„Durchhalten“: Moskau zu Coronazeiten© russland.NEWS

„Durchhalten“: Moskau zu Coronazeiten

„Dieser Schuft! Blödmann! Lügner!“, meine sonst so zurückhaltende Bekannte Marina (65) ist außer sich. Sie hat gerade erfahren, dass der Moskauer Bürgermeister die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel für Rentner vorübergehend abgeschafft hat. Sie wollte mit der Metro zu ihrem Sohn fahren, doch die Chipkarte, mit der man in Moskau seine Fahrten bezahlt, war blockiert. Das gleiche ist am neunten Oktober 22.000 Rentnern passiert, die entweder kein Radio hören oder mit dem Internet nicht vertraut sind.

Damit ältere Menschen ihre Gesundheit nicht gefährden, sollen sie eben bis zum 28. Oktober zu Hause bleiben, entschied Sergei Sobjanin. Doch Marina vermutet, dass diese Begünstigung, die noch der Vorgänger des heutigen Bürgermeisters einführte, auch nach der Pandemie ausbleibt. „Für viele Menschen mit ihren kleinen Renten würde das ein großes Loch in ihrem Budget bedeuten“, meint sie. Auch Schüler, die bis zum 18. Oktober in die Ferien geschickt worden sind, können vorübergehend ihre Schülertickets nicht benutzen.

Überall in der Stadt werden kostenlose Grippeschutzimpfungen angeboten. Insgesamt gibt es 450 solche Stellen in der russischen Hauptstadt, sowohl mobile als auch in den Polikliniken. Auf der Internetseite der Moskauer Regierung erfährt man, dass sich inzwischen fast zwei Millionen Moskauer impfen ließen. Doch viele meine Freunde raten mir davon ab. Das seien alles russische Produkte, denen sie nicht vertrauen. Man solle lieber eine französische Impfung nehmen. Die kostet umgerechnet 15 und wird selten angeboten. Nein, man solle eine bestimmte nehmen. Sie heißt XY, hohe Beamte nehmen nur sie. Angeblich… Eine Freundin hat mir versprochen, sich bei Ärzten zu erkundigen, was denn das Richtige wäre. Ich warte also ab.

Und wie sieht es mit der Impfung gegen Covid-19 aus? „Wir haben eine Verordnung von der Leitung unseres Sozialamtes, uns gegen Corona impfen zu lassen“, erzählt mir Sozialarbeiterin Ljudmila im Vertrauen. Solche Aktionen nennt man in Russland „freiwillig gezwungen“. Es gibt keine schriftlichen Anweisungen, aber man wird sehr intensiv darum gebeten. Ljudmila und ihre Kolleginnen haben sich geweigert. „Wir alle haben Arztbescheinigungen vorgelegt, dass wir aus medizinischen Gründen nicht dürfen“. Sie sei schon 62 und will ihre Gesundheit nicht gefährden. Sie werden sowieso regelmäßig auf Corona getestet. Letzte Zeit hat sie sehr viel zu tun. Ein Klient ihrer Kollegin war infiziert, also musste sie in die Quarantäne, dadurch gibt es mehr Arbeit für alle.

Inzwischen appelliert Sergei Sobjanin an Einwohner Moskaus „einige Monate durchzuhalten“, bevor die Massenproduktion eines Impfstoffs gegen Coronavirus beginnt. „Natürlich sind die Menschen bereits psychisch müde, sie sind es leid, Angst zu haben, sie sind es leid, den Anforderungen des Arztes zu folgen. All dies ist verständlich, aber wir müssen noch ein paar Monate durchhalten“, sagte er in einem TV-Interview.

Vielleicht täusche ich mich, aber Moskau scheint wirklich leerer zu sein als sonst. Alle Geschäfte haben zwar offen, aber drin sind mehr Bedienung als Kunden. Auch nicht schlecht, zumindest sind sie nicht entlassen worden. Noch nicht…

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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