Fakt oder Fake: Erschoss Nationalgarde in Mariupol unschuldige Teenager? [mit Videos]

Ein Video rast wie ein Lauffeuer durch das osteuropäische Internet.

Es zeigt nach der Beschriftung eine Szene, bei der zwei [Zitat] „unschuldige Teenager“ von der ukrainischen Nationalgarde angeschossen, einer davon erschossen worden sein soll. Als Ort des Geschehens wird die Stadt Mariupol im Donbass genannt, die aktuell von Regierungstruppen beherrscht wird. Hier zunächst der Originalfilm, der seit vorgestern bei YouTube online ist und zu den meistgeschauten Osteuropas zählt:

Laut dem Video-Beschrifter handelt es sich um einen 19- und eine 17jährigen, wobei der 19jährige der Schussverletzung erlegen sein soll. Beide seien laut dem Fimer“unschuldige Radfahrer“ gewesen. Viel mehr steht unter dem Film selbst nicht. Das Video wurde seitdem auf zahlreichen auch ostukrainischen Antimaidan-Seiten gepostet und das Geschehen gleich von vielen Euromaidanern im Netz dementiert. Was ist dran an der Erschießungsgeschichte zweier „unschuldiger Teenies“?

Ostukrainische Presseberichte

Die Charkower Onlinezeitung „Nahnews“ gibt an, ein Bewohner eines östlichen Stadtteils von Mariupol habe ausgesagt, er habe die Szene aus dem Fenster seiner Wohnung gefilmt. Die örtliche Polizei, namentlich eine Frau Viktoria Guz (Quelle für den Namen: Russischer Sender LiveNews, da bei Nahnews nicht namentlich genannt), habe die Verwundung eines Teenagers namens Ilja Luzenko bestätigt. Es habe sich gemäß Nahnews laut den Behörden um einen Saboteur der Rebellen gehandelt. Als mutmaßlicher Täter wird in Nahnews wie in allen russischen Berichten zum Vorfall das Batallion „Asow“ genannt, in dem es zahlreiche rechtsextreme Ukrainer gibt. Der zweite Teenager sei nach dem Vorfall gemäß den Meldungen ins örtliche Krankenhaus Nummer fünf eingeliefert worden.

Die regierungsnahe Mariupoler Onlinezeitung 0629.ua berichtet ebenfalls über das Geschehen im Rahmen eines Berichtes. Hier sind die beiden junge Männer 15 und 20 Jahre alt gewesen und das Geschehen habe sich in Folge eines Mörserangriffs ereignet, nach dem Regierungssoldaten nach einem verdächtigen Auto von Typ „Gasel“ gesucht hatten, einem in Osteuropa sehr verbreitete Lieferwagen. Durch den Beschuss der Rebellen seien mehrere Privathäuser vor Ort zerstört worden. Auch Nahnews berichtet, dass viele Anhänger des Euromaidan die Meldung über den Angriff auf die Teenager als Erfindung abtun und dass im ukrainischen Internet ein regelrechter Online-Krieg um den Vorfall ausgebrochen ist. Die russischen Staatsmedien haben den Bericht natürlich ebenfalls dankbar aufgenommen.

Fakt oder Fake?

Fakt ist, dass in Mariupol hohe Nervosität herrscht und wegen mutmaßlicher Saboteure der Rebellen eine von örtlichen Medien bestätigte Ausgangssperre für die Nacht besteht.  Somit kann es durchaus zu Schüssen auf mutmaßliche Saboteure gekommen sein, die ja auch die örtliche Euromaidan-Presse nicht  bestreitet. Verletzungen der Waffenruhe sind in den letzten Tagen auf beiden Seiten nach allen zur Verfügung stehenden Informationen gang und gäbe – jede Seite petzt ja bei jedem solchen Vorfall durch die andere und gibt dabei an, selbst nur „zurückgeschossen“ zu haben. Auch die in vielen Meldungen zitierte Viktoria Guz gibt es vor Ort wirklich und sie ist laut der ebenfalls regierungsnahen Onlinezeitung Mariupol News wirklich eine Pressesprecherin der örtlichen Polizei. So findet sich von ihr am 22. Januar ein Artikel, in dem sie vor Betrügern an Geldautomaten warnt. Das Batallion Asow ist in Mariupol stationiert und kontrolliert auch die aktuelle Ausgangssperre. Auch die Machart des Videos passt zu seiner Entstehungsgeschichte als zufällige Beobachtung vom Fenster. Der Channel, von dem das Video stammt, ist privat, existiert seit 2012 und enthält auch andere Videos, die zweifelsfrei aus Mariupol sind und offenbar von einem in Mariupol wohnenden Sympathisanten des Antimaidan gefilmt wurden, wie dieses hier vom Referendum im Mai:

Somit gehen wir bezüglich der Tötungsgeschichte an sich nicht von einem Fake aus. Ein Fake könnte es aber sein, dass es sich bei den beiden um „unschuldige Teenager“ hanndelte, denn egal ob sie nun 17 und 19 waren oder 15 und 20 – junge Männer in diesem Alter kämpfen real im dortigen Bürgerkrieg. Es handelte sich hier nicht um zwei 13jährige. Rebellen im „Feindesland“ sind weiter in der Tat nicht unbedingt nur in Panzern, sondern durchaus in Privatautos oder eben auf Fahrrädern unterwegs. Ein unbeteiligter Augenzeuge mit Handykamera kann aus der Entfernung, in der der Filmer stand, nicht beurteilen, ob hier harmlose Radfahrer oder Kundschafter getötet werden. Ist er jedoch Anhänger der Rebellen, wie die momentan zwangsweise schweigende Mehrheit in Mariupol, wird er die Geschichte von unschuldigen Teenies sofort glauben. Auf der anderen Seite kann es aber durchaus sein, dass Nationalgardisten nach einem Mörserangriff mit nervösem Finger am Abzug zwei für sie verdächtig aussehende, aber unschuldige junge Männer erschossen haben. Immerhin – und das sollte man sich immer vor Augen halten – am Abzug sind waschechte Neonazis, was ja selbst von einigen deutschen Mainstream-Medien nicht mehr bestritten wird, gerade beim berüchtigten Batallion Asow. Vielleicht gibt es hier eine Aufklärung, wenn besagter Ilja Luzenko, der Überlebende der beiden, zu sich kommt.

Also unser Fazit: Erschießung Fakt – Teenager: Fakt – Unschuld: Keine Ahnung

Fazit: Was auch immer die beiden jungen Männer dort wollten, bei einem funktionierenden Waffenstillstand könnten sie noch leben.  Es wird höchste Zeit, dass es einen solchen gibt.

Roland Bathon, russland.RU

 

 

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