Fëdor Michajlovič Dostoevskij Teil 2 – Vom Saulus zum Paulus

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Am 24. Dezember 1849 trat Fëdor Michajlovič Dostoevskij mit Ketten an den Beinen auf einem offenen Pferdeschlitten seine „Reise“ in die vierjährige Verbannung nach Sibirien an, in ein Zuchthaus und Straflager bei Omsk (Südwestsibirien). Sehr bedeutsam für sein Leben sollte auf dieser „Reise“ ein Treffen mit Natalja Fonvisina werden, eine der Dekabristenfrauen, die ihren Männern 1825 in die sibirische Verbannung gefolgt waren.

Sie lebte in Tobolsk (etwa 600 km vor Omsk), besuchte mit anderen Dekabristenfrauen den Gefangenentransport und schenkte dem revolutionären Sozialisten Dostoevskij bei dieser Gelegenheit das Neue Testament. Während der vier Jahre Straflager war dies das einzige Buch, das er lesen durfte; er sollte es für den Rest seines Lebens immer bei sich tragen und es sich noch auf dem Sterbebett geben lassen.

Über die vier Jahre Katorga (so nannte man eine besonders schwere Zuchthausstrafe mit Zwangsarbeit) mit fünf Kilogramm Ketten an den Beinen schrieb Dostoevskij nach seiner Entlassung aus dem Straflager 1854 an seinen Bruder:

Als Gefängnis dient ein altes, baufälliges Holzhaus, das längst als unbewohnbar hätte abgebrochen sein sollen. Im Sommer ist es unerträglich heiß, im Winter unerträglich kalt. Alle Bohlen sind morsch, auf dem Boden liegt der Schmutz zolldick. Die Decke ist undicht und tropft, überall ist Durchzug. Wir sind wie Heringe in einem Fass verpackt … Im Vorraum ist ein hölzerner Trog (für die Notdurft) aufgestellt, und der Gestank ist unerträglich. Alle Gefangenen stinken wie Schweine … Wir schliefen auf rohen Brettern; einem jeden war nur ein Kopfkissen erlaubt. Wir bedeckten uns mit kurzen Halbpelzen und die Füße blieben die ganze Nacht bloß; wir froren die ganze Nacht. Flöhe, Läuse und anderes Ungeziefer gab es Scheffel voll.

Als weitaus schlimmer als diese äußeren Lebensumstände aber empfand er, dass er in der ganzen Zeit nicht einen Augenblick für sich allein sein konnte und mit Kriminellen übelster Art zusammenleben musste:

Sie sind brutale, zornige, verbitterte Menschen. Ihr Hass auf den Adel ist grenzenlos; sie betrachten uns alle, die wir dazugehören, mit feindseliger Abweisung. Sie würden uns auffressen, wenn sie könnten. Urteile nun selbst, in welcher Gefahr wir schwebten, während wir unser Leben mit diesen Menschen gemeinsam verbringen mussten, mit ihnen essen, neben ihnen schlafen, und ohne irgendeine Möglichkeit, uns über das Unrecht zu beschweren, das uns ständig angetan wurde … Einhundertundfünfzig Widersacher, die niemals müde wurden, uns zu verfolgen – das war ihr Spaß, ihre Ablenkung, ihr Zeitvertreib … Unser einziger Schild war unsere Indifferenz und unsere moralische Überlegenheit, die sie gezwungen waren anzuerkennen und zu respektieren.

Sechs Jahre nachdem Dostoevskij dieser Hölle entronnen war, begann er, diese Zeit in seinen berühmt gewordenen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus zu verarbeiten. Sie erschienen 1861 und die Leser waren geschockt; selbst Zar Alexander II. sollen beim Lesen die Tränen gekommen sein. Zum ersten Mal wurden hier die Zustände in einem sibirischen Zuchthaus geschildert. Dostoevskij lässt einen nicht-politischen Gefangenen der Intelligenzija sachlich und emotionslos berichten, was die Wirkung der Schilderungen ungeheuer verstärkt; entstanden ist ein ethisch begründeter Tatsachenbericht mit grundsätzlichen humanistischen Überlegungen (vor allem zum Thema »Verbrechen und Strafe«), der durch die Justizreform von Alexander II. einen aktuellen und heiß diskutierten Bezug bekam.

Ein Beispiel für die packenden Bilder, mit denen Dostoevskij seine Leser aufschreckte, ist die Badehausszene:

Als wir die Tür zur Badestube öffneten, hatte ich das Gefühl, wir kämen in die Hölle. Man stelle sich einen Raum von zwölf Schritt Länge und der gleichen Breite vor, in dem an die hundert Menschen zusammengepfercht sind, mindestens aber achtzig, denn wir Sträflinge waren in nur zwei Gruppen eingeteilt, und zum Baden gekommen waren wir mit rund zweihundert Mann. Dazu Dampf, der einem jede Sicht nimmt, Ruß, Schmutz und eine derartige Enge, dass man nicht weiß, wohin man treten soll. Ich erschrak und wollte schon umkehren, doch Petrow ermutigte mich sogleich. Mit Müh und Not und unter den größten Schwierigkeiten drängten wir uns zu den Bänken durch, über die Köpfe der am Boden Sitzenden hinweg, nachdem wir sie gebeten hatten, sich zu bücken, damit wir durch könnten. Aber auf den Bänken waren alle Plätze besetzt. Petrow erklärte mir, man müsse einen Platz kaufen, und verhandelte denn auch gleich mit einem Sträfling, der bei dem kleinen Fenster saß. Für eine Kopeke trat der mir seinen Platz ab, erhielt auf der Stelle von Petrow das Geld, das dieser vorsorglich in der geschlossenen Faust mit in die Badestube gebracht hatte, und schlüpfte sofort unter die Bank, direkt unter meinen Platz, wo es dunkel und schmutzig war und eine klebrig-feuchte Masse fast einen halben Finger dick den Boden bedeckte. Dennoch waren auch unter den Bänken alle Plätze besetzt; auch dort wimmelte es von Menschen. Auf dem ganzen Fußboden gab es nicht eine Handbreit, wo nicht Sträflinge gekauert und sich aus ihren Schöpfkübeln bespritzt hätten. Andere standen aufrecht zwischen ihnen und wuschen sich, den Schöpfkübel in der Hand haltend; das schmutzige Wasser floss von ihnen geradewegs auf die rasierten Köpfe der unten Sitzenden herab. Auf der Schwitzbank und auf allen Stufen, die zu ihr hinaufführten, saßen, gekrümmt und gebückt, sich Waschende. Sie wuschen sich jedoch nicht sehr eifrig. Das einfache Volk wäscht sich selten mit heißem Wasser und Seife; es bringt sich nur tüchtig zum Schwitzen und übergießt sich dann mit kaltem Wasser – das ist alles. An die fünfzig Badequaste hoben und senkten sich gleichzeitig auf der Schwitzbank; jeder schlug sich fast bis zur Besinnungslosigkeit. Alle Augenblicke wurde neuer Dampf gemacht. Das war schon keine Hitze mehr, das war die Hölle. Alles brüllte und wieherte, und dazu das Geklirr von hundert Ketten, die auf der Erde schleiften. Manche, die sich durchdrängen wollten, verhedderten sich in fremden Ketten oder blieben an den Köpfen der unten Sitzenden hängen, strauchelten, fluchten und rissen die, an denen sie hängengeblieben waren, mit sich. Von allen Seiten ergoss sich Schmutz. Alles war in einem trunkenen, erregten Gemütszustand; Gekreische und Geschrei ertönten. Am Fenster zum Vorraum, durch das das Wasser hereingereicht wurde, herrschte arges Geschimpfe und Gedränge, geriet man sich regelrecht in die Haare. Das empfangene heiße Wasser schwappte den am Boden Sitzenden auf die Köpfe, bevor es an sein Ziel gelangte. Von Zeit zu Zeit blickte durch das Fenster oder die halb geöffnete Tür das schnauzbärtige Gesicht eines Soldaten herein, der, das Gewehr in der Hand, nachschaute, ob auch kein Unfug getrieben wurde. Die rasierten Köpfe und die rot geschwitzten Leiber der Sträflinge wirkten noch verunstalteter als sonst. Auf einem vom Dampf aufgeweichten Rücken treten die Narben einst empfangener Peitschen- und Stockhiebe gewöhnlich deutlich hervor, und so sahen all diese Rücken aus, als wären sie gerade erst wundgeschlagen worden. Welch entsetzliche Narben! Bei ihrem Anblick überlief es mich eiskalt. Ein neuer Aufguss – und der Dampf erfüllt als dichte, heiße Wolke die ganze Badestube; alles johlt und schreit. Allmählich tauchen aus der Dampfwolke die zerschundenen Rücken, die rasierten Köpfe, die gekrümmten Arme und Beine wieder auf; und als Krönung des Ganzen jauchzt Issai Fomitsch auf der obersten Stufe aus voller Kehle. Er peitscht sich bis zur Raserei, aber anscheinend ist es immer noch nicht heiß genug; für eine Kopeke mietet er sich einen Badeknecht, doch der hält es schließlich nicht mehr aus, wirft den Badequast hin und eilt, sich mit kaltem Wasser zu übergießen. ….

War er in der Katorga von Omsk noch als revolutionärer, aufgrund der in Europa missglückten Revolutionen von 1848 und 1849 allerdings schon zweifelnder Sozialist angekommen, der noch immer der Meinung war, dass, wenn sich nur die äußeren Umstände änderten – verbesserten! –, das Gute im Menschen von allein die Oberhand gewinnen würde, so musste er jetzt, zusammengepfercht mit Verbrechern, erkennen, dass das Böse immer die Vorherrschaft würde innehaben, wenn dem Menschen nicht klare Grenzen gezogen würden. Und das dürften keine von außen, durch Gesetze gezogenen Grenzen sein – an den ihn umgebenden Verbrecher zeigte sich ja, dass diese Gesetze wirkungslos waren. Es müssten vielmehr Grenzen sein, die von innen kämen, moralische Gesetze, die der Mensch als wahr erkannt habe – also solche, die letztlich nur gottgegeben sein könnten. Ohne die Erkenntnis Gottes und seiner moralischen Gesetze lebten die Menschen wie Tiere, befand Dostoevskij, denn wenn sie das Wahre und Gute nicht sehen könnten, könnten sie auch ihre eigene Bösartigkeit nicht sehen und sich folglich nicht bessern.

Leicht fiel dem ehemaligen Anhänger der Atheisten Belinskij und Nekrasov die Wendung zur Gottsuche nicht; er fand jedoch in Christus das leuchtende Vorbild, das ihm bis ans Ende seines Lebens bleiben sollte. An Natalja Fonvisina, die ihm auf dem Weg in die Katorga das Neue Testament gegeben hatte, schrieb er 1854:

Man findet den Glauben eigentlich nur deshalb, weil die Wahrheit im Unglück erstrahlt. Ich will gestehen, dass ich ein Kind unseres Jahrhunderts bin, ein Kind des Zweifels und des Unglaubens, – bis jetzt und sogar (ich weiß es) bis zum Grabe. Welch furchtbare Qualen hat mich dieser Durst nach dem Glauben gekostet – und das bis auf den heutigen Tag –, der immer heftiger in meiner Seele wird, je mehr Gegenbeweise ich in mir aufhäufe. Gott schickt mir jedoch zuweilen Augenblicke, in denen ich vollkommen ruhig bin; in diesen Augenblicken liebe ich und fühle, dass ich wiedergeliebt werde, und in solchen Augenblicken bildete ich mir ein Glaubenssymbol, in dem für mich alles klar und heilig ist. Dieses Symbol ist sehr einfach, hier ist es: zu glauben, dass es nichts gibt, was schöner, tiefer, sympathischer, weiser, mutiger und vollkommener als Christus ist; dass es dies nicht nur nicht gibt, beteuere ich mir selbst mit eifernder Liebe, sondern auch nicht geben kann. Nicht genug – wollte mir jemand beweisen, dass Christus außerhalb der Wahrheit sei, so würde ich vorziehen, in Christo, statt in der Wahrheit zu bleiben.

Ohne dieses schlichte Glaubensbekenntnis sind alle Werke, die Dostoevskij nach seiner Katorga geschrieben hat, nicht zu verstehen. Nun darf aber nicht der Eindruck entstehen, er wäre ein „geläuterter“ Mensch geworden, der in religiösen Sphären ein abgehobenes Leben geführt hätte; nein, nichts Menschliches war ihm fremd, ja, man muss sogar sagen: nichts Allzumenschliches, wie sein weiterer Lebensweg zeigt.

Nach seiner Entlassung aus der Katorga 1854 wurde Dostoevskij als einfacher Soldat in ein Linien-Bataillon (Grenz-Bataillon) nach Semipalatinsk (heute Semei, Ostkasachstan) gesteckt, wo er im Herbst des Jahres den jungen Staatsanwalt Baron Wrangel traf. Schnell verband die beiden eine tiefe Freundschaft und Baron Wrangel konnte ihm durch seine Beziehungen „zu allerhöchster Stelle“ Strafmilderung verschaffen, so dass er in einer eigenen Blockhütte wohnen durfte und auch dienstlich schonender behandelt wurde. Endlich war er allein. Und sofort begann er wieder zu schreiben – allerdings „mit schrecklicher Angst vor der Zensur“, wie er später berichtete, denn als ehemaliger Sträfling wurde er natürlich strengstens überwacht. So nimmt es nicht Wunder, dass die ersten beiden Erzählungen nach Omsk, Onkelchens Traum und Das Dorf Stepantschikowo (beide 1859 veröffentlicht), vollkommen unpolitisch sind; es sind seine heitersten, fast komödienhaften Werke, die allerdings wenig Anklang bei den Lesern fanden – eigentlich zu Unrecht, wie ich finde.

In Onkelchens Traum versucht die „Erste Dame“ eines Provinzstädtchens, ein geldgieriger Drachen, einen total senilen, gerade durch eine Erbschaft zu viel Geld und Besitz gekommenen Grafen mit ihrer jungen Tochter zu verheiraten. Beinahe gelingt das, denn nachdem sie den Alten betrunken gemacht hat, macht er tatsächlich einen Antrag. Sie hat aber die Rechnung ohne den Neffen des Alten gemacht. Der überzeugt seinen Onkel, dass er den Antrag in Wirklichkeit nur geträumt habe und daher durchaus nicht heiraten muss.

In Das Dorf Stepantschikowo dreht sich alles um einen im Leben gescheiterten Schmarotzer. Dieser tyrannisiert seinen schon krankhaft, ja bis zur Verblödung gutmütigen Gutsherrn und die ganze auf dem Gut anhängige verwandte Weiberschar, bis dem Gutsherren endlich der Kragen platzt und er ihn rausschmeißt. Clever wie er ist kommt der Schmarotzer aber durch das Hintertürchen wieder herein und spielt nun den großen, weisen Heiligen.
Die Charaktere in dieser Erzählung sind hinreißend gezeichnet, man spürt schon den großen Dostoevskij mit seinen weltberühmten Romanen. Dazu ist die Handlung ist so voll von praller Komik, dass sie vor dem Ersten Weltkrieg sogar vom Moskauer Künstlertheater als Bühnenstück aufgeführt wurde.

Schon im Mai 1854 hatte sich der emotional ausgehungerte Dostoevskij „unsterblich“ in die mit einem niederen Beamten glücklos verheiratete Marja Dmitrijewna verliebt. Trotz der mahnenden Worte seines Freundes Baron Wrangel heiratete er sie, nachdem ihr Mann sich totgesoffen hatte und er selbst (durch Wrangels Protektion) 1856 zum Offizier befördert worden war. Die Ehe war von Anfang an ein Fiasko. Seine Zukünftige hatte schon vor der Trauung ein Verhältnis mit einem anderen, verbrachte sogar noch die Nacht vor der Hochzeit mit ihm und ließ auch danach nicht von ihm ab. Es sollte eine quälende Ehe bleiben; Marja Dmitrijewna starb 1864 nach langer Krankheit an Schwindsucht und Fëdor Michajlovič, der zwischenzeitlich eine andere – Polina Suslova – unglücklich liebte, trauerte sehr bei ihrem Tod und machte sich Vorwürfe.

Zwischendurch aber war es 1859 endlich soweit gewesen: Wieder einmal auf Baron Wrangels Betreiben wurde er aus dem Militärdienst entlassen und konnte nach einer kurzen Periode in Twer – das er ebenso verabscheute wie Semipalatinsk – mit „allerhöchster“ Erlaubnis von Alexander II. nach Petersburg zurückkehren.

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