Gesellschaftliche Diplomatie an der WolgaWolgograd

Gesellschaftliche Diplomatie an der Wolga

[Hartmut Hübner] Wolgograd, das ehemalige Stalingrad, von der UNO mit dem Titel „Botschafterstadt für den Frieden“ geehrt, war in den letzten Tagen erneut Gastgeberin des internationalen Forums „Dialog an der Wolga – Frieden und Verständigung im 21.Jahrhundert“. Zum sechsten Mal fand in der russischen Heldenstadt diese Konferenz zu den Formen und Möglichkeiten der so genannten gesellschaftlichen Diplomatie statt, die sich als Gegenveranstaltung zur offiziellen staatlichen Diplomatie versteht und die Beziehungen der Bürger beider Länder in vielen Bereichen beschreibt, vor allem in Kultur, Wissenschaft, beim Jugendaustausch und bei Städtepartnerschaften.

Diesmal waren über 200 Teilnehmer aus 40 Ländern gekommen, darunter die Botschafter Belgiens und Argentiniens und auch wieder eine starke Delegation aus Deutschland, zu deren prominenten Mitgliedern Prof. Dr. Wilfried Bergmann, stellvertretender Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, die Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE Gregor Gysi, Alexander Neu und Klaus Ernst sowie der frühere Oberbürgermeister von Wolgograds Partnerstadt Köln, Jürgen Roters, gehörten. Die deutsche Regierung war immerhin durch den stellvertretenden Leiter der Politischen Abteilung der deutschen Botschaft, Steffen Kordasch, vertreten.

Bei der Eröffnung erinnerte der stellvertretende Gouverneur des Wolgograder Gebietes, Andrej Kossolapow, daran, dass vor 75 Jahren, noch während des zweiten Weltkrieges, die weltweit erste Städtepartnerschaft zwischen Stalingrad und dem englischen Coventry geschlossen wurde und damit diese weltweite Bewegung begründete.

Bereits als Oberbürgermeister hatte er großen Anteil daran, dass aus den Treffen der Wolgograder Partnerstädte inzwischen das weltweit bedeutendste Forum für gesellschaftliche Diplomatie wurde.

Bei der Podiumsdiskussion zur Eröffnung der Konferenz meinte der belgische Botschafter in Moskau, dass es an der Zeit sei, über Gespräche auf allen Ebenen auch wieder zu gemeinsamem Handeln zu finden. „Dafür sind die Begegnungen der Menschen unserer Länder das beste Mittel“, betonte er.

Linda Bigham, Lord Mayor von Coventry, stellte fest: „Die Begründung der weltweit ersten Partnerschaftsbeziehungen zwischen Wolgograd und Coventry förderte die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen vielen Städten auf der ganzen Welt. Seit 1944 sind wir einen langen Weg gegangen, aber wir dürfen nicht stehenbleiben, sondern sollten helfen bei der Entstehung neuer Partnerschaftsbeziehungen. Dieses Forum trägt dazu bei und hilft, die Welt ein wenig sicherer zu machen.“

Der Präsident der Europäischen Linken und stellvertretende Vorsitzende der deutsch-russischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Gregor Gysi, verwies darauf, dass die tragischen Ereignisse von Stalingrad, die  über eine Million Menschen das Leben kosteten, gerade den Deutschen als Mahnung für immer im Gedächtnis bleiben sollten. „Wenn wir im kommenden Jahr den 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus durch die Alliierten begehen, muss auch daran erinnert werden, dass die Sowjetunion die schwerste Last im Zweiten Weltkrieg trug und sie auch den größten Anteil am Sieg  über das Nazi-Regime hatte.“

In mehreren Arbeitsgruppen wurde u.a. über die Rolle der gesellschaftlichen Diplomatie zur Überwindung gegenseitigen Misstrauens und bei der Wiederherstellung des Dialogs auf politischer Ebene diskutiert. Gutnachbarschaftliche Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation auf der Grundlage gegenseitiger Verständigung und Sicherheit bezeichnete der Botschafter der EU in Moskau, Markus Ederer, als unerlässlich für eine fruchtbare und friedliche Entwicklung des gesamten Kontinents.

Die Leiterin des Moskauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Kerstin Kaiser, sprach von Gegenwind bei der Entwicklung der gesellschaftlichen Diplomatie zwischen der Russischen Föderation und Deutschland. Wie sie feststellte, ist die politische Situation in Deutschland heute „künstlich aufgeheizt“: „Wenn man Russland und Putin nicht öffentlich kritisiert, wird man als „Russland-Versteher“ bezeichnet, was als Stigma gilt.“ Die antirussische Rhetorik in Deutschland ist nach Meinung der Publizistin und Friedensaktivistin Christiane Reymann in vielerlei Hinsicht zwanghaft und resultiere aus gewissen „Bündnisverpflichtungen“. Christiane Reymann: „Doch die Menschen in Deutschland vertrauen heute Putin mehr als Trump.“

Vor falschen Freunden warnte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag, Alexander Neu. Auch wenn die Partei „Alternative für Deutschland“ sich als Freund Russlands ausgebe, sei sie andererseits für die Aufrüstung der NATO und die Stärkung der Bundeswehr mit deren gegen Russland gerichteten Strategie.

In diesem Jahr nahmen zum ersten Mal junge Leute aus der ganzen Welt am „Dialog an der Wolga“ teil. Junge Führungskräfte aus 48 Ländern, Teilnehmer am Programm „New Generation“, diskutierten ihren Beitrag zu gesellschaftlichen Diplomatie und skizzierten die Aussichten für eine künftige gemeinsame Arbeit.

Ein neuer Teil des Forums waren auch die „Tage des internationalen Business“  in der „Wolgograd-Arena“, in deren Rahmen beispielsweise Verhandlungen zwischen 27 ausländischen und 70 Wolgograder Unternehmen verschiedener Wirtschaftszweige über mögliche Kooperationen stattfanden.

Das deutlich gestiegene qualitative Niveau des Forums, die perfekte Organisation und das offensichtliche Interesse verschiedener Länder machen es möglich, dass Wolgograd der Status der Hauptstadt der russischen gesellschaftlichen Diplomatie verliehen werden kann, erklärte die Leiterin der Agentur Rossotrudnitschestwo des russischen Außenministeriums.

„Dieser neue Status der Heldenstadt Wolgograd ist für die Förderung der Partnerschaftsbeziehungen von großer Bedeutung. Wir möchten Verbindungen zu anderen Partnerstädte in den Bereichen Kultur, Kunst, Geschichte, Tourismus und Bildung aufbauen“, betonte der stellvertretende Gouverneur des Wolgograder Gebietes, Andrej Kossolapow.

Der nächste „Dialog an der Wolga“ ist bereits für Ende Oktober 2020 geplant. (hh/russland.news)

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