Eine politische Weltreise mit Helmut Schmidt [Video-Classic]

Am 26.9.2007 hielt der Altbundeskanzler Helmut Schmidt seinen letzten großen Vortrag in Moskau.

Gute zwei Stunden sprach Helmut Schmidt über „Die gegenwärtige Lage der Welt. Eine globale Tour d‘Horizon”. Er spannte den Bogen von seinem ersten Besuch in Moskau vor 40 Jahren bis zu den hochaktuellen Themen, die heute die Welt bewegen. Schmidt bedankte sich für die Einladung zu diesem Vortrag, die ihm gleichzeitig ein Wiedersehen mit Moskau, welches ihn nach wie vor fasziniert, bescherte. Als er vor 40 Jahren erstmals nach Moskau kam, war er rein privat in der Stadt. Später kehrte er oft als Politiker nach Moskau zurück und war seinerseits Gastgeber für den sowjetischen Staatschef Breschnew. Als Michail Gorbatschow an die Macht kam, war er bereits wieder Privatmann.

Das Interesse am vitalen russischen Volk und die Faszination für die russische Literatur und die Musik haben die Zeiten überdauert, ebenso wie die Faszination, die Moskau noch immer für ihn hat.

Helmut Schmidt wollte aber keineswegs in der Vergangenheit schwelgen, sondern Gegenwart und Zukunft unter die Lupe nehmen.

Zur viel gescholtenen Globalisierung meinte er, dass es ja eigentlich nichts Neues sei, nur ein neuer Begriff verwendet würde. Welthandel hatte es schon bei Marco Polo und Vasco da Gama gegeben, jetzt passiert alles nur mit viel größerer Geschwindigkeit. Es kommen Staaten ins Spiel, die bis vor kurzem abgeschottet waren, wie z.B. Russland und China. „Wir leben in einem globalen Dorf“, sagte Helmut Schmidt. Wissenschaftliche Erkenntnisse, egal, in welchem Land der Erde sie gewonnen werden, sind allen per Internet zugänglich.

Protest gegen die Globalisierung hält er für sinnlos. Mit nationalen Mitteln ist Konjunktur nicht mehr steuerbar. Globalisierung birgt große Verantwortung für die traditionellen Spieler, wie z.B. die G7. Globalisierung ist nicht aufzuhalten, aber Brüche müssen unter allen Umständen vermieden werden. In nicht allzu ferner Zukunft kann das Bruttosozialprodukt von China, Indien und Russland zusammengenommen bald größer sein als das der G7.

Helmut Schmidt plädierte für die Einbeziehung eines größeren Kreises von Ländern, so wünschte er sich eines der größeren OPEC-Länder, ein großes Land aus Afrika, Mexiko und ein Land aus Indochina im renommierten Wirtschaftsclub zu sehen. Den Ausschluss moslemischer Staaten hält er für falsch und hochgradig gefährlich. Die Chance, den weltweiten wirtschaftlichen Aufschwung im ersten Halbjahr 2007 für neue Lösungen zu nutzen, wurde vertan. Dass die Entwicklung der Weltwirtschaft in den Händen von ein paar Zehntausend Finanzmanagern liegt, hält er für gefährlich, das kann zu einem weltweiten Finanzchaos führen. Der IWF hat seine internationale Aufgabe, die Stabilität der Wechselkurse zu gewährleisten, verloren und ist somit frei für neue Aufgaben, wie z.B. die Schaffung eines transnationalen Systems zur Kontrolle der Finanzmärkte.

Die explosionsartige Vergrößerung der Weltbevölkerung, die in den nächsten 40 Jahren auf 9 Milliarden anwachsen wird, nutzte Helmut Schmidt für einen Ausblick auf kommende Probleme, die die Weltgesellschaft zu bewältigen haben wird. Das waren keineswegs rosige Aussichten. Migration, lokale Kriege, Aufstände, Epidemien und Pandemien, um nur einige zu nennen. Nahrung und Arbeit für alle zu schaffen wird eine ungeheuer schwere Aufgabe sein. Dabei sollte der Mensch auch auf den durchdachteren Umgang mit der Natur achten, ohne natürlich dabei in Hysterie zu verfallen, denn Klimabrüche gibt es, solange unsere Erde existiert.

Rund 50 Staaten der Weltgemeinschaft sind islamisch geprägt – ein weiteres Problem für die westliche Welt, das leider noch zum Teil mit Herablassung behandelt wird. Religiöse Toleranz wird im 21. Jahrhundert wichtiger als im 19. und 20. Jh.

Kriege, die unter dem Deckmantel humanitärer Interessen geführt werden, dienen eher politischen Zielen. Ein Truppenabzug aus diesen Ländern wird erschwert durch die Tatsache, dass dann ein absolutes Chaos hinterlassen würde, welches unweigerlich zu neuen kriegerischen Auseinandersetzungen führte. Als Beispiel nannte Schmidt den Irak, der dann in drei Teile zerfiele, und Afghanistan.

Schmidts Ausführungen über Afrika waren gegen das Vergessen und Ausgrenzen des schwarzen Kontinents gerichtet. Nach den beiden Weltkriegen zerfiel das Kolonialsystem. Die Kolonialherren hatten willkürliche Ländergrenzen gezogen, ohne Rücksicht auf Stämme und Völker zu nehmen. Das birgt heute natürlich Sprengstoff für ethnische Auseinandersetzungen. Schmidt rief die europäischen Staaten auf, die frühere Ausbeutung nicht durch gegenwärtiges Desinteresse zu ersetzen. Bei ihren Hilfsaktionen sollten sie behutsam vorgehen, denn sie lösen und schaffen gleichviel Probleme.

Lateinamerika charakterisierte er als einen Kontinent aus Entwicklungsländern, die keinerlei Gefahr für den Weltfrieden darstellen. Es existieren nur zwei Sprachen, alle können sich verstehen, Rassenunruhen und bewaffnete Konflikte untereinander gab es nicht.

Dem guten alten Mütterchen Europa widmete Helmut Schmidt besondere Aufmerksamkeit. Ob die abnehmende Bevölkerungsdichte u.a. auf schwindende Vitalität hinweise, wagte er noch nicht festzuschreiben. Am wichtigsten aber sei die Tatsache, dass Europa heute endlich in Frieden mit sich selbst lebt. Nach 1000 Jahren blutiger Kriege gibt es erstmals einen tragfähigen Frieden. Das neue vereinte Europa ist heute keine Weltmacht, es kann eventuell ungefähr 50 Jahre dauern, bis es eine werden kann. Es ist allerdings fraglich, ob Europa es überhaupt jemals schaffen wird. Man bedenke, 27 Außenminister, ständiger Wechsel des Vorsitzes innerhalb der EU, konstitutionelle Krise. Aber keiner braucht Europa mehr zu fürchten!

Bei den Weltmächten angekommen, führte Schmidt aus, dass die USA irrtümlicherweise annehmen, sie seien die einzige verbliebene Supermacht, sollten aber nicht außer acht lassen, dass nicht alle Probleme in der Welt militärisch zu lösen seien.

China könne unter Umständen im nächsten Jahr Deutschland vom Platz 1 des Weltexports verdrängen. Schmidt schlägt vor, den Status Chinas und künftig auch Indiens hinzunehmen.

Die Entwicklung Russlands beraubte Amerika eines „formidablen Feindes“. Nach Auffassung des Altbundeskanzlers unterscheidet sich die russische Nation von denen Amerikas und Europas. Tausend Jahre autarker Regierungen haben ihre Spuren hinterlassen. Er betonte, dass er sehr neugierig auf die weitere Entwicklung Russlands sei und persönlich eine Gas- und Ölmacht einer Militärmacht vorzöge. Russland und die USA tragen die Verantwortung für das „leise Dahinscheiden“ der Rüstungsbegrenzung. Der geplante Raketenschild stellt sich für Russland als Programm zur Sicherung amerikanischer Vorherrschaft dar. Schmidt riet den Amerikanern, sich zurückzunehmen.

russland.TV bringt das 2007 erstellte Video in Andenken an Helmut Schmidt, der schon damals viele Probleme, die die Politik heute beschäftigen, vorausgesehen hat. Ein Satz von ihm der heute erst richtig ins Bewusstsein tritt war, „Ich betrachte es als eine moralische Schande, das die alten Industrienationen und in besonderer Weise die Vereinigten Staaten von Nordamerika und die Europäische Union, das die immer noch den Entwicklungsländern den Export ihrer Agrarerzeugnisse versagen. Wenn die Menschen ihre Waren nicht exportieren können, dann werden sie sich selbst exportieren.“

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