Fëdor Michajlovič Dostoevskij Teil 3 – Stürmische Jahre

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Endlich war es soweit: 1859 konnte Fëdor Michajlovič Dostoevskij nach St. Petersburg zurückkehren. Es war jedoch nicht mehr das St. Petersburg, das er verlassen hatte; in den zehn Jahren seiner Abwesenheit hatte sich Entscheidendes verändert.

Vorbei war es mit der bleiernen Friedhofsruhe unter Nikolaus I.: Russland hatte die Erfahrung des verlorenen Krimkrieges gemacht; mit Alexander II. war ein liberaler Kaiser an der Macht; Reformen waren angekündigt und teilweise schon durchgeführt; die Aufhebung der Leibeigenschaft stand vor der Tür; über hundert Zeitungen waren neu gegründet worden und die Pressezensur war zwar nicht aufgehoben, aber doch erheblich abgeschwächt worden – Land und Leute und vor allem die Schriftsteller atmeten auf.

Dostoevskij war darauf versessen, sich endlich wieder ganz dem Schreiben widmen zu können, was zwangsläufig bedeutete, dass er sich mit gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen hatte, denn von einem ernsthaften Schriftsteller erwartete man, dass er Stellung bezog; und genau das wollte er auch. Die beste Möglichkeit, am politischen und kulturellen Leben Russlands teilzunehmen, bot eine eigene Zeitschrift. Mit seinem Bruder Michail gründete er die Zeitschrift Vremja (Die Zeit); Michail, der für dieses Vorhaben seine Fabrik verkaufte, fungierte als Herausgeber, und so wurde das Blatt zur finanziellen Grundlage beider Familien. Namhafte Autoren veröffentlichten darin und Dostoevskij schrieb, deutlich auf den Geschmack der Leser zugeschnitten, den bewusst sensationellen und sozialkritisch-sentimentalen Roman Erniedrigte und Beleidigte für die erste Ausgabe. Er knüpfte mit diesem Roman ganz bewusst an Arme Leute an, seinen Erfolgsroman von 1846. Beim Publikum war er dann auch ein voller Erfolg, bei den Kritikern fand er geteilten Beifall.

In Erniedrigte und Beleidigte blickt ein desillusionierter, todkranker Schriftsteller auf die letzten Jahre seines Lebens zurück. Es sind zwei anfangs scheinbar nichts miteinander zu tun habende Geschehen, die Dostoevskij erzählerisch hervorragend miteinander verwebt, bis sich am Schluss herausstellt, dass beide in der Person eines moralisch minderwertigen Fürsten zusammenlaufen. Es ist ein Gesellschaftsroman à la Balzac oder Dickens, mit dem er den Geschmack der Leser genau traf. Berührende Einzelszenen und hervorragend gezeichnete Charaktere – Stärken Dostoevskijs, die auch seine weiteren Werke auszeichnen – machen den Roman noch heute lesenswert. Sozialkritik ist vorhanden, tritt aber hinter die effektvoll gezeichneten Szenen zurück.

Schon nach wenigen Ausgaben begann er in der Zeitschrift mit dem Abdruck der ersten Kapitel der Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, die ihn endgültig berühmt machten. (Siehe hierzu »Fëdor Michajlovič Dostoevskij Teil II Vom Saulus zu Paulus«)

Dostoevskijs Berühmtheit und die Beliebtheit seiner Zeitschrift führten dazu, dass sich auch junge Schriftsteller mit der Bitte um Veröffentlichung an ihn wandten. 1861, bei einer Lesung aus seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, lernte er die 21jährige Polina Suslova kennen, die bald einige Manuskripte bei ihm einreichte. So wie Dostoevskij in seinen jungen Jahren war auch sie – wie viele ihrer intellektuellen Altersgenossen – eine begeisterte Anhängerin der Frühsozialisten.
Polina wurde zu Dostoevskijs einziger, leidenschaftlicher Liebe; es war eine besessene Liebe, eine sexuelle Abhängigkeit bis zur Hörigkeit. In vielen seiner Frauengestalten hat er sie später abgebildet. Sie wandte sich 1863 desillusioniert von ihm ab, weil sie erkannte, dass sich seine Überzeugungen verändert hatten. Für ihn aber blieb sie die große Liebe und er versuchte noch lange Jahre danach, sie zurückzugewinnen.

Dostoevskij lehnte jetzt den materialistischen Rationalismus der Sozialisten als einen westlichen Import ab. Er war überzeugt davon, dass das Wohl von Russland davon abhing, einen eigenen Weg zu gehen. Die Intelligenzija musste sich dem Volk wieder annähern, Bauern, Intellektuelle, Kirche und Obrigkeit mussten wieder EIN Volk werden, alle mussten Teil einer russischen Gruppenseele werden. Aus dem einstigen Sozialrevolutionär von 1848 war ein Liberaldemokrat geworden, der Väterchen Zar und die Kirche als notwendige Bestandteile des russischen Volkes anerkannte.

Anfang Juni 1862 fuhr Dostoevskij zum ersten Mal nach Westeuropa. Es war eine wilde Hatz. In nur zweieinhalb Monaten jagte er durch Berlin, Dresden, Wiesbaden, Baden-Baden, Köln, Paris, London, Genf, Luzern, Turin, Genua, Livorno, Florenz, Mailand, Venedig und Wien. Ihm ging es bei dieser Reise nicht um Sehenswürdigkeiten, er wollte die Menschen kennenlernen, ihn interessierte ein Gesamtbild des Straßenlebens – er suchte die Bestätigung für sein Bild von dem dekadenten Westeuropa. Und er ließ an den Westeuropäern kein gutes Haar. Er reiste quasi mit russischen Scheuklappen und fand eine arrogante, prüde und egoistische Bourgeoisie vor (von der sich auch die westlichen Sozialisten in nichts unterschieden), protzigen Reichtum, uferlosen Egoismus, Profitstreben und blinde Verherrlichung der Vernunft auf der einen Seite und trostlose Armut auf der anderen Seite – kurz: er sah ein Bild, das zwar durchaus dem frühkapitalistischen Westeuropa entsprach, aber er sah eben nur dieses eine Bild, andere Seiten wollte er gar nicht sehen. Sein Russlandbild bekam dagegen zwangsläufig einen immer größeren Glorienschein.

Die Eindrücke von dieser Reise fasste Dostoevskij in Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke zusammen, die er Anfang 1863 in seiner Vremja veröffentlichte. In diesen Aufzeichnungen stellt er der Persönlichkeitsstruktur des Westeuropäers, die auf „schwankendem Egoismus“ beruhe, das Wesen des Russen gegenüber, der in „fester Familien- und Gemeinschaftsbildung“ verwurzelt sei; die Lebensform des westlichen Menschen sei überzogenes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, für den Russen dagegen sei „ständiges Misstrauen gegen sich selbst“ charakteristisch; auf Erden ein angebliches Paradies oder eine vermeintliche Hölle seien nur scheinbare Gegensätze, denn entweder lande der Mensch in einem spießbürgerlichen oder in einem sozialistischen Ameisenhaufen der Gesichtslosigkeit. Es ist eine harsche Kritik, die teilweise deutlich über das Ziel hinausschießt, aber doch mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthält.

Im selben Jahr veröffentlichte er in seiner Zeitschrift auch noch einmal einen rein literarischen Beitrag, eine kleine Satire über einen Vorgesetzten, eine Exzellenz, die schon leicht angeheitert beschließt, einen seiner Untergebenen patriarchalisch wohlwollend bei dessen Hochzeit zu „beehren“, um seine Verbundenheit mit dem einfachen Volk zu demonstrieren. Diese Dumme Geschichte geht natürlich ganz fürchterlich daneben, denn am Ende schleppen ihn die Gäste sturzbesoffen in das Hochzeitbett der Neuvermählten, denn nur das war natürlich für einen so hohen Gast gut genug.

Im April 1863 wurde die Zeitschrift Vremja tragischerweise verboten. Tragischerweise einerseits, weil das Verbot auf einem von der Zensur völlig missverstandenen Artikel beruhte und andererseits, weil es die Zeitschrift in ihrer Blütezeit traf, in der die Existenz beider Familien endlich gesichert gewesen war. Fëdor Michajlovičs Bruder beantrage sofort die Zulassung einer neuen Zeitschrift, Epocha, der bürokratische Weg war jedoch zeitraubend.

Dostoevskij nutzte die Zeit bis zu einem möglichen Erscheinen, indem er seine zweite Europareise begann; er reiste seiner geliebten Polina, die in Paris war, hinterher. Er kam aber erst einmal nur bis Wiesbaden. Und hier begann ein tragisches Kapitel seines Lebens: Er wurde von der Spielleidenschaft gepackt.

Von einer Sucht im wissenschaftlich definierten Sinn kann man wahrscheinlich nicht sprechen, denn genauso plötzlich, wie er zu spielen begann, hörte er 1871 wieder damit auf. Er glaubte zumindest anfangs (wie viele Spieler), mit einem System, mit Berechnung, das Glück bezwingen zu können, und wenn er verlor, war das nicht die Logik des Roulette-Spiels, sondern ein Fehler in seiner Berechnung. Um dieses Phänomen besser zu verstehen, muss man den Menschen Dostoevskij etwas genauer betrachten: Er hatte durch das plötzliche Verbot der Vremja einen Sack voll Schulden, und das, wo er doch von Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit an immer von einer Million geträumt hatte, die ihn unabhängig machen sollte, damit er das schreiben könnte, was er für richtig und wichtig hielt. Hinzu kommt, dass die Reizschwelle für einen Menschen, der Extremsituationen ausgestanden hat, ungeheuer hoch liegt. Dostoevskij hatte eine Verurteilung zum Tode, eine Scheinhinrichtung und die grausamste Strafe, die es damals gab, die Katorga, überstanden, Erlebnisse, die einen „normalen“ Menschen physisch und psychisch hätten zerbrechen lassen. Dostoevskij brauchte Reize und Anspannung, um kreativ sein zu können, um schreiben zu können. Seine zweite Frau Anna Grigorjevna würde später erkennen und akzeptieren, dass Dostoevskij, wenn er beim Schreiben einfach nicht weiter kam, wieder einmal in einer Spielhölle versinken musste, obwohl die Familie dadurch mehr als einmal an den Rand des Abgrunds geriet.

In Wiesbaden gewann er schlussendlich einige Tausend Franken und fuhr weiter nach Paris, wo ihn Polina mit den Worten empfing: „Du kommst etwas zu spät“. Sie hatte sich in einen jungen Spanier verliebt, der sie jedoch sitzen ließ. Und wieder spielte er – wie nach seiner Hochzeit mit Marja Dmitrijevna und ihrem Liebhaber – den Helden, den er in seinen Weißen Nächten beschrieben hatte, und versuchte diese Beziehung zu retten, jedoch ohne Erfolg. Dostoevskij und Polina fuhren weiter – wie „Bruder und Schwester“ – nach Baden-Baden, wo er die gesamte Reisekasse verspielte und sich von seiner kranken Frau 100 Rubel schicken lassen musste, um weiterzukommen. Genf, Turin, Rom, Neapel, Genua und wieder Turin waren die Stationen – teilweise flüchteten sie vor den Hoteliers – und überall spielte er und verlor, sodass er sogar seine Uhr und Polina ihren Ring versetzen musste. Wieder in Turin angekommen hatte Polina genug, sie verließ ihn und fuhr nach Paris zurück; er versuchte mit dem Geld, das er sich aus Russland von seinem Verleger als Vorschuss hatte schicken lassen und das für die Heimreise gedacht war, noch einmal in Bad Homburg sein Glück und verlor wieder alles. Flehentlich bat er Polina in Paris um Hilfe, die ihre Uhr und Halskette verpfändete, damit er nach St. Petersburg zurückfahren konnte.

Am 21. Oktober 1863 kam er nach St. Petersburg zurück. Hier war er zwar vor den Spielhöllen des Auslands sicher, dafür erwarteten ihn aber andere Schicksalsschläge. Gepeinigt von Schuldgefühlen zog er mit seiner todkranken Frau nach Moskau – des für sie besseren Klimas wegen – und pflegte sie hingebungsvoll bis zu ihrem Tod im April 1864. Er selbst litt in dieser Zeit häufig unter seinen epileptischen Anfällen, die ihn erstmals 1850 während seiner Zeit in der Katorga heimgesucht hatten und danach immer häufiger wurden, und an verschiedenen anderen Krankheiten. In dieser Zeit schrieb er in wenigen Wochen – während sein Bruder die erste Ausgabe der Epocha vorbereitete – sein wohl kompromisslosestes (und wohl auch am schwersten zu lesendes) Werk, die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (auch: Untergrund).

Die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch sind im ersten Teil der große Monolog eines verbitterten, kranken, aber höchst intelligenten Mannes, der schonungslos gegen die intellektuellen Tendenzen der Zeit wettert und die bedingungslose Vernunftgläubigkeit der Menschen anprangert. „Wie wäre es, meine Herren, wenn wir diese ganze Vernünftigkeit mit einem einzigen Fußtritt davonjagen würden?“ Zwei plus zwei müsse nicht vier sein, es könne zum Beispiel auch fünf sein. Der Kellerlochmensch plädiert für eine freiwillige Verrücktheit. Der zweite Teil zeigt Ereignisse aus der Vergangenheit des zur Zeit der Niederschrift Vierzigjährigen. Masochistisch schildert er sein Versagen, sein Versagen im Berufsleben, im zwischenmenschlichen Kontakt und auch in seinen Intimbeziehungen.

Dostoevskij veröffentlichte diese Aufzeichnungen, mit denen er sich vollständig gegen den Zeitgeist stellte, in der gerade neu erschienen Epocha, was der Zeitschrift gar nicht gut tat. Die ohnehin schon spärlichen Abonnentenzahlen ging noch weiter zurück. Als fast einziger lobte der Kritiker Apollon Grigorev das Werk und später bezeichnet Nietzsche das Werk als „wahren Geniestreich der Psychologie“.

Im März 1864 erschien die erste Ausgabe der Epocha mit seinen Aufzeichnungen, im April starb Dostoevskijs Frau und im Juni starb überraschend auch sein Bruder Michail. Urplötzlich stand Dostoevskij völlig allein da: „Vor mir“, schrieb er, „habe ich nur noch die Epilepsie und ein kaltes, einsames Alter“. Der Schrecken wurde noch größer, als er erfuhr, dass er von seinem Bruder 25.000 Rubel Schulden „geerbt“ hatte – zum Glück half ihm eine reiche Patentante erst einmal mit 10.000 Rubel aus.
Anfang 1865 – in Russland herrschte eine schwere Wirtschaftskrise – musste Dostoevskij fehlender Abonnenten wegen die Zeitschrift liquidieren, März 1865 erschien die letzte Ausgabe. Seine letzte Veröffentlichung darin war die groteske Novelle Das Krokodil, mit der er sich allerdings auch keine Freunde machte, denn sie wurde als Anspielung auf Černyševskij, der gerade nach Sibirien geschickt worden war, und als Verunglimpfung der Ideen der utopischen Sozialisten gelesen.

15.000 Rubel Schulden blieben ihm und dazu die moralische Verpflichtung, für die Familie seines Bruders und dessen Geliebte mit Kind zu sorgen. Verzweifelt bettelte er alle an, die als Unterstützer in der Not infrage kommen konnten, Verwandte, Freunde, Kollegen, er bat Herausgeber um Darlehen, alles erfolglos. Wie schlecht es ihm ging, zeigt ein Brief an seinen alten Freund Baron Wrangel:

O mein Freund, wie gerne ginge ich wieder ebenso viel Jahre ins Zuchthaus, nur um meine Schulden zu bezahlen und mich wieder frei zu fühlen. Jetzt muss ich wieder einen Roman unter der Fuchtel schreiben, das heißt aus Not und in Hast. Er wird sehr wirkungsvoll werden, aber ist denn das mein Ziel? Die Arbeit aus Not, um des Geldes willen, erdrückt mich und frisst mich auf! … Ich laufe von Haus zu Haus, um das Geld zu beschaffen, sonst bin ich verloren. Ich ahne, dass nur ein Zufall mich retten kann. Von dem ganzen Vorrat an Kräften und Energie ist in meiner Seele nur eine dumpfe Erregung geblieben, ein Gefühl, das hart an Verzweiflung grenzt. Unruhe, Bitterkeit, kalte Geschäftigkeit, ein für mich völlig unnormaler Zustand und zu alledem die Einsamkeit.

Im Juli 1865 verkaufte Dostoevskij die Rechte an all seinen Werken für eine einmalige Ausgabe für 3.000 Rubel an einen Verleger. Der Vertrag enthielt die Klausel, dass Dostoevskij sich außerdem verpflichtete, bis 1. November 1866 das Manuskript eines Romans vorzulegen. Sollte er den Termin nicht einhalten, sicherte sich der Herausgeber das Recht, alle Werke der darauf folgenden neun Jahre ohne Honorar für den Autor herauszugeben. Diese Klausel sollte noch recht bedeutsam für Dostoevskijs Leben werden.

Mit den 3.000 Rubeln ergriff Dostoevskij die Flucht, natürlich ins Ausland, zu den Roulettetischen nach Wiesbaden. Es war seine dritte Europareise und schon nach fünf Tagen war alles Geld einschließlich Armbanduhr verspielt. Er bat Alexander Herzen um 150 Taler und Turgenev um 100. Turgenev schickte nur 50 Taler, was er sicherlich als Ermahnung wegen Dostoevskijs Spielleidenschaft verstanden wissen wollte. Das verübelte ihm Dostoevskij zeit seines Lebens sehr.
Die Situation war so katastrophal, dass er zeitweilig nichts zu essen hatte und befürchtete, auf die Straße gesetzt bzw. der Polizei übergeben zu werden. Baron Wrangel half ihm schließlich aus der Klemme und mit 300 Rubeln Vorschuss, die er vom Verleger Katkow für das Projekt Schuld und Sühne erhalten hatte, reiste er im Oktober nach St. Petersburg zurück. Dort erwarteten ihn die alten Zustände: Die Gläubiger standen Schlange, die Verwandten forderten eindringlich Geld und es gab keine Aussicht auf Einnahmen.

Dostoevskij aber arbeitete 1866 unbeirrt an seinem großen Roman Schuld und Sühne (auch Verbrechen und Strafe oder Rodion Raskolnikoff), dessen Kapitel noch während er schrieb nach und nach in der Zeitschrift Russischer Bote erschienen. Schuld und Sühne ist sicher einer der besten Romane von Dostoevskij – wenn nicht der beste. Es ist ein atemberaubend spannender sozial-psychologischer Kriminalroman, durchkomponiert, wie es nur ein Dostoevskij kann, und zugleich eine künstlerische Wiedergabe der Dostoevskijschen Weltanschauung. Dieser Roman ist in jeder Beziehung eine Klasse für sich:

Der Student Rodion Raskolnikow ist ein überzeugter Anhänger des Nützlichkeitsdenkens, ein Utilitarist. Er ist der Meinung, dass es kein Verbrechen ist, Menschen, die zum Schaden anderer ein verabscheuungswürdiges Leben führen, umzubringen. Also beschließt er, eine habgierige Pfandleiherin umzubringen. Er nimmt sich das Recht heraus, Gerechtigkeit im von ihm verstandenen Sinn zu üben, und meint, damit keine Schuld vor sich selbst und der Gesellschaft auf sich zu laden. Bei der Tat ertappt ihn jedoch die fromme Schwester der Pfandleiherin und er muss sie, um ungeschoren davon zu kommen, ebenfalls umbringen. Nur kann er diesen zweiten Mord nicht wie den ersten entschuldigen. Die eigentliche Strafe für das Verbrechen entpuppt sich dann aber als die Angst vor dem Entdecktwerden, und die hält Raskolnikow nicht lange aus. Er gesteht den Mord, kann aber immer noch keine Reue empfinden. Erst im sibirischen Straflager kommt er zu der Einsicht, dass ein Leben, das allein auf der Ratio gründet, nicht das richtige sein kann, es bedarf etwas, was kein Mensch leisten kann: Es bedarf der göttlichen Hilfe. Dostoevskij stellt sich hier gegen die Meinung, dass Gesellschaftstheorien – wie sie Raskolnikow vertritt – Heil bringend sein könnten. Soziale Gerechtigkeit ist seiner Meinung nach nur mit Gott erreichbar: „Moralische Ideen entstehen aus religiösen Gefühlen. Logik kann sie niemals rechtfertigen.“

Der Roman wurde zu einem riesigen Erfolg, man sprach, wo man auch immer hinkam, nur von ihm; das ging so weit, dass einige sich sogar über die Faszination, die der Roman auslöste, beklagten.
Dostoevskij zog sich aufs Land zurück und genoss zum ersten Mal in seinem Leben etwas Ruhe.

Das konnte aber nicht lange so bleiben, denn der ominöse 1. November 1866 rückte unaufhaltsam näher, der Termin, an dem er laut dem Knebelvertrag ein Manuskript vorlegen musste, wollte er nicht die zukünftigen Früchte seiner Arbeit aufs Spiel setzen. Ende September kehrte er nach St. Petersburg zurück und hatte noch kein Wort geschrieben. Dem Ratschlag eines Freundes folgend nahm er sich eine Stenotypistin und diktierte ihr in nur 26 Tagen seinen Roman Der Spieler. Dies ist natürlich ein stark autobiografischer Roman, in dem er seine unglückliche Liebe zu Polina und seine Spielleidenschaft zu bewältigen versucht. Schon wegen der Umstände seiner Entstehung konnte Der Spieler kein so hervorragend durchkomponierter Roman werden wie Schuld und Sühne, es ist jedoch ein spannender, teilweise (aufgrund der unausgesprochenen Selbstkritik) auch amüsanter Roman mit vielen psychologischen Analysen – und er hatte Erfolg.

Die Zusammenarbeit mit der Stenotypistin, der 20 Jahre alten Anna Grigorjevna Snitkina, hatte ihn begeistert; endlich fand er Unterstützung bei einer Frau, während alle seine vorherigen Beziehungen ihm im Gegenteil seine Kräfte geraubt hatten. Er bat sie, weiter für ihn zu arbeiten und schon eine Woche später machte er ihr einen Heiratsantrag. Der 45jährige, kranke, einigermaßen berühmte und von Schulden geplagte Dostoevskij fand in Anna Grigorjevna seinen ruhenden, verständnisvollen Gegenpol. Schon am 15. Februar 1867 fand zum Missfallen all seiner Verwandten die Hochzeit statt.
Die Querelen in der Familie – bei allen war er verschuldet und der schon immer haltlose Stiefsohn aus erster Ehe, der auch noch zum Trinker geworden war, intrigierte, wo immer er nur konnte, gegen die neue Frau – und vor allem der Druck der aufdringlichen Gläubiger wurden unerträglich; im April flüchteten die Neuvermählten aus Russland nach Westeuropa. Vier lange Jahre sollten sie Russland nicht wiedersehen, obwohl eigentlich nur drei Monate geplant waren.

Die Stationen waren wieder Berlin, Dresden, Bad Homburg, Baden-Baden, Genf, Mailand, Florenz und Wiesbaden. Sie zigeunerten hin und her. Es war das gleiche Drama wie bei seiner dritten Europareise im Jahr 1865: Dostoevskij spielte, verlor, sie mussten alles verpfänden, sie hungerten, bettelten Freunde und Bekannte an, die Familie stand mehrmals am Rand des Abgrunds. Dostoevskij versprach, sich zu bessern, dann folgten wieder Wochen angestrengten Arbeitens. Zwei Töchter kamen zur Welt, eine Tochter starb – und über allem stand Dostoevskijs Sehnsucht nach Russland.

In den vier Jahren im gefühlten Exil schrieb er sein zweites großes Werk, das 1869 erschien: Der Idiot.
In ihm stellt Dostoevskij einen vollkommenen und schönen Menschen dar, eine russische Christusgestalt, einen Menschen von selbstverständlicher Güte: Fürst Myschkin, ein junger Mann aus altem adligen Geschlecht, aus einer Heilanstalt – als von einer Geisteskrankheit geheilt – entlassen und mit epileptischen Anfällen, wird wegen seines schon beunruhigend friedfertigen Naturells als Idiot bezeichnet. Zuerst gewinnt er immer sehr schnell die Sympathie der Menschen, verliert sie aber auch sehr schnell, weil er den Menschen in seiner Güte unheimlich ist und weil um ihn herum alles immer in eine Katastrophe mündet. Thematisch ist es ein Liebesroman, in dem Fürst Myschkin und der Kaufmann Rogoschin, der charakterlich der Gegensatz zu Myschkin ist, auf der einen Seite stehen, wohingegen Natascha, eine ehemalige Kurtisane, und Aglaja, eine bildhübsche Generalstochter, auf der anderen Seite. Am Ende ersticht Rogoschin Natascha, und Fürst Myschkin wacht gemeinsam mit seinem Gegenspieler neben der toten Frau:

Jedenfalls, als, bereits viele Stunden später, die Tür sich öffnete und Menschen hereinkamen, fanden sie den Mörder in völliger Besinnungslosigkeit und im Fieberwahn. Der Fürst saß unbeweglich neben ihm auf der Matte und beeilte sich jedes Mal, wenn der Kranke einen Schreikrampf oder einen Fantasieausbruch hatte, ihm leise mit seiner Hand über Haar und Wangen zu fahren, als ob er ihn liebkosen und trösten wollte. Aber er begriff nicht mehr, wonach man ihn fragte, und erkannte die Menschen, die hereingekommen waren und ihn umstanden, nicht wieder. Und wenn Schneider selbst jetzt aus der Schweiz erschienen wäre, um seinen ehemaligen Schüler und Patienten wiederzusehen, so hätte auch er, eingedenk des Zustandes, in dem der Fürst während seines ersten Kurjahres manchmal gewesen war, jetzt mit der Hand verzweifelt abgewinkt und wie damals gesagt: »Ein Idiot!«

Von größter Not getrieben – seine Frau musste sogar ihren letzten warmen Rock versetzen – schrieb Dostoevskij Ende 1869, Anfang 1870 für die slawophile Zeitschrift Sarja (Die Morgenröte) die spannende Erzählung Der ewige Gatte. Hier beschreibt er ein Dreiecksverhältnis, das in ein Eifersuchtsdrama ausartet. Die Erzählung ist wieder eine Lohnarbeit, gehört aber zu den kompositorisch ausgefeiltesten Arbeiten Dostoevskijs. Im gleichen Jahr beginnt er auch mit den Entwürfen für seinen nächsten großen Roman: Die Dämonen.

Im April 1871 jedoch wird seine Arbeit wieder einmal unterbrochen. Nachdem er ein Jahr lang keinen Roulettetisch gesehen hatte, packte ihn die Leidenschaft erneut. Mit 120 Talern in der Tasche und dem Einverständnis seiner Frau fuhr er nach Wiesbaden. Natürlich verspielte er alles, seine Frau schickte zwei Mal neues Geld. Am 28. April schrieb er ihr:

Mir ist Großes geschehen, der niederträchtige Wahn, der mich fast zehn Jahre quälte, ist verschwunden … Jetzt ist alles vorüber und zu Ende. Dies war tatsächlich das letzte Mal. Glaubst Du mir, Anna, dass meine Hände jetzt frei sind? Das Spielen war eine Kette für mich, aber jetzt werde ich an meine Arbeit denken und nicht mehr wie bisher endlose Nächte vom Spielen träumen.

Anna Grigorjevna glaubte es natürlich nicht – wie sollte sie auch nach all seinen Schwüren –, aber es war tatsächlich das letzte Mal. Er saß nie mehr an einem Roulettetisch.

Im Juli 1871 kehrten sie nach St. Petersburg zurück.

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