Dramatisches Russland-Fiasko von „Normalsoldaten“

Das Jubiläumsjahr 2012 brachte eine ganze Flut von Büchern zum gescheiterten 1812er-Feldzug Napoleons zur Unterwerfung des russischen Zarenreiches. Eine Rezension eines solchen Buchs wollten wir noch nachschieben, da mahnende Kriegslektüre uns in das Jahr 2014 sehr gut zu passen scheint: „Die Verlorenen“ von Eckart Kleßmann schildert den Krieg nämlich nicht aus der Perspektive der Feldherren sondern von denen, die die strategischen Entscheidungen ihrer Generäle ausbaden müssen: Den normalen Soldaten.

Akribisch hat der Autor hierfür Erlebnisberichte vieler normaler Soldaten und niedrigerer Offiziere ausgewertet und zu einem spannenden Plot zusammen gefasst. Mehrheitlich stammen sie von den wenigen Überlebenden von Napoleons „Grande Armee“ – aber alleine die Tatsache, dass auch einfache Soldaten im Dienst der Russen zu Wort kommen, unterscheidet das Buch schon von den meisten anderen. Die Geschichte ist bekannt. Der französische Kaiser Napoleon, zu dieser Zeit Herr von Europa außer England und Russland schickt sich an, auch das Zarenreich zu unterwerfen und scheitert kläglich – sowohl an der Widerstandskraft der hinhaltenden Russen, als auch am russischen Klima. Was für ihn ein Scheitern ist, bedeutet für die Mehrheit seiner Soldaten den Tod.

Unvorstellbare Zustände herrschen nicht nur beim berüchtigten Rückzug der Armee durch den russischen Winter, die kaum ein Sachbuch so eindringlich lebendig werden lässt, wie „Die Verlorenen“. Krieg ist die Hölle und war das schon vor gut 200 Jahren – das muss die zentrale Botschaft eines Werks über diesen Feldzug sein, ist es aber viel zu selten. Denn viele andere Autoren geben Strategie und Weltpolitik breiten Raum und das Leiden der Soldaten wird zur Randnotiz – bei Kleßmann ist das umgekehrt und der Untertitel „Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug“ ist Programm. Etwas schade ist nur, dass nicht so viele Zeitzeugen von der russischen Seite zu Wort kommen, denn Deutsche standen in diesem Krieg im Sold beider Seiten und Deutsche sind die bevorzugte Quelle des Buchs. So erfährt der Leser zwar viel über Rivalitäten und Auseinandersetzungen zwischen den Völkern in Napoleons multinationaler Truppe – aber ein ähnlicher Blick in die Zarenarmee wäre durchaus sinnvoll gewesen.
Nichtsdestotrotz ist das Buch sehr lesenswert. Die Augenzeugenberichte werden weitgehend in moderner Sprache chronologisch nacherzählt und durch die nötige „Rahmenhandlung“ des Feldzugs miteinander zu einem flüssigen Plot verwoben. Interessant und später gerne verschwiegen wurde auch die anfängliche Begeisterung vieler deutscher Söldner für Napoleon und der Drang nach Ruhm und Ehre, der erst im Angesicht des Todes und realen Krieges aus den Köpfen weicht. So viel anders zu späteren Eroberungszügen oder heutigen Militärs ist die Einstellung da oft nicht. Im Anhang sind dann nochmals alle Augenzeugen verzeichnet, und – soweit bekannt – ihr späteres Schicksal, falls sie überlebten. Auch das ist ein Detail, das man sich in vielen anderen historischen Sachbüchern vergeblich wünscht. Die Bebilderung des Buchs ist eher dünn, besteht aber aus sehr authentischen Skizzen einiger der Augenzeugen, die das Erlebte selbst bildlich festgehalten haben.

Wer sich für die Napoleonische Ära interessiert, der sollte auf jeden Fall zu den „Verlorenen“ greifen und den direkten Blick auf diesen Feldzug ohne Historienschmonsens wagen. Das Buch ist eine wirkungsvolle Mahnung allen, die, aus welchem Grund auch immer, ein militärisches Vorgehen als legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sehen und damit für viele Normalbürger ein riesiges Inferno riskieren.

Daten zum Buch: Eckart Kleßmann – Die Verlorenen, Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug, Aufbau-Verlag Berlin 2012, ISBN 978-3351027551

Roland Bathon, russland.RU

 

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