Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt in Russland

Warum ist die Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt in Russland eine schlechte Idee?

In Russland und international wird heftig darüber diskutiert, welche Folgen eine Abschwächung der Bestrafung für häusliche Gewalt haben könnte. Der folgende Artikel des Onlineportals „Meduza“ zeigt auf, um was es konkret geht und wie sich die Novellierung auf die russische Gesellschaft auswirken könnte.

Was ist passiert?

Die Staatsduma hat in zweiter Lesung eine Gesetzesänderung zur Entkriminalisierung von Prügel in der Familie angenommen. Danach soll dies nur noch dann strafrechtliche Konsequenzen haben, wenn der Täter zuvor bereits nach dem entsprechenden Zivilstrafparagraf verurteilt wurde.

Was heißt „Prügel“?

Prügel sind Gewalt, die der Gesundheit keinen wesentlichen Schaden zufügt. Wenn der Betroffene eine „kurzfristige Gesundheitsstörung oder einen unbedeutenden dauernden Verlust der allgemeinen Arbeitsfähigkeit“ erlitten hat – dann ist das bereits Zufügung von leichtem Schaden für die Gesundheit und damit ein ernsthafter Paragraf im Strafgesetzbuch. In einem Befehl des Gesundheitsministeriums heißt es: „Wenn jemand Abschürfungen, Hämatome, oberflächliche Wunden, Hautblutergüsse und/oder Gewebsprellungen erlitten hat, sollte das nicht als Gesundheitsschädigung eingestuft werden.“

Familiewer ist das?

Hier können wir einfach ein Zitat aus dem gültigen Strafrecht bringen: Unter „Familie“ versteht der bestehende Paragraf enge Verwandte (Gatte, Gattin, Eltern, Kinder, Adoptiveltern, adoptierte Kinder, leibliche Brüder und Schwestern, Großväter, Großmütter, Enkel), Vormunde, Pfleger sowie Personen, die mit der Person verwandt sind, die eine vom bestehenden Paragrafen vorgesehene Handlung begangen hat, oder Personen, die mit der betreffenden Person einen gemeinsamen Haushalt führen.

Wie werden Prügel in der Familie jetzt bestraft?

Ein zivilrechtlich Verurteilter kann mit einer Geldstrafe von 5000 bis 30.000 Rubel oder einer Haft von zehn bis 15 Tagen belegt werden. Eine weitere Variante — gesellschaftlich nützliche Arbeit zwischen 60 und 120 Stunden. Wer abermals der Prügel verdächtigt wird, hat eine härtere Strafe zu erwarten, und zwar strafrechtlich: bis hin zu maximal drei Monaten Ordnungshaft.

Warum sollen Prügel in der Familie plötzlich nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden?

Das ist eine komplizierte Sache. Prügel werden nicht zum ersten Mal aus dem Strafgesetzbuch entfernt. 2016 wurde dieser Paragraf – im Rahmen der Liberalisierung des Strafrechts – bereits geändert. Vor der Korrektur bestand der Paragraf „Prügel“ aus zwei Teilen: allgemeine Fälle und motivierte, die da waren: Rowdytum, religiöser Hass, Feindseligkeit usw. Die Abgeordneten ließen nur den zweiten Teil stehen, fügten aber eine Formulierung über Prügel in der Familie hinzu. Die maximale Strafe nach diesem Paragrafen (er gilt auch heute) sind zwei Jahre Freiheitsentzug. Wladimir Dawydow, der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtshofes, erklärte, die Entkriminalisierung würde die Gerichte entlasten, den Ermittlern erlauben, sich auf gefährlichere Verbrechen zu konzentrieren, und die Verurteilten vor den unangemessen schweren Folgen der Strafsache bewahren.

Diese Korrekturen riefen bei manchen Elternorganisationen, der Russisch-orthodoxen Kirche und vielen Prominenten wie etwa der Senatorin Jelena Misulina, helle Empörung hervor. So hieß es bei der Orthodoxen Kirche, der Staat hätte ein Gesetz angenommen, das Eltern zur strafrechtlichen Verantwortung ziehen könne, die ihrem Kind einen Klapps geben, während Fremden für solche Handlungen keine harte Strafe drohe. Hier sei angemerkt, dass die körperliche Bestrafung von Kindern nach Ansicht der Patriarchen-Kommission für Familienfragen nicht der Heiligen Schrift widerspricht. Also sind die neuen Korrekturen allem Anschein nach eine unmittelbare Reaktion auf die Kritik. In einer Erläuterungsnotiz zu der abgesegneten Novelle heißt es, sie sei „ausgerichtet auf die Beseitigung von mehrdeutigen Auslegungen der Vorgaben“, die nach der Annahme der jüngsten Änderungen im Paragrafen über Prügel entstanden seien.

Wenn man von tieferen Beweggründen spricht, steht dahinter möglicherweise die Haltung des Staates und der russischen Gesellschaft gegenüber dem Problem von Gewalt in der Familie selbst. Summiert man grob die Aussagen mancher Anhänger der Entkriminalisierung von Prügel, kommt ungefähr diese Position dabei heraus: Die Familie ist etwas Heiliges, der Staat kann sich da nicht einmischen; Klapse sind nichts Schlimmes; das sind unsere Familienwerte, sonst geht es so wie im Westen, wo Eltern wegen der Kindererziehung ins Gefängnis kommen können.

Wie sieht die Lage in Russland mit Gewalt in der Familie aus?

Sehr schlecht. 2013 waren laut der offiziellen Statistik des Innenministeriums 38.235 Personen von Gewalt seitens Familienangehöriger betroffen, davon waren fast drei Viertel Frauen. Bürgerrechtler der „Rechtsinitiative“ und anderer NGOs erklären, dass die wirkliche Zahl viel größer sei, die Statistik würde einen bedeutenden Teil der Verbrechen in der Familie nicht erfassen. Das geschieht aus vielerlei Gründen: Die Opfer haben Angst zu klagen, sehen keinen Sinn darin oder sind der Meinung, Schläge vom Ehemann seien unangenehm, aber „normal“.

Es sei außerdem daran erinnert, dass die offizielle Statistik viele Fälle nicht berücksichtigt, bei denen bei festgestellter Gewalt in der Familie kein Strafverfahren eröffnet wird. Die Ausmaße des Problems sind besser aus Untersuchungen ersichtlich, etwa der Studie „Gewalt in russischen Familien am Beispiel des Föderationskreises Nordwest“ von 2015.

Mehr als die Hälfte der Befragten gab zu, es mit häuslicher Gewalt zu tun gehabt zu haben, etwa ein Drittel aller Fälle machte körperliche Gewalt aus. Meistens waren die Opfer Frauen, gefolgt von Kindern und alten Menschen; in den seltensten Fällen (zwei Prozent) waren Männer die Opfer. Nach Angaben von Amnesty International von 2003 sterben in Russland jedes Jahr circa 14.000 Frauen durch die Hand ihrer Männer. 36.000 Frauen erleiden jeden Tag Schläge.

Entkriminalisierung verschlimmert die Lage?

Eine Prognose ist schwierig, aber Experten und Dienste, die mit Opfern häuslicher Gewalt arbeiten, sind überzeugt, dass Entkriminalisierung eine schlechte Entscheidung ist. Sie erklären, dass die strafrechtliche Verantwortung wenigstens als eine Art Präventivmaßnahme für einen Teil der Leute dient, die zu Aggression neigen. Dabei deuteten Experten wiederholt darauf hin, dass auch die frühere Strafgesetzesnorm schlecht funktionierte. Seit vielen Jahren wird diskutiert, dass ein Sondergesetz zur Vorbeugung von häuslicher Gewalt vonnöten sei und ein ganzheitliches System bei der Arbeit auf diesem Gebiet erstellt werden müsse. Aber alle diese Initiativen werden auf Staatsebene nicht sonderlich unterstützt.

Aber wenn Eltern wegen einem Klaps sitzen müssen – das ist doch auch schlecht, oder?

Körperliche Gewalt gegen Kinder zu rechtfertigen, ist zumindest seltsam, aber die Angst vor Übertreibungen ist verständlich. Das Strafvollzugssystem in Russland ist derart gestrickt, dass viele Kritiker nur allzu bereit sind zu glauben, dass Eltern für das kleinste Vergehen mit der höchstmöglichen Strafe hinter Gitter wandern. Wobei die Kritiker dieses Systems keinerlei Vertrauen zu dem Richter haben, der die Situation adäquat einschätzen und eine gerechte Entscheidung treffen könnte.

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