Globaler Alarm

[Hanns-Martin Wietek] Michail Gorbatschow hat in einem Artikel in der «Russkaja Gazeta« von seinen Sorgen über die mangelhafte Führung sowohl in der nationalen als auch in internationalen  Politik geschrieben.

Wohin geht die Welt im „1. Jahrhundert? Diese Frage stellen sich viele Menschen und ich gehöre zu ihnen.

Mein Freund, der kürzlich verstorbene Dietrich Ggenscher und ich, wir haben uns oft gefragt, was schief gelaufen ist. Unsere Generation – die Generation der Politiker, denen es durch gemeinsame Anstrengung gelang, den Kalten Krieg zu beenden – wir haben unsere Arbeit geleistet. Aber warum ist die heutige Welt so unruhig, ungerecht und so militaristisch? Die augenscheinliche Beendigung der globalen Konfrontation und die ungeahnten Möglichkeiten neuer Technologien vor allem im Informationsbereich hätten doch der Welt den Atem geben müssen, das Leben besser zu machen, buchstäblich für jeden Menschen. Aber die Realität ist eine andere.

Dafür gibt es keine einfache Erklärung. Ich habe nicht nur einmal gesagt, dass die Politiker nicht ganz auf der Höhe (ihres Könnens hmw) waren. Diejenigen, die den Sieg des Westens im Kalten Krieg verkündeten, weigerten sich, ein neues gerechtes System der Sicherheit zu bauen und tragen heute den größeren Teil der Verantwortung für den gegenwärtigen Zustand der Welt. Triumphieren, das ist ein schlechter Berater in internationalen Angelegenheiten.

Aber es ist nicht nur dies. Die neue Welt wird bis heute nicht wirklich und vernünftig verstanden. Es bedarf neuer Verhaltensregeln und einer anderen Moral. Und bei den Führern der Welt kommt das nicht wirklich an.

Und ich glaube, das ist der Hauptgrund für die heutigen „globalen Wirren“.

Wer hat gewonnen und wer verloren in der globalen Welt?

Die Menschen sind besorgt wegen der internationalen Spannungen, aber sie sind nicht weniger besorgt wegen ihrer Situation und ihren Zukunftsaussichten. Denn beides ist miteinander verbunden.

Selbst in den entwickelten Ländern ist die Mehrheit der Menschen – und das ist der Mittelstand, die Basis einer sich erfolgreich entwickelnden Gesellschaft – mit ihrem Leben unzufrieden. Die Wähler unterstützen zunehmend politische Populisten, die auf den ersten Blick einfache, aber in Wirklichkeit gefährliche Lösungen anbieten.

Nicht rechenschaftspflichtige Finanzstrukturen haben sich schnell der Globalisierung angepasst und eine Seifenblase nach der anderen produziert und so aus dünner Luft milliardenschweres Geld gemacht. Diese Milliarden stehen nur einem zunehmend engeren Kreis von Menschen zur Verfügung, die sie vor den Steuern verstecken. In den vergangenen Tagen sahen wir neue Beispiele – aber das ist nur die Spitze des Eisberges.

Man darf auch nicht verschweigen, dass sich in einer globalisierten Welt das organisierten Verbrechen, Drogen- und Waffendealer und Gruppen, die an den Massenströmen von Flüchtlingen verdienen, Cyberkriminelle und vor allem Terroristen wohl fühlen.

Die Krise der Politik, die Krise der Führung

Bisher hat die Politik auf kein einziges Problem eine effiziente Antwort gefunden. Stattdessen hat eine neue Runde des Wettrüstens begonnen, hat sich die ökologische Krise verschärft und die Kluft zwischen reichen und armen Ländern und in den Ländern zwischen den Armen und Reichen ist größer geworden. Genau diese Probleme sollten an der Spitze der globalen Tagesordnung stehen. Aber sie wagen es nicht. Überall sind Sackgassen.

In Wirklichkeit gibt es für die Bewältigung dieser Probleme Funktionen und Mechanismen, die schon lange bestehen – wie die UNO – und solche, die für den Umgang mit neuen Problemen neu geschaffen wurden. Kaum jemand kann ihre Tätigkeit als erfolgreich bezeichnen. Sie sind immer zu spät und zurückgeblieben.

Die nationalen und internationalen Führer  sind in einer Krise. Die Politiker sind heute durch das „Löschen von Bränden“, durch das Lösen von aktuellen Problemen und Krisen und täglichen Konflikten vollkommen in Anspruch genommen.

Keine Frage, die Konflikte müssen gelöst werden. Aber es hat in den vergangenen Wochen auch einige positive Entwicklungen gegeben.

Es gibt einen Dialog über Syrien. Zugegeben, bisher bestreiten diesen vor allem die äußeren Parteien USA und Russland. Aber das führte schon jetzt zu einem Nachlassen der Spannungen zwischen den beiden Ländern.

Wenn sich dieser Trend weiterentwickelt, sollte er auf andere Bereiche der Beziehungen ausgedehnt werden. Aber es wird ein langer und schwieriger Prozess sein. Das Vertrauen ist zu stark beschädigt worden.

Keine Fortschritte gibt es in der Ukrainekrise. Die derzeitigen Mechanismen zur Lösung der Krise funktionieren nicht gut. Es scheint, dass sie zur Routine geworden sind. Aber man sollte diese Mechanismen (Minsker Abkommen und Normandie Format) nicht aufgeben. Es scheint notwendig zu sein, sie zu ergänzen und zu fördern. Vielleicht durch eine Diskussion im Sicherheitsrat der UNO oder irgendwelchen anderen Mechanismen unter Beteiligung Russlands und der USA.

Man darf nicht vom Geschwür Ukrainekrise ablassen, von dem die Welt in Fieber geraten ist. Noch einen eingefrorenen Konflikt kann Europa nicht ertragen. Ich wende mich wieder an die Präsidenten Obama und Putin (das erste Mal habe ich das im Januar 2014 getan) und rufe sie auf, sich zu treffen und über die Krise zu sprechen.

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Aber selbst wenn es gelingt, die derzeitigen akuten Krisen zu lösen, es wird nur ein wichtiger erster Schritt zur Lösung viel komplexerer Probleme sein. Es gilt, leben zu lernen in einer globalen Welt.

Ohne den globalen Kontext ist es nicht möglich, Ursache und Wirkung der gegenwärtigen Probleme zu erkennen und eine aktualisierte Tagesordnung zur Lösung der Probleme, die unweigerlich auftreten werden, zu erarbeiten.

Für die Tagesordnung der Weltordnung ist das Wichtigste, Prioritäten festzulegen.

Das Manifest von Russell-Einstein, die Ideen von Olaf Palme zur Sicherheit, die Rede von John F. Kennedy über „die Welt für alle“, die Genfer Erklärung der UdSSR und den USA im Jahr 1985 (Rejkjawik und das bestätigte Abkommen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens)  das waren Punkte einer Tagesordnung, die die wirklich großen Probleme der Menschheit an die erste Stelle setzten.

Heute sind es:
Das fortdauernde Problem der Massenvernichtungswaffen, der Rüstungswettlauf und die Militarisierung der Weltpolitik.
Das Problem der Armut und Unterentwicklung großer Teile der Menschheit.
Die ökologische Herausforderung des Klimawandels.
Der Terrorismus.

Andere drängende Fragen sind die Massenmigration, Fremdenfeindlichkeit und religiöse Intoleranz, das Problem der Koexistenz verschiedener Kulturen.

Der gemeinsame Nenner all dieser Probleme, von denen keines militärisch gelöst werden kann, ist die Gewalt.

Es ist unbestritten, dass die Bemühungen vereinigt werden müssen, aber bisher dominiert Uneinigkeit und die Unfähigkeit, gemeinsam zu handeln.

Die Hauptverantwortung für diese Situation liegt bei den Staaten und ihren Führern. In einer globalem Welt gibt es aber noch andere Teilnehme an globalen Prozessen. Das sind Organisationen der Zivilgesellschaften, der Wirtschaft, der Wissenschaften und religiöse Gruppen. Aber die Rolle und Verantwortung der Staaten und ihrer Führer muss entscheidend bleiben für die zwischenstaatlichen Organisationen.

Politik und Moral. Verhaltensregeln

Ein anderes Gebot der heutigen globalen Welt, ist die Notwendigkeit, Politik und Moral miteinander zu verbinden.

Das ist ein großes und schwieriges Problem, das nicht auf einen Schlag zu lösen ist. Aber wenn man sich dem Problem nicht stellt und an seiner Lösung nicht arbeitet, wird die Welt für immer zu neuen Konflikten und unlösbaren Widersprüchen verdammt sein.

In der globalen Welt ist besonders die Doppelmoral gefährlich. Die Unterstützung von Terroristen, extremistischen Gruppen, bewaffnete Bewegungen. die legitime Regierungen mit Gewalt stürzen wollen, durch Staaten, die diese Gruppen in ihrem Interesse gebrauchen, muss ausgeschlossen werden.

Die Beziehungen der Staaten in einer globalisierten Welt unterliegen nicht nur dem Völkerrecht, sondern auch bestimmten Verhaltensregeln, basierend auf den Prinzipien der Moral.

Diese Verhaltensregeln sollten sein: Zurückhaltung, die Berücksichtigung der Interessen aller Parteien, Beratung und Vermittlung bei Verschlimmerung der Situation und bei der Gefahr einer Krise. Ich bin mir sicher, dass die ukrainische und die syrische Krise hätten vermieden werden können, wenn sich die unmittelbaren Teilnehmer und vor allem auch die externen nach diesen Regeln verhalten hätten.

Ich denke solche Verhaltensregel, eine Art Ethik-Kodex, brauchen wir auch für die Medien. Sie sind, ich möchte sagen nicht ohne Sünde. Oft verschmutzen sie ihre informative Umgebung durch hitzige Leidenschaft und anstatt bei der Verhütung und Beendigung von Konflikten zu helfen, schüren sie die Konflikte.

Mein wichtigster Punkt ist: Die globale Agenda der Probleme muss aktualisiert werden, die Kombination von Moral und Politik müssen als Verhaltensregeln in der globalen Welt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Staaten und Zivilgesellschaften gestellt werden.

Die Rolle Russlands

Ich bin mir sicher, dass die Rolle Russlands bei der Überwindung der Krise der Weltpolitik eine wichtige und positive sein kann und soll. Für den Westen ist es höchste Zeit, mit dem Versuch Russland zu isolieren, aufzuhören. Das hat nie funktioniert. Noch viel weniger werden „persönliche Strafen“ bewirken. Sie sollten zu allererst beendet werden, weil es sonst keinen Dialog und keine Wiederherstellung des  Vertrauens geben wird.

Niemand darf erwarten, dass Russland angesichts seiner wirtschaftlichen Schwierigkeiten eine untergeordnete Rolle in der Weltpolitik akzeptieren wird. Wenn das so geschehen wäre, hätte niemand dadurch etwas gewonnen. Mehr noch: durch einen neuen Kalten Krieg können alle nur verlieren.

Vor ein paar Tagen äußerte Putin in der Sendung „der direkte Draht“ den Wunsch, die Beziehungen zum Westen zu normalisieren. Werden unsere Partner zu konstruktiven Verhaltensweisen zurückkehren? Noch ist es unklar, aber ich ermutige sie dazu.

Heute ist ein entscheidender Moment. Wir müssen Emotionen und propagandistische Exzesse beiseitelegen. Die heutige Generation der führenden Staatenlenker kann noch ernsthafte Ansprüche anmelden. Nach wie vor hat sie noch eine Chance, einen würdigen Platz in der Geschichte zu belegen. Es wäre ein großer Fehler eben diese Chance zu vertun.
(Hanns-Martin Wietek/russland.ru)

Original in der »Russkaja Gazera« Тревоги глобального мира

 

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