In Weißrussland geraten die Akw-Liquidatoren in Vergessenheit

Sie waren „Tschernobyl-Igel“. Jewgenia Filomenko weiß bis heute nicht, warum in Minsk Umsiedler aus den stark verstrahlten Gebieten in Süd-Weißrusslands so verspottet wurden – nur dass es nicht freundlich gemeint war.

Als sie 1991 aus der Stadt Narowlja in die Hauptstadt Minsk kamen, hatte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl das Leben der Filomenkos auf den Kopf gestellt: Flucht vor Verseuchung, Sohn Pawel nach hoher Strahlendosis behindert, arbeitslos und später die Angst wegen dieses Knotens im Hals, den Jewgenia einmal jährlich dem Arzt zeigt. Als ehemalige Tschernobyl-Liquidatorin dürfe sie beim Arzt wenigstens an der Warteschlange vorbeigehen, sagt Filomenko und setzt hinzu: „Wenn man nicht beschimpft wird.“

Die Liquidatoren werden als „Helden Europas“ gefeiert. Doch in Weißrussland geraten tausende Männer und Frauen, die ihr Leben oder wenigstens ihre Gesundheit aufs Spiel setzten, um die Folgen der Atomkatastrophe einzudämmen, in Vergessenheit. „Die Situation wird von Jahr zu Jahr schlechter“, sagt die von der russischen Liquidatoren-Vereinigung, Vizepräsidentin Olga Michailowa. Dabei sei die Lage in Weißrussland „ganz schlecht – keine Rechte, keine Gesundheitsfürsorge, keine offizielle Vertretung“.

Gegründet wurde die Organisation vom Ex-Sowjet-Generalmajor Nikolai Tarakanow. Der „Doktor der technischen Wissenschaften“ leitete den Tschernobyl-Einsatz als einer der ranghöchsten Militärs vor Ort. Auf Tarakanows Uniform, die er zu einem Treffen von Liquidatoren in der orthodoxen Gemeinde Aller Trauenden Freude in Minsk trägt, klimpern an die dreißig Orden – darunter eine „Röntgen-Medaille“ für den Tschernobyl-Einsatz. Nicht nur der Metallwert der Ordens-Pracht dürfte nicht allzu hoch sein: „Die hier wurden schon unter (Präsident) Jelzin abgeschafft“, sagt Tarakanow und zeigt auf zwei große Sterne.

Tarakanow schickte Soldaten zum Reaktor, je nach Strahlung 40 Sekunden bis drei Minuten lang. Er sei damals „frisch gebackener“ 42-jährige Generalmajor gewesen. Inzwischen hat sich der spätere Chef des russischen Zivilschutzes, dessen letzter großer Einsatz 1988 das Erdbeben in Armenien war, zum Atomkraftgegner gewandelt und gegen den Bau eines zweiten Akw in seiner Heimatregion Woronesch gekämpft. „Lieber bei Kerzenlicht leben, als dass es weiter Atomstrom gibt“, sagt Tarakanow. Bei den Fernsehbilder vom japanischen Atomkraftwerk Fukushima stünden ihm „die Haare zu Berge“.

Ähnliche Gefühle haben die mit Tarakanow angereisten russischen Liquidatoren, wenn sie von der Lage ihrer weißrussischen Ex-Kollegen hören. Sie seien „geschockt“. In Weißrussland seien alle Hilfen „gestrichen oder gekürzt“ worden, sagt Ex-Major Juri Tscheban, der im September 1986 zweimal am Reaktor schuftete. Für seine Verdienste wird ihm in Russland unter anderem die Hälfte der Miete erlassen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion seien auch in Russland die Hilfen geschrumpft, aber er sei „relativ zufrieden“.

Jewgenia Filomenko war „Ingenieurin für Gaststättentechnik“. Viele Menschen aus Narowlja arbeiteten im Akw Tschernobyl. Als der GAU passierte, habe sich die Nachricht durch die Schichtrückkehrer in der Stadt verbreitet, die nur rund 20 Kilometer von der heute gesperrten 30-Kilometer-Zone um den Reaktor liegt. Sie habe damals Einsatzkräfte im Katastrophengebiet versorgt. Ihre Söhne Pawel und Alexej waren fünfeinhalb und zweieinhalb. Pawel erkrankte: Schilddrüse, epileptische Anfälle, mit sechseinhalb galt er als „behindert“. Ihr Mann starb vor 18 Jahren nach einem Herzinfarkt. Psychosomatische Erkrankungen sind Experten zufolge sind unter Tschernobyl-Opfern weiter verbreitet als Krebs. Zu den Tschernobyl-Krankheiten zählen sie nicht.

Die 55-jährige Rentnerin lebt heute mit ihren beiden Söhnen sowie Alexejs Frau und Kind auf etwa 70 Quadratmetern in einer Plattenbausiedlung in Minsk. Gegen ihre gesundheitlichen Probleme gibt es Medikamente. Aber gegen die Erinnerungen hilft nichts: „Als ich von Fukushima gehört habe, konnte ich vier Tage die Wohnung nicht verlassen.“

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