„Doktor Schiwago“: Aus einem Totenhaus

[von Markus Thiel] Zwei, drei Minuten dauert die Sache nur, aber die werden zum Härtetest. Für das intime Regensburger Theater, für die Trommelfelle der Besucher, auch für die Musiker im Graben, wo ein Fauchen, Schwitzen und Stürmen anhebt, dass einem das Sehen vergeht, weil das Hören so viel Arbeit kostet. So klingt Revolution. Mord, Blut, Unrecht, all das schreit aus dieser Musik. Und so klingt auch etwas anderes: Ist es nicht das Liebesakt-Intermezzo aus Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“? Jene Stelle, in der Nichtjugendfreies als drastische Orgie gefeiert wird?

Ein paar solche alte Bekannte treffen die Freunde der russischen Musik an diesem Uraufführungsabend. Und das ist volle Absicht. Anton Lubchenko stellt sich mit seiner Oper „Doktor Schiwago“ sehr (selbst-)bewusst in die Tradition der großen Kollegen. Avantgarde-Jünger mögen sich da mit Grausen wenden: Störmomente abseits des Harmonischen gibt es hier kaum, Lubchenko, Jahrgang 1985, komponiert hemmungslos tonal.

Wer das akzeptiert, muss gestehen: Der gebürtige Moskauer ist tatsächlich ein Talent. Munter und zielsicher bedient er sich aus der orchestralen Farbpalette. Einen Sinn für Atmosphären hat er, für Sängerstimmen, auch, und das ist vielleicht am entscheidensten, für die Struktur eines solchen Zweieinhalbstünders. Orthodoxe Choräle bilden Ruheinseln, manch Schmissiges wurzelt im Volkstum, und immer wieder verdichtet sich die Musik zu Ariosem, bei dem sich Lubchenko als eine Art russischer Puccini maskieren will. Pathos ist alles andere als tabu, manche Melodie prägt sich sogar ein. Kurzweilig ist das alles, weil mit Instinkt für Wirkung erdacht – auch wenn manches schwer nach Glutamat schmeckt und nach einem Wodka verlangt.

Boris Pasternaks 700-Seiten-Welterfolg musste naturgemäß eingedampft werden für dieses Regensburger Auftragswerk. Noch mehr als der legendäre Film von 1965 konzentriert sich Lubchenko als sein eigener Librettist und Dirigent auf die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Schiwago und Lara. Tonja, Schiwagos eigentliche Frau, ist nur Gesprächsgegenstand. Schiwagos Gedichte aus dem zweiten Teil des Romans liefern oft Text für die Arien. Und das Sitten- und Gesellschaftsbild, das Pasternak mit subtiler Kritik und einem ebenso geknüpften Handlungsnetz entwirft, wird auf einen einfachen Gegensatz reduziert: hier die böse Revolution, dort ihre gefressenen Kinder.

In seiner Heimat ist Lubchenko so etwas wie ein Staatskomponist. Valery Gergiev, von dem er sich die flattrige Gestik abgeschaut hat, fördert ihn nach Kräften. Mittlerweile ist er in der boomenden Metropole Wladiwostok künstlerischer Leiter und Chefdirigent des supermodernen Opernhauses. Vielleicht dachte er ja deshalb, es gehöre dazu, per Unterschrift Putins Krim-Politik gutzuheißen.

Die Verbindung zum großen Reich im Osten hat Regensburg jedenfalls eine ungewohnte Kräftezufuhr beschert. Mehrere Sänger aus Gergievs Mariinsky-Dunstkreis tummeln sich auf der Bühne. Bariton Vladimir Baykov in der Titelrolle mag man den Womanizer nicht ganz abkaufen, dafür macht er mit Prägnanz, Helden-Erz und riskantem Krafteinsatz im Finale das Zerrissene Schiwagos erlebbar. Vitali Ishutin in der (sehr sinnigen) Doppelrolle des Lara-Gatten Strelnikow und ihres einstigen Vergewaltigers Komarowski ist ein wunderbarer Fiesling. Michaela Schneider, früher an der Staatsoper Stuttgart, steuert mit samtgefasstem Sopran die notwendigen Lara-Seelentöne bei und geht gegen Ende auch beherzt an ihre Grenzen. Chor und Orchester haben auf bewundernswerte Weise diese Partitur zu ihrer ureigenen Sache gemacht.

Regisseur Silviu Purcǎrete ist ein werkdienlicher Nacherzähler. Ein paar Extras gestattet er sich. Verkommen, am Ende und ohne Hoffnung ist das Russland, das er mit Helmut Stürmer (Bühne) und Corina Grǎmusteanu (Kostüme) zeigt. Und nicht mehr von dieser Welt: Weiß Geschminkte und Lazarettkranke mit Gasmasken in Pferdeform sind Boten aus einem Totenhaus, das auf der Drehbühne immer wieder für neue Einblicke und -sichten sorgt.

Nicht alles hat Anton Lubchenko gefallen. Beinahe wäre es zum Bruch mit Purčarete gekommen („völlig verzerrtes Russlandbild“), ein Regensburger Skandälchen. Der Komponist ließ offen, ob diese Produktion 2016 in Wladiwostok nachgespielt wird. Eine Neueinstudierung sei ohnehin erforderlich, so heißt es aus der Donaustadt abwiegelnd – die Bühne der russischen Kollegen sei schließlich viel größer. Zwölf (!) Vorstellungen sind in Regensburg angesetzt. So, wie bei der Premiere gejubelt wurde, dürften es viele ausverkaufte werden.

Erstveröffentlichung merkur-online.de

 

 

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