Inneneinsichten aus einem St.Petersburger Atomkraftwerk

Die nordische Umweltschutzorganisation Bellona veröffentlichte am 20. Januar einen bedenklichen Bericht über den Zustand des LNPP, des Leningrad (!) Nuclear Power Plant, in dem vier der durch Tschernobyl berüchtigten RBMK-1000 Reaktoren laufen.

Kronzeuge und Autor der Untersuchung ist ein ehemaliger Angestellter, der von 1973 bis 2000 im Bereich der Brennstäbelagerung tätig war. Sergei Kharitinow, nach seinem Rauswurf jetzt Umweltaktivist, ist dem Schweigekartell der Atomindustrie ein unangenehmer Zeuge, wurde er doch für seine Arbeiten am LNNP und den Einsatz als Liquidator in Tschernobyl dekoriert.

Das Objekt der Untersuchung, mit 30 Jahren ein Greis, liegt nur 70 km westlich der 5 Millionen- Metropole St. Petersburg in der Stadt Sosnowy Bor. Wie die Region ein schwarzes Loch für alle Informationssuchenden darstellt, ist bekannt, dass von dort routiniert regelmässig der Finnische Golf kontaminiert wird.

Kharitinow will seinen Bericht nicht nur als Einzelfallstudie verstanden wissen, sondern sieht in ihr die ganze russische Atomindustrie gespiegelt. Er ist eine Antwort auf den mit grossem Pomp und Selbstbeweihräucherung gefeierten 30jährigen Geburtstag des alten Kraftwerksriesen, der fast 50% der Stromversorgung St.Persburgs und der Region liefert. „Wir sind davon überzeugt, dass die Gesellschaft – incl. Otto Normalverbraucher – glaubwürdige Informationen über alles das braucht, was an radiologischen und radioaktiven Gefahren fur die besteht, die mit ihren Familien in deren Nähe wohnen“, sagt Kharatinow. Kein leichtes Vorhaben, da sich die Anlage wegen Terrorismusgefahr jedweder Informationsentnahme von aussen entzogen hat.

Allein wegen seines Alters müsste Block 1 sofort abgeschaltet werden. Ganz im Gegenteil, der aus der ersten Generation stammende Reaktor – älter als der aus Tschernobyl – wird repariert und modernisiert, um eine neue Betriebsgenehmigung zu beantragen. Die wird er wohl bekommen, da das russische Ministerium für Atomenergie – Minatom – eine Verlängerungsgenehmigung der ganzen Anlage um bis zu 15 Jahren plant. Das geschieht ganz legal nach dem „Russischen Gesetz zum Gebrauch der Atomenergie“.Das beschäftigt sich erst gar nicht mit der lästigen Frage nach dem Alter eines Reaktors und kennt nur Kriterien der Sicherheit und ihrer Verletzung.

Dabei würde schon ein Vergleich der offiziellen Verlautbarungen über die Zwecke der jeweiligen Anlagen – Stromerzeugung! – mit der realen Situation schwerwiegende Verletzungen russischen Rechtes hervorbringen: da wird recycelt, ummantelt und zusatzgelagert, was die Gegebenheiten und Finanzen zulassen.

So liest sich die Liste vergangener Vor- und Unfälle im LNPP fast beruhigend, so als hätten die Reaktoren nur eine Vergangenheit:

– am 30. 11. 1975 entliess Block 1 fast 1,5 Millionen Curies in die Umwelt,

– im Mai 2000 vergass jemand ein Gummiteil an entscheidender Stelle, so dass Block 1 abgeschaltet werden musste,

– ebenfalls im Jahre 2000 kam heraus, dass beim Ersatz alter Strahlungsdetektoren in Block 3 die alten wieder eingebaut wurden, da die neuen gestohlen und an ein anderes Kraftwerk weiterverkauft worden waren,

– Ende 2003 wurde schlechtes Material zu dubiosen Preisen eingekauft und danach gestohlen.

Man mag gar nicht an die Konsequenzen derartiger Havarien und Praktiken in der Region St. Petersburg denken. Ob das so bleiben kann, liegt hinter den Worten des respektierten russischen Umweltaktivisten Wladimir Kuznetsow verborgen: „Sicherheitsverletzungen im LNPP sind die übliche Praxis.“ (hub./RU)

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