Iwan Sergejewitsch Turgenjew – Seine Romane I

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Schon vor – und ganz besonders nach – dem Erscheinen der Aufzeichnungen eines Jägers (1852), die ihn berühmt gemacht hatten, hatte sich Turgenjew überlegt, ein umfassenderes episches Werk, einen Roman, zu schreiben. Auch seine Freunde forderten ihn recht eindringlich dazu auf. Im Russischen gab es dieses Genre bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht (Die toten Seelen von Gogol sind ein Einzelfall) und auch im westeuropäischen Raum war der Roman im heutigen Sinn noch recht jung; erste Vertreter waren Alexandre Dumas der Ältere (*1802, †1870) mit seinen pseudohistorischen Abenteuerromanen wie z. B. Die drei Musketiere (1844), Der Graf von Monte Christo (1846) und Das Halsband der Königin (1850) und Alexandre Dumas der Jüngere (*1824, †1895) mit seinen Sittenromanen Die Kameliendame (1848), Diane de Lys (1853) und Halbwelt (1855), dazu George Sand (*1804, †1876) als Schriftstellerin sozial-psychologischer (im weitesten Sinne) Romane, die erheblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben Westeuropas hatten, Eugénie Tour (auch: Evgenija Tur, *1815, †1892) sowie zuvor schon Antoine-François (genannt L’Abbé) Prévost (*1697, †1763) mit seiner Manon Lescaut und Jacques-Henri Bernadin de Saint-Pierre (*1737, †1814) mit Paul et Virgine

Worin besteht nun der wesentliche Unterschied zwischen der Gattungsform Erzählung (Novelle) und dem Roman? Sicher nicht ausschlaggebend ist die Länge des Werkes – die Erzählung Frühlingsfluten von Turgenjew ist beispielsweise länger als sein Roman Rudin. In den Erzählungen wird die Wirklichkeit unverklärt und genau geschildert und die Kritik des Autors an dieser Wirklichkeit wird entweder expressis verbis oder durch eben diese Darstellung – eine Methode, in der Turgenjew Meister ist – ausgedrückt; es ist also eine ausgesprochen subjektive Form der Kritik an der Realität. Im Roman hingegen wird jede Begebenheit – eine einzelne Handlung oder ein zeitliches Geschehen – sozusagen von höherer Warte aus betrachtet, quasi objektiv: Der Autor nimmt im Idealfall keinen direkten Einfluss auf die Meinungsbildung (zum Beispiel mit Worten), sondern fordert vom Leser, dass dieser sich seine eigene Meinung bildet. Er erweckt den Eindruck, nur ganz unbeteiligt zu schildern; die Meinung des Autors ist allenfalls am Ablauf der Handlung ablesbar, wobei es nicht immer nur eine Quintessenz geben muss. Es bleibt dem Leser unbenommen, mehrere Schlüsse aus dem Gelesenen zu ziehen, wobei allerdings jeder Schluss eine weitere Meinung (Quintessenz) des Autors ist.

Diese Ansicht kommt im Herbst 1852 in einem Briefwechsel zwischen Turgenjew und seinem Freund, dem Publizisten und Literaturkritiker Pavel Vasilevič Annenkov (*1813 †1887), sehr schön zum Ausdruck. Annenkov fordert Turgenjew eindringlich auf „mit voller Verfügung über Personen und Ereignisse, ohne genüssliches Spiel mit der eigenen Autorschaft und ohne Auftreten von plötzlichen Originalen” einen Roman zu schreiben. Und Turgenjew antwortet, seinen bisherigen Stil kritisierend:

Man muss einen anderen Weg gehen und sich für immer von der alten Manier trennen. Ich habe mich redlich bemüht, aus menschlichen Charakteren die Quintessenzen (triples extraits) zu ziehen, um sie dann in kleine Fläschchen zu füllen. »Riecht geneigte Leser, entkorkt und riecht – nicht wahr, das riecht doch nach einem russischen Typ«. Genug, genug! […]
Die Frage ist nur: Bin ich zu etwas Großem, Ausgeglichenem überhaupt fähig! Werden mir einfache, klare Linien gelingen…? Das weiß ich nicht und werde ich nicht wissen, solange ich es nicht versuche – aber glauben Sie mir – Sie werden von mir etwas Neues hören – oder gar nichts.
(1)

Noch im Mai 1852 begann Turgenjew den Roman Zwei Generationen, im Februar 1853 sandte er die ersten 500 Seiten (drei von geplanten zwölf Kapiteln) an seine Freunde – und verbrannte sie nach deren Kritik; nur das Ende des ersten Kapitels blieb verschont. Turgenjew veröffentlichte es 1859 unter dem Titel Das herreneigene Kontor. Fragment eines unveröffentlichten Romans. Er war nicht der Erste und nicht der Letzte, der seinen „Erstling“ verbrannte.
Das mit dem „Sie werden von mir etwas Neues hören – oder gar nichts“ war dann aber doch nicht ganz wörtlich zu nehmen: Bevor Turgenjew im Juni und Juli 1855 schließlich seinen ersten Roman Rudin (erschienen 1856) schrieb, verfasste er noch die Novellen Zwei Freunde, Ein stiller Winkel, Ein Briefwechsel und Jakov Pasynkov – so wie er überhaupt in der Zeit, in der seine Romane entstanden, „nebenher“ immer auch Erzählungen schrieb.

Nachdem Rudin allseits sehr positiv aufgenommen worden war, schrieb Turgenjew in den folgenden zehn Jahren weitere vier Romane und nach einer Pause von zehn Jahren seinen sechsten und letzten. Das Adelsnest (geschrieben 1858 auf seinem Gut Spasskoje, erschienen 1859) wurde sofort – und auch im Ausland – sein größter Bucherfolg; darauf folgte 1860 mit Am Vorabend ein Werk, das schon nicht mehr so einmütig freundlich aufgenommen wurde. Sein auch heute noch berühmtester Roman Väter und Söhne (erschienen 1862) bescherte ihm heftigen Ärger – was einige zufrieden lobten, wurde von anderen heftig kritisiert und umgekehrt; und mit seinem satirischen Roman Rauch (1867) trat er mehr oder weniger allen gesellschaftlichen Gruppen auf die Füße – was erneut zu heftiger Kritik von allen Seiten führte. Verärgert und sich missverstanden fühlend ließ er das Roman Schreiben aber erst einmal sein, und so erschien erst nach zehn Jahren (1877) sein sechster und letzter Roman Neuland. Auch mit diesem Werk machte er sich keine großen Freunde – selbst die Volkstümler, für die er diesen Roman geschrieben hatte und die er im Grunde wohlwollend darstellte, fühlten sich auf den Schlips getreten und begannen erst nach seinem Tod, als die Wogen der Entrüstung abgeklungen und ein sachlicheres Beurteilen möglich war, die Wahrheit und den Wert des Romans zu begreifen. So heißt es denn auch in der Proklamation der Volkstümler, die am Tage der Beerdigung Turgenjews in Petersburg am 3. September 1883 verbreitet wurde:

Das tiefste Gefühl des Herzschmerzes, das »Neuland« durchdringt und stellenweise durch feine Ironie maskiert wird, vermindert nicht unsere Liebe zu Turgenjew. Wissen wir doch, dass diese Ironie nicht die Ironie des Lagers von »Nowoje wremja« und Katkow [gemeint ist das reaktionäre Lager in Russland – K. D.] war, sondern eines Herzens, das die Jugend liebte und sich um sie sorgte. Außerdem – verhalten wir uns jetzt nicht mit der gleichen Ironie gegenüber der Bewegung der siebziger Jahre, in der – trotz ihrer unzweifelhaften Aufrichtigkeit, Leidenschaftlichkeit und heroischen Selbstaufopferung – tatsächlich viel Naives gewesen ist? (2)

Literarisch waren Turgenjews Romane über alle Kritik erhaben (mit winzigen Abstrichen in dem einen oder anderen Roman), die Kritik entzündete sich stets an seinen Darstellungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und ihrer politischen Tendenzen. Das war wiederum nicht verwunderlich, denn Turgenjew wollte mit seinen Romanen – wie er im Vorwort zur ersten Gesamtausgabe seiner Werke 1880 selbst schrieb – „gewissenhaft und unvoreingenommen [….] dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt” vor Augen halten und die „sich schnell verändernde Physiognomie der russischen kultivierten Schicht” wiedergeben, indem er sie in Einzelpersonen typisierte.

In seinen Romanen stellt Turgenjew – auch das schreibt er im schon zitierten Vorwort – „in konzentrierter Spiegelung [ … ] getreu und lebendig die Eindrücke [dar], die er aus eigenem oder fremdem Leben empfangen hat”; und das ist im Wesentlichen der Untergang der alten höfischen Adelskultur, deren Mitgliedern der Sinn nur nach Genuss und Ansehen stand und die deshalb nur dem Namen nach zur Intelligenz zu zählen waren, aber auch den der wirklichen, vor allem jüngeren Adelsintelligenz, die – wissend, dass sich etwas ändern muss – aufgrund ihrer Erziehung doch unfähig war, wirklich etwas zu ändern, und nur in großen Worte schwelgte. Er schreibt aber auch über die „neuen Menschen“ aus den unteren, bürgerlichen Schichten wie z. B. Rasnotschinzen und Volkstümler, über ihre Ideale, ihre Irrungen und Wirrungen und die Erfolglosigkeit ihres Tuns, weil sie am Widerstand der Realitäten scheitern.

Jeder seiner Romane stellt eine bestimmte Gruppe ins Zentrum. Und da ihm infolgedessen immer wieder von verschiedenen Kritikern vorgeworfen wurde, er ergreife einmal für diese und im nächsten Roman für jene gesellschaftliche Gruppe Partei, empfiehlt Turgenjew in seinem Vorwort den Lesern, alle sechs Romane nacheinander zu lesen (was auch heute noch empfehlenswert ist). Dann werde man erkennen, dass dieser Vorwurf ungerecht sei:

Mir scheint im Gegenteil, man könnte mir eher eine zu große Beständigkeit und sozusagen Gradlinigkeit meiner Richtung vorwerfen. Der Autor des 1855 geschriebenen »Rudin« und des 1876 geschriebenen »Neuland« ist ein und derselbe Mensch. (3)

In der Tat blieb Turgenjew zeit seines Lebens seiner Überzeugung treu, dass eine notwendige demokratische Veränderung der Gesellschaft nur „von oben“, d. h. auf Initiative der aufgeklärten liberalen (Adels)Schicht möglich sei. Erst gegen Ende seines Lebens – nachdem er erkannt hatte, dass aus der saft- und kraftlos gewordenen, sich selbst zerstörenden Adelsschicht keine Impulse mehr kommen würden – begann er, auf die Rasnotschinzen (Gebildete, die keiner Klasse angehören) zu hoffen. Eine Veränderung „von unten“, aus dem Bauernstand, oder gar eine Revolution hielt er im Gegensatz zu Alexander Herzen (*1812, †1870) oder gar Michail Bakunin (*1814, †1876), mit denen er zeitweilig eng befreundet war, für falsch.

In jedem der Romane ist – wie könnte es bei Turgenjew anders sein – eine Liebesgeschichte oder besser gesagt eine Liebesintrige das Gerüst der Handlung. Das Liebesverhältnis steht aber nicht im Vordergrund, sondern dient dazu, den Helden (resp. die Helden) und die Heldin zu charakterisieren und ihr sozial-ideologisches Verhalten sichtbar zu machen. Held und Heldin finden nicht wirklich zueinander – eine Turgenjewsche Lebenserfahrung; nur in Am Vorabend kriegen sie einander, dafür stirbt er kurz danach an einer Lungenentzündung.

Ganz hervorragend sind in allen Romanen Turgenjews wie schon in seinen Erzählungen die Beschreibungen der russischen Landschaft, wobei sie hier nicht „nur“ Stimmungsbilder wie beispielsweise in den Aufzeichnungen eines Jägers sind, sondern gleichzeitig die emotionale Situation der Personen widerspiegeln, also Seelenlandschaften sind. Ganz ausgeprägt ist dies in Rudin und in Das Adelsnest der Fall. Letzteres hat er während des Aufenthaltes auf seinem Gut Spasskoje geschrieben; es ist ihm sozusagen ganz aus der Seele geschrieben:

Am nächsten Morgen stand Lawrezki ziemlich früh auf. [Turgenjew war auf sein Gut Spasskoje zurückgekehrt, hmw] Er besprach sich mit dem Dorfältesten, verweilte ein bisschen auf der Tenne und ließ dem Hofhund die Kette abnehmen. Der bellte nur ein wenig, lief aber nicht von seiner Hütte fort. [Abnahme der Ketten und bleibt trotzdem – Parallelität zur Bauernbefreiung, hmw] Als Lawrezki wieder daheim war, versank er in eine Art friedlicher Erstarrung, aus der er den ganzen Tag nicht mehr herauskam. „Da bin ich ja so richtig auf den Grund des Stromes geraten“, sagte er mehr als einmal zu sich selbst. Er saß am Fenster und rührte sich nicht, als lausche er dem Dahinfließen des stillen Lebens, das ihn umgab, den spärlichen Lauten der ländlichen Abgeschiedenheit. Da singt irgendwo hinter dem Nesseldickicht jemand mit feinem, dünnem Stimmchen vor sich hin; eine Mücke sirrt gleichsam die zweite Stimme dazu. Jetzt hört er auf, doch die Mücke sirrt noch immer. Durch das einmütige, aufdringlich klagende Summen der Fliegen tönt das Brummen einer dicken Hummel hindurch, die fortwährend mit dem Kopf an die Zimmerdecke stößt; auf der Straße kräht ein Hahn, den letzten, heiseren Ton in die Länge ziehend; ein Bauernwagen rattert vorüber; im Dorf knarrt ein Tor. „Was denn?“ klirrt plötzlich eine weibliche Stimme. „Ach du, mein Liebling“, sagt Anton zu einem zweijährigen Mädchen, das er auf den Armen wiegt. „Bring den Kwaß her“, ruft wieder die weibliche Stimme – dann tritt auf einmal Totenstille ein. Kein Laut ist zu hören; nichts rührt sich; kein Blättchen regt sich im Wind. Die Schwalben streichen, ohne einen Schrei auszustoßen, eine nach der anderen, dicht über den Erdboden hin, und es wird einem traurig ums Herz bei ihrem stummen Flug. Da sitze ich ja so richtig auf dem Grund des Stromes, denkt Lawrezki wieder. Und immer, zu jeder Zeit, fließt das Leben hier so still und ohne Hast dahin, denkt er. Wer in seinen Kreis eintritt, muss sich fügen: Hier ist es zwecklos, sich aufzuregen, sinnlos, aufzubegehren; hier ist nur demjenigen Erfolg beschieden, der sich gemächlich seinen Weg bahnt, so, wie der Bauer mit dem Pflug die Furche zieht. Und welch eine Kraft ringsum, welche Gesundheit in dieser tatenlosen Stille! Hier, unter dem Fenster, drängt sich eine stämmige Klettenstaude aus dem dichten Gras hervor; ein Liebstöckel reckt seinen saftigen Stängel noch über sie hinaus, und noch höher hebt das Tränengras seine rosigen Löckchen. Und da draußen auf den Feldern leuchtet der Roggen; der Hafer ist schon in die Ähren geschossen, und jedes Blatt an jedem Baum, jedes Gräschen an seinem Halm macht sich breit, so breit es nur kann. Für Frauenliebe habe ich meine besten Jahre hingegeben, denkt Lawrezki weiter. [Turgenjews „unglückliche“ Liebe zu Pauline, hmw] Mag mich denn hier die Langeweile nüchtern machen, mag sie mich beruhigen, mich darauf vorbereiten, dass auch ich ohne Hast etwas zu tun imstande bin. Und wieder beginnt er, der Stille zu lauschen. Er erwartet nichts, und gleichzeitig ist ihm, als warte er dennoch unablässig auf etwas. Die Stille umfängt ihn von allen Seiten; die Sonne zieht am ruhigen blauen Himmel still ihre Bahn, und still wandern die Wolken darüber hin – es scheint, als wüssten sie, wohin und warum sie wandern. Zur selben Zeit brauste, hastete und lärmte an anderen Orten der Welt das Leben; hier floss das gleiche Leben unhörbar dahin, wie Wasser über Sumpfgräser. Bis in den späten Abend hinein konnte sich Lawrezki von der Betrachtung dieses vergehenden, verrinnenden Lebens nicht losreißen. Die Trauer um das Vergangene schmolz in seiner Seele wie Frühlingsschnee. Und merkwürdig – nie zuvor war in ihm das Heimatgefühl so tief und stark gewesen. (4)

(1) [zitiert nach Peter Brang: I. S. Turgenev. Sein Leben und sein Werk (1977)]
(2) [zitiert nach Klaus Dornachers Nachwort zum Band Rauch / Neuland aus den Gesammelten Werken in Einzelbänden]
(3) [Alle Zitate aus dem Vorwort nach Peter Brang: I. S. Turgenev. Sein Leben und sein Werk (1977)]
(4) [zitiert in der deutschen Übersetzung von Herbert Wotte]

Einzelheiten zum Inhalt und Anregungen zur Interpretation von Turgenjews sechs Romanen sowie eine umfassende Literaturliste im nächsten Teil der Turgenjew-Reihe.

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