Doping: Zugeben, dass es System hat?

Je länger Russland die Vorwürfe zurückweist, ein staatlich gelenktes Dopingsystem zu besitzen, desto realer wird die vollständige Isolation. Dazu ein Artikel aus der „Nowaja Gaseta“.

Es ist an der Zeit, die eingefahrene Wortverbindung „Dopingskandal“ zu vergessen. Ein Skandal ist etwas Einmaliges und Diskretes, die Meldungen über russisches Doping und den Kampf dagegen sind aber längst in ein chronisches Stadium eingetreten, das keine Unterbrechungen kennt. Die Ausmaße werden immer größer, die Tiefe immer erschreckender und die Lösung des Problems auf Ebene eines ganzen Landes als Beschuldigter immer unrealistischer.

So zu tun, als würde nichts geschehen, funktioniert nicht. Wie in dem einen Lied: Davor kannst du nicht weglaufen. Weder vor dem in den USA ausgestrahlten Dokumentarfilm „Icarus“ noch vor der Abendsitzung im italienischen Antholz, den neuen Enthüllungen von Hajo Seppelt in der ARD, den Erklärungen des „Komitees der 19“ oder dem „Brief der 170“…

Nach der Veröffentlichung des zweiten Teils des McLaren-Berichts Ende letzten Jahres war auch nichts anderes zu erwarten gewesen.

Der Erlöser Besseberg

Die letzte Weltcup-Etappe vor der Weltmeisterschaft in Antholz sollte nicht nur Klarheit darüber bringen, inwieweit die Athleten bereit sind für die kommende Herausforderung, sondern auch die Frage beantworten, ob die russischen Biathleten zum wichtigsten Start der Saison zugelassen werden. Der Weltverband bekundete die Absicht, sich innerhalb eines Monats Klarheit darüber zu verschaffen, was mit den 29 unter Verdacht stehenden Russen von der „McLaren-Liste“ zu tun sei.

Die Lage von Anders Besseberg, dem Präsidenten der Internationalen Biathlon-Union (IBU), war schlimmer als die eines Gouverneurs. Während die von ihm einberufene Arbeitsgruppe sich in das Thema einarbeitete, wandten sich Sportler, die zur Biathlon-Elite zählen, selbst mit einem Brief an den Verband, in dem sie sofortige verschärfte Maßnahmen im Kampf gegen das Doping forderten.

Am Vorabend der letzten Rennen wurde eine Sondersitzung einberufen, zu der die namhaftesten Unterzeichner des Appells eingeladen wurden. Der Weltcup-Führende Franzose Martin Fourcade, der Tscheche Michal Schlesinger und der US-Amerikaner Lowell Bailey verließen die hohe Versammlung, als klar wurde, dass es keine drakonischen Beschlüsse gegen Russland geben würde. Besseberg erklärte, die Untersuchungen zu 22 russischen Biathleten seien eingestellt worden – „bestraft werden nur die Sportler, bei denen es direkte Beweise gibt“ – , und die Organisation beabsichtige nicht, ihre Regeln zu ändern, auch nicht den edelsten Absichten zuliebe.

Die „Feinde“ waren schockiert, die unseren brachen in Jubel aus: McLarens unbeweisbaren Machenschaften wurde endlich eine Abfuhr erteilt, man brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen um die Teilnahme an den Winterspielen in Pyeongchang. Aber so einfach ist das nicht. Ja, der Norweger folgt den Buchstaben des Gesetzes, und die Arbeitsgruppe hat nichts anderes ans Tageslicht gebracht außer der Erwähnung des Großteils der Beschuldigten in ihrem Bericht. Doch gegen sieben Biathleten werden die Ermittlungen fortgesetzt. Und der außerplanmäßige IBU-Kongress, der von der Biathlon-Gemeinschaft gewünschte Veränderungen beschließen kann, soll schon am 9. Februar stattfinden.

Berücksichtigt man, dass Russland bereits die Abschlussetappe des laufenden Weltcups in Tjumen und die Junioren-WM in Ostrow im Gebiet Pskow verloren hat, so ist Euphorie auf jeden Fall fehl am Platze. Im Falle einer Verschärfung der Antidoping-Regeln wird niemand unsere Biathleten in Schutz nehmen, die eh schon fast den Ruf von Parias genießen. Unabhängig davon, ob sie „sauber“ sind oder „schmutzig“.

Da kann kein Besseberg helfen – einmal Kino, nochmal Kino

Der Dokumentarfilm „Icarus“ von Brian Fogel war schon im vergangenen Sommer angekündigt worden. Fogel wollte zuerst zum Schlag gegen das Problem Doping in der ganzen Welt ausholen, aber als er Grigori Rodtschenkow und damit die Geschichte des Ex-Chefs des Moskauer Antidoping-Labors kennenlernte, gab er seinem Vorhaben eine jähe Wende. Im Endeffekt spitzte er das Thema des Films auf die Abenteuer des Hauptbeteiligten als unfreiwilligem Autor und Opfer des „russischen Staatsdopingsystems“ zu.

Nach der Premiere gab es standing ovations. Kritiker bezeichneten den Streifen als „überwältigend“, als „Offenbarung“, als „lehrreich und absolut unerhört“. Von einem Berater „mit niederen ethischen Standards“ und „amoralischen Doktor“ verwandelt sich Rodtschenkow im Prozess der Entwicklung des Sujets in einen unversöhnlichen Kämpfer gegen das System, der sich auf wunderbare Weise vor den Verfolgungen retten konnte, sich aber immer noch in Gefahr befindet.

Die ersten russischen Reaktionen auf das Werk von Fogel, der laut Film nicht nur die Evolution der Ansichten Rodtschenkows, sondern auch dessen Flucht in die USA befördert hatte, waren nicht besonders originell: Nichts Neues. Aber es geht doch nicht darum, dass der „Verräter“ den bereits bekannten Fakten keine neuen hinzugefügt hat, sondern darum, dass „Icarus“ für ein breites Publikum gemacht wurde.

Und sogleich setzte die ARD ihre Enthüllungsserie fort, die der Fernsehjournalist Hajo Seppelt bereits vor gut zwei Jahren begonnen hatte. Das zehn Minuten lange Werk kann kaum als vollwertiger Film bezeichnet werden, aber es stellt der Welt einen neuen Wahrheitsbeflissenen vor – den 26-jährigen russischen Leichtathleten Andrej Dmitrijew.

Anders als das Ehepaar Stepanow, Seppelts frühere Helden, ist Dmitrijew in keine Doping-Geschichten verwickelt und hat nicht vor, sich an irgendwem zu rächen. Er war selbst auf den deutschen Journalisten zugegangen – aus dem Wunsch heraus, „die Wahrheit zu erzählen“. Die erzählte er nicht nur, er stellte auch einen Video-Clip vor, in dem der wegen Dopingsünden disqualifizierte berühmte Trainer Wladimir Kasarin in aller Ruhe weitertrainiert.

Alles andere, was Andrej der Welt offenbart – darunter die Behauptung, für 70 bis 80 Prozent der russischen Sportler sei die Einnahme von Dopingmitteln eine ganz normale Sache –, ist nicht mit Fakten untermauert. Dmitrijew sagt durchaus aufrichtig und einfältig seine Meinung, wie unangenehm die auch aussehen möge. Und in Russland können viele dem beistimmen, dass sich beim Kampf gegen Doping „außer formellen Umstellungen auf der höchsten Ebene“ nichts getan hat, und dass dieser Kampf „mehr wie Imitation und Spiegelfechterei aussieht“.

Brian Fogels Film kam einen Tag vor der Sitzung in Antholz heraus, Hajo Seppelts Doku am Vorabend des Besuchs von Vertretern des Internationalen Leichtathletik-Verbands in Moskau, die kontrollieren wollten, ob der Russische Leichtathletik-Verband die Forderungen zur Wiederherstellung der Mitgliedschaft erfüllt. Klar, dass die „Kinogeschichten“ der russischen Seite keinen zusätzlichen Optimismus verliehen haben.

Unterdessen haben bereits zwölf Leichtathleten beim Weltverband um Erlaubnis nachgesucht, unter neutraler Flagge anzutreten. Also nicht für das Land, sondern für sich selbst. Die Liste wird von Weltmeisterin Maria Kutschina angeführt, es folgen Weltmeister Sergej Schubenkow, Olympiasieger Iwan Uchow und andere bekannte Sportler. „Von oben“ kam keine Kritik, aber von vielen Landsleuten mussten sich die „Neutralen“ viel Geschimpfe gefallen lassen.

Auch schon lange nichts Neues mehr – die Spuren von Sotschi

Wie seltsam es auch ist, aber die aktuelle Wintersaison läuft für den russischen Sport mehr als gut. Eins ist schlecht – nicht nur die Biathleten ernten schiefe Blicke. Alle Wintersportler leiden unter den Spuren der Verdächtigungen nach Sotschi 2014. Alle internationalen Verbände verspüren Druck, jeder davon übt sich noch vor dem Abschluss der Untersuchung des Internationalen Olympischen Komitees und der Bekanntgabe seiner Beschlüsse in vorauseilendem Gehorsam.

Die Wolken verdichten sich nicht, hellen aber auch nicht auf. Was die Reaktion eines bedeutenden Teils der russischen Sportlergemeinschaft auf die jüngsten Ereignisse angeht, so kommt sie ziemlich standardmäßig daher. Besseberg wird für seine Eigenständigkeit gelobt. Andrej Dmitrijew bekommt erklärt, er sei „für die ein Informator, aber für uns ein Denunziant“. Grigori Rodtschenkow bekommt in Abwesenheit nicht nur von der Öffentlichkeit eine Abreibung: Unter anderem hat ein Moskauer Gericht sein Haus im Gebiet Moskau, wo seine Familie lebt, mit Arrest belegt.

Von der Höhe seines Vizepremier-Postens aus antwortet Vitali Mutko auf die Erklärung von angesehenen Antidoping-Organisationen aus 19 Ländern, die zur völligen Isolierung des russischen Sports aufrufen , sie sollten sich mit Urin befassen und sich nicht in die Politik einmischen. Die neue Doku von Hajo Seppelt hat Mutko nicht gesehen, und er hat auch nicht vor, dies zu tun. Dafür rät er den Journalisten, das Thema Doping in Deutschland aufzugreifen. Und überhaupt hat der Minister keine Zeit für Kinkerlitzchen, er hat die Fußball-Weltmeisterschaft vor der Nase.

Dass die Dinge auch die WM 2018 erreichen könnten, beunruhigt ihn nicht.

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