wieder verkaufen“, weiß der Taxifahrer. Die Preise gehen aber noch nicht runter: ein 130 m2 Luxusapartment kann schon eine halbe Million Euro kosten.

Häuser in Bulduri / copyright Daria Boll-Palievskaya

Häuser in Bulduri / copyright Daria Boll-Palievskaya

Allerdings merkt man auf der Jomas iela, der Ausgehemaile von Jurmala, dass der Ort schon schönere Zeiten erlebt haben muss. Im Konzertsaal Dzintari fanden in Russland sehr populäre Musikfestivals und Comedy Shows statt. Jetzt hat man sie auf die Krim verlegt, und die einst berühmte Halle wird für Konzerte aus der zweiten Garnitur gebucht. Samstag abends sieht Jomas iela eher leer aus. In einer einzigen Bar gibt es Livemusik – eine kleine Jazzband spielt alte Klassiker. Für drei Euro Eintritt haben wir uns auf einen langen Abend gefreut. Doch kurz vor elf bedankten sich die Musiker und packten ihre Instrumente ein. Das war`s.

Die Frisörin Natascha aus unserem Hotel (Waschen und Legen: 30 €) meint, dass es immer leerer wird in Jurmala. „Die meisten Russen kommen aus nostalgischen Gründen hierher. Wenn diese Nostalgiewelle abebbt, sieht es schlecht für uns aus. Andere Touristen haben wir kaum. Außerdem sind die Russen sehr großzügig, lassen es sich gut gehen und drehen den Euro nicht dreimal um, bevor sie ihn ausgeben“.

Sie selber hat eine Sprachprüfung bestanden und die lettische Staatsangehörigkeit erlangt. Ihre Töchter gehen auf eine russische Schule, und ihr Mann, ein Nichtbürger, ist Kleinunternehmer. Lettisch zu können braucht er dafür nicht, sagt sie. Mich wundert die ganze Zeit, dass junge Letten sehr gut und anscheinend gern Russisch sprechen. Doch war es nicht so, dass man Russisch aus den Schulen verdrängt hat? „Am Anfang schon. Doch sie merkten schnell, dass man ohne Russisch nicht weiterkommt. Zu sehr sind wir vom russischen Tourismus und vom russischen Business abhängig“.

Ist es nicht schlimm für ihren Mann als nicht EU-Bürger in einem EU-Land zu leben? Natascha schaut mich verdutzt an: „Dafür braucht er aber kein Visum, wenn er nach Russland möchte“. Aus ihrem Mund hört es sich so an, als ob sie ihn dafür beneiden würde. Wie ist es als Russischsprechende in Lettland zu leben, einem Land, wo fast eine viertel Million Menschen als Nichtbürger gelten, kein Wahlrecht haben und bestimmte Berufe nicht ausüben dürfen? Lettland sperrt russischsprachige Fernsehsender, und im Land findet das multinationale US-geführte Militärmanöver Saber Strike statt. Natascha winkt ab: „Glauben Sie nicht den Politikern. Ich fühle mich überhaupt nicht benachteiligt, und habe sowohl russische als auch lettische Kunden und Freunde. Wir kommen alle super miteinander klar. Was die da oben erzählen oder vorhaben, das hat alles mit uns nichts zu tun“.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

 

 

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