Jubiläum 1937 – was vom sowjetischen Terror im Gedächtnis bleiben muss

Oleg Kaschin schreibt in der Oppositionszeitung „Republic“ über den 80. Jahrestag des Beginns der „Großen Säuberungen“.

„In Solschenizyns berühmter Erzählung liefert der wachsame Kommandant einer Eisenbahnstation einen Passagier an die Staatssicherheit aus, der nichts von der Umbenennung von Zarizyn in Stalingrad wusste. Twardowski, der Chefredakteur von „Nowy mir“, konnte bei der Veröffentlichung nicht glauben, dass so etwas möglich war – tatsächlich hatte Zarizyn zu Beginn des Krieges, der Zeit, in der die Handlung spielte, schon anderthalb Jahrzehnte einen neuen Namen. Gab es wirklich Menschen, die davon nichts wussten? Solschenizyn bestand darauf, dass dem so war, die Erzählung wurde gedruckt und wurde ein Klassiker.

Wenn man sie jetzt liest, ruft die Episode mit Stalingrad keine Zweifel hervor, aber dafür kann man an einer anderen Stelle stolpern, wo die Schwierigkeiten bei der Übersetzung vom Sowjetischen ins Nichtsowjetische genau andersherum funktioniert – dort versteht der Kommandant den Passagier nicht, der über das allgemeine Misstrauen sinniert und vieldeutig präzisiert, die habe schon vor dem Krieg angefangen – „nach 1937“, und der Kommandant wundert sich: „Und was war 1937? Der spanische Krieg?“

Als die Erzählung 1962 geschrieben wurde, war die Wortverbindung „siebenunddreißig“ bereits ein eindeutiges Symbol für alle stalinschen Repressionen, aber diese Festlegung auf 1937 stammt aus den nachfolgenden Epochen, beginnend mit der von Chruschtschow. Jetzt verweist das Beiwort „stalinsche“ eher auf die Publizistik der Perestroika und der sechziger Jahre, die den naiven Versuch machte, den Stalinismus von der restlichen sowjetischen Geschichte zu trennen.

Der berüchtigte Ruhm des Jahres 1937 verblasst im Vergleich zu anderen vor-stalinschen, stalinschen und post-stalinschen Jahren. Der erste, der dieses Gedenkdatum umstürzte, war aus einer Ironie der Geschichte heraus Solschenizyn selbst, der das Jahr 1937 in seinem „Archipel Gulag“ als „Wolga des Volksleides“ bezeichnete, in dem Sinne, dass das Ausmaß an Leid vorher und hinterher von der Größe eines Ob und Jenissej war – also von Flüssen, die mehr Wasser tragen, aber weniger berühmt sind als die Wolga („Sag´ einem Krimtataren, Kalmücken oder Tschetschenen „siebenunddreißg“, er wird nur die Schulter zucken. Und was ist für einen Leningrader siebenunddreißig, wenn es davor fünfunddreißig gab?“).

Im Jahr 2017 ist die Reputation von 1937 weniger eindeutig als vor 30 oder 50 Jahren – selbst wenn man die Anhänger Stalins vergisst, von deren Standpunkt aus der Terror gerechtfertigt und effektiv war, haben die einstigen Vorstellungen von den Repressionen längst eine Revision erlebt. Beliebt bleibt die Vorstellung (so populär, dass man sie ständig mit Zahlen widerlegen muss), 1937 sei die Zeit der aktivsten Vernichtung der alten Bolschewiki gewesen, die in der Vergangenheit selbst mit Blut befleckt waren und deshalb kein besonderes Mitleid verdienten.

Wer in dieser Logik das Jahr 1937 aus den restlichen sowjetischen Jahren hervorhebt, geht einen Kompromiss mit der blutigen sowjetischen Geschichte ein. „Die letzte Adresse“, ein überaus wichtiges Projekt für die inoffizielle Gedenkpolitik, wird von derselben Warte aus kritisiert – wenn unter den Verewigten zum Beispiel plötzlich die Henker des Aufstands von Tambow auftauchen, kann das als unterschwellige Rechtfertigung des vor-stalinschen Terrors aufgenommen werden, der oft noch blutiger und unmenschlicher war als der stalinsche. Die postsowjetische Vorstellung vom Stalinismus wird unvereinbar selbst mit der antistalinistischen Version der sowjetischen, und jener Punkt, an dem noch zu Beginn der 1990er Jahre ein Konsens zu 1937 erreicht worden war, ist jetzt zu dem Punkt geworden, an dem alle Widersprüche der modernen Massenrezeption der Sowjetepoche zusammenkommen.

2017 spricht man über 1937 natürlich keinesfalls deshalb, weil die „Wolga des Volksleides“ 80 Jahre alt geworden ist. Jedes Masseninteresse an der Vergangenheit beruht auf der Gegenwart, die erneute Aktualität des Stalinismus in Russland hängt nicht mit Jubiläumsdaten zusammen, sondern mit der Entwicklung des modernen russischen Autoritarismus, der, wie weich er im Vergleich zum stalinschen auch sei, in Vielem dessen Logik und Ethik reproduziert.

In Russland werden heute regelmäßig Stalin-Denkmäler aufgestellt, es werden jede Menge Bücher gedruckt, die Stalin rechtfertigen und lobpreisen; aber sehr viel wichtigere stalinistische Züge unserer Zeit sind die rekordverdächtige Verstaatlichung des öffentlichen Lebens, die Verwandlung des Staats-Apparats (vor allem der Sicherheitsorgane) in eine vollwertige Ausbeuterklasse und die Tatsache, dass der öffentlichen Meinung Vorstellungen über höchste staatliche Interessen aufgezwungen werden, in deren Namen man viel opfern oder zumindest dulden kann.

Diese Eigenschaften des putinschen Russland machen es stalinistischer als Stalin-Denkmäler. Und mit welcher Geschwindigkeit das antistalinistische Thema sich Raum im Anti-Putin-Diskurs erobert, verweist auf die direkte Verbindung zwischen Realität und Gedächtnis – beim alljährlichen Verlesen der Namen am Solowetzker Stein sind Stammgäste der Protestkundgebungen anzutreffen, und in der unzensierten Presse werden neben kritischen Kolumnen über die heutige Staatsmacht immer mehr Artikel über den Stalinismus publiziert.

Es wäre logisch, sich über die Rückkehr der Geschichte in die aktuellen Streitgespräche zu freuen, aber das situative Interesse an der Vergangenheit ist in gewissem Sinne auch schädlich – die große Geschichte wird gegen laufenden Schnickschnack eingetauscht und damit entwertet. Die heutige Anti-Putin-Mode mit dem Antistalinismus hat dieselben Wurzeln wie Putins Kult von Krieg und Sieg, der den Mächtigen vom Gesichtspunkt der öffentlichen Mobilisierung und Loyalität ganz bestimmt zupass ist, die Geschichte aber gnadenlos in einen Haufen Klischees und Losungen von beschränkter Haltbarkeit verwandelt.

Versuchen Sie sich vorzustellen, wie der 9. Mai unter jeder beliebigen Staatsmacht gefeiert wird (wenn er denn gefeiert wird), die Putin ablöst. Das Georgs-Bändchen als politisches Symbol und „Wir können das wiederholen“ als modische Losung zum internationalen Thema – das ist Verrat an denen, die 1941–1945 kämpften und fielen. Ein ähnlicher Verrat an den Millionen Toten wäre auch eine Entputinisierung unter der Maske der Entstalinisierung. Die Verwandlung gemeinsamer Werte in Partei- oder Cliquen-Insignien ist eine sehr gefährliche Entwicklung; ja, natürlich ist solch eine Verwandlung unabwendbar, wenn der Wert nur eine Partei oder Clique interessiert, aber alles Weitere hängt vom verantwortlichen und taktvollen Verhalten dieser Partei ab. Aber darum ist es in Russland schlecht bestellt –die Hauptteilnehmer an den gesellschaftlichen Prozessen, ob auf Pro-Staats- oder der Anti-Staats-Seite, verfügen nicht über Takt und Verantwortlichkeit und haben kein Gefühl für das Maß.

Deshalb ist das Risiko groß, dass sich der jetzt in Mode kommende Antistalinismus nach derselben Logik entwickelt, dank der wir schon lange nicht mehr hören können, wie irgendwer irgendwem des Faschismus beschuldigt – selbst die stärksten Wörter verlieren ihre Kraft, wenn sie sich in abgedroschene Phrasen verwandeln, und werden zu Anekdoten. Als Jegor Letow auf dem Höhepunkt der Perestroika Hymnen auf das „neue siebenunddreißig“ sang, hatte das denselben Grund – wenn die Erinnerung an das Böse zum Faktor der politischen Konjunktur wird, wird die Polemik mit dieser Erinnerung und die demonstrative Solidarität mit diesem Bösen zur logischen nonkonformistischen Handlungsweise.

Wenn Anne Applebaum, Autorin einer der besten Untersuchungen zum Gulag in den letzten Jahren, heute mit ungewöhnlicher Leichtigkeit eine Brücke aus der stalinschen UdSSR auf die putinsche Krim schlägt, entwertet das alles, was Applebaum zuvor über den Stalinismus gesagt hat – eine historische Tragödie verdient in keinem Falle, dass man sie für aktuelle Losungen missbraucht.

Die Katastrophe, die Russland im 20. Jahrhundert durchlebte, ist bis heute nicht Gegenstand eines allgemeinnationalen Konsenses. Ob solch ein Konsens im Prinzip möglich ist – das ist offensichtlich eine Frage der Post-Putin-Zukunft. Die Zeit spielt hier für den Konsens – je weiter die sowjetische Vergangenheit sich von uns entfernt, umso weniger Bedeutung haben ihre inneren Grenzen, Nuancen verdichten sich zu einem Fleck, und es wird dann unmöglich sein, den bösen Stalin dem guten Lenin oder sogar Chruschtschow entgegenzustellen – nicht Stalin „säuberte“ den Don und Kuban von den Kosaken und nicht Stalin schickte Panzer nach Nowotscherkassk; früher oder später wird der Antistalinismus der sechziger Jahre der Vorstellung vom sowjetischen Terror als solchem weichen, von dem der Stalinismus ein Teil war.

Die tragische sowjetische Erfahrung wird zur Grundlage der nationalen Identifikation („wir sind wir, weil unsere Vorfahren die sowjetische Hölle durchlebt haben“), und die Androhung einer Revanche wird in einer solchen Konstruktion nicht von mit Stalin sympathisierenden Etatisten ausgehen, sondern von linken Liberalen, die – der weltweiten intellektuellen Mode folgend – sich daran gewöhnt haben, die einzigartige russische Erfahrung mit einer Linksdiktatur zu ignorieren.

Im Post-Putin-Russland steht der Gesellschaft bevor, nicht über Stalin zu streiten (die Gespräche über seine Effektivität als Manager, ist zu hoffen, gehören der Vergangenheit an), sondern über Dinge von größerem Ausmaß – vor allem über den Grad der Verantwortung für die Verbrechen des Sowjetregimes und über die linke Idee, die in unserem Land so tragisch umgesetzt wurde. Offensichtlich sind diese Fragen miteinander verknüpft, und man kann sich aussuchen, wer schuld ist, dass es so kam – die offenkundig menschenfresserische Idee oder das offenkundig auf Sklaverei und Untertanentum eingestimmte Volk. Von dieser Wahl wird unvergleichlich mehr abhängen, als heute von den Kontroversen über Stalin abhängt.“

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